18.11.2021 Aufrufe

flip-Joker_2021-11

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

22 KULTUR JOKER literatur

Ein Leben für die Kinokultur

Dieter Kosslick, Kulturmanager und ehemaliger Direktor der Berlinale, legt seine Memoiren vor

Verschmitztes Lächeln, schwarzer

Hut und roter Schal! Mit diesen

drei Markenzeichen wurde

Dieter Kosslick in aller Welt bekannt,

als er 2001 die Leitung der

Berlinale, des weltgrößten Kino-

Publikumsfestival übernahm,

die er bis 2019 innehatte. Als

studierter Kommunikations- und

Politikwissenschaftler war er zuvor

als persönlicher Referent und

Redenschreiber für den Hamburger

Bürgermeister Hans-Ulrich

Klose tätig, leitete die gesamte

Hamburger Filmförderung und

wechselte danach auf den Chefposten

der Filmstiftung NRW

und entwickelte das Bundesland

zum Leuchtturm der deutschen

Filmstandorte. Nunmehr im Ruhestand

beschrieb er in seinem

Buch „Immer auf dem Teppich

bleiben“ höchst vergnüglich seine

Begegnungen mit fast allen internationalen

Stars der Filmbranche,

beschäftigte sich aber auch kritisch

mit der Zukunft des Kinos.

Im ersten Drittel erfährt der

Leser Biographisches. Der Monumentalfilm

„Ben Hur“ war

der erste Hollywood- Film, den

der damals elfjährige Dieter auf

großer Leinwand zu sehen bekam

und insbesondere das atemberaubende,

über zehn Minuten

dauernde Wagenrennen der Gla-

diatoren, erweckte seine Liebe

zum Kino und zählt bis heute zu

seinen Lieblingsfilmen. Es folgten

regelmäßige Besuche der Sonntagsvorstellungen

im Bali-Kino

seines Heimatorts Ispringen bei

Pforzheim, bei denen der jugendliche

Filmfan immer als erster

vor der Einlasstür stand und die

Türklinke in der Hand hielt, weil

die ersten immer auch die besten

Plätze ergatterten. Gespickt mit

ähnlich Kino-affinen Anekdoten

zeichnet Kosslick mit feinem

Humor, bisweilen auch ernsten

Zwischentönen seinen Weg über

verschiedene Stationen bis hin

zum Direktor der Berlinale.

Im zweiten Teil kommen alle

Liebhaber von Insider-Geschichten

aus der Glamour-Welt des internationalen

Films auf ihre Kosten.

Mit, wie er schreibt, „schwäbischer

Diskretion“, schildert der

fast zwanzig Jahre in engster

Tuchfühlung mit der Weltstar-

Elite stehende ehemalige Chef

des bedeutendsten internationalen

Publikums-Festival eine große

Zahl von skurrilen Begegnungen,

lustigen kleinen und großen Katastrophen,

aber auch viele magische

und berührende Momente

seiner Festivalzeit. Nie wird dies

zum billigen Klatsch oder gar zur

Denunziation. Stattdessen sprechen

aus jeder Zeile die Liebe und

Fürsorge des Autors zu dieser eigentümlichen

Welt und er betont

nachdrücklich die Bedeutung der

Berlinale mit ihrem erklärten Einsatz

für Toleranz, Völkerverständigung

und Frieden.

Im Schlussteil geht es um die

Krise oder besser die Zukunft

des Kinos im Verhältnis zu Streaming-Diensten

und sozialen

Medien. Leidenschaftlich plädiert

Kosslick für das einmalige, nicht

zu ersetzende Gemeinschaftserlebnis

im Kinosaal mit großer

Leinwand und dem erhebenden

Moment der Öffnung des Vorhangs.

Dies müsse für die junge

Generation unbedingt durch gezielte

Maßnahmen und Investitionen

erhalten werden. Dafür

formuliert er viele Vorschläge für

eine Neuorientierung und bessere

Organisation der Filmförderung

und schließt die Kooperation mit

Streaming-Diensten keineswegs

aus. Dazu gehören angesichts des

hohen CO2-Ausstoßes von Filmprojekten

im Hinblick auf Klimaschutz

auch klare Vorgaben für

eine ökologische Filmproduktion.

Er nennt etliche Beispiele

aus Hollywood und Deutschland

für „Green-Filming“ mit hoher

Effizienz und führt einen detaillierten

Maßnahmenkatalog für

Eine Zeitreise in das Jahr 1972

Mit „Säwentitu“ hat Bea von Malchus ein sehr persönliches Buch veröffentlicht

„Es ist schön, Dinge zu machen,

die man eigentlich nicht so

macht“, steht in spitzer Mädchen-

Schönschrift im Umschlag des

schwarzen Schulheftes. Gegenüber

eine Grau-in-Grau-Collage

mit Wasserturm im Bindfaden-

Regen. – Autorin Bea von Malchus

weiß, wovon sie spricht: Seit

25 Jahren macht sie Erzähltheater,

nun hat sie nach zwei Kochbüchern

– Kultur-Lockdown sei

dank – mit „Säwentitu“ ein schmales,

pralles und sehr persönliches

Buch geschrieben.

Es ist eine Zeitreise in das Jahr

1972, ins Leben der 13-jährigen

Bea – so der Rahmen dieser

Sammlung von Minigeschichten:

Alltagssprengsel um Freud

und Leid, krude und weise, poetische

und bissige, scharfsinnige

und verwirrte Gedanken eines

Mädchens im Körper einer verpuppten

Frau, die alles hellwach

und mit großer Intensität erlebt,

davon beeindruckt, inspiriert

und immer wieder aus der Bahn

geworfen wird. Eine Spurensuche?

Zum Teil. „Der Anstoß

um Säwentitu zu schreiben waren

tatsächlich ein paar im Chaos

alter Kisten wieder aufgetauchte

Gedichte, die ich mit 13 auf Rat

meiner Deutschlehrerin ersonnen

und dann aufbewahrt habe“, erzählt

Bea von Malchus. Also eine

biografische Spurensuche? Zum

Teil. „Die Tagebuchform ist ein

reiner Kunstgriff. Die Dinge sind

erfunden. Mein Erinnerungsvermögen

ist äußerst schlecht. Ich

habe wohl eher Löcher und Gefühle

zu einem schönen Muster

zusammen gehäkelt.“, so die sibyllinische

Antwort der Autorin.

Also doch fiktive Teenager-

Rückschau? Auch das nur zum

Teil. Denn wer nun amüsante

Anekdoten aus dem Genre

„Schule, Pickel, Liebeskummer“

erwartet, wird von dieser

quicklebendigen, altklugen Erzählerstimme

schnell in einen

vielschichtigen, schnoddrig-geschliffenen

Monolog eingesaugt

und im Winter 1972 wieder ausgespuckt.

Familie von Malchus

ist gerade von Freiburg nach

Dortmund gezogen, seitdem stottert

Schwester Karin und Bea ist

plötzlich kurzsichtig geworden,

hat Heimweh, fälscht Papas Unterschrift

und schreibt sich selbst

Entschuldigungen. In kurzen

Kapiteln mit Überschriften wie

„Rot“, „Smoke“ oder „Mathe ist

Folter“ erzählt sie von Schneeglöckchen-Glück

und Flambier-

Experimenten, sinniert über die

Dieter Kosslick (links) mit Kinobesitzer Leopold Winterhalder

kurz vor seiner Lesung im Krone-Kino in Titisee-Neustadt

Foto: Erich Krieger

bescheuerten Rollen von Männern

und Frauen, nervt sich über

ihre Familie, spürt ihrer Bravo-

Allergie nach oder formuliert

To-Do-Listen wie „Cool rauchen,

Backen können, Gedichte schreiben“.

Alles ist furchtbar schön,

aufregend oder traurig.

Schon das hat viel Atmosphäre,

Wiedererkennungs- und Unterhaltungswert.

Gestreift und

berührt wird diese Figur von

Politik und Zeitgeist: Der Ketten

rauchende Vater und das

Gruselstigma seiner sibirischen

Kriegsgefangenschaft, die allgegenwärtigen

RAF-Fahndungsplakate,

die Nachrichten über den

nordirischen „Bloody Sunday“,

die Olympiade in München

samt Attentat und Geiseldrama

oder die Mondlandung. All das

schafft bei der jungen Bea Meinung

und Entwicklung. Denn sie

spitzt zu: Langweiler oder eitle

Gockel sind die Männer, schillernd

und irritierend das weibliche

Ensemble: Allen voran die

furchterregend kluge, impulsive

und scharfzüngige Bestimmer-

Mutter und die mannstolle, versoffene

Tante Ilse aus Norwegen.

Bebildert wird das mit vielen

aquarellierten Collagen von der

Freiburger Kostümbildnerin Sarah

Mittenbühler: Manche davon

sind großartig, viele aber haben

den blass-verstaubten Illustrationsstil

engagierter Kinder-und

Jugendliteratur aus den 70ern.

„Holen Sie sich was Schönes

zum Trinken.“, rät Bea von Malchus.

Und dann einfach beamen

lassen…

Säwentitu wurde in kleiner

Auflage auf Recyclingpapier in

Bea von Malchus

nachhaltige Veränderungen auf.

Auch hier spricht der Fachmann

und Innovator.

Kosslicks Buch ist durchweg

spannend und mit Herzblut geschrieben

und man mag es kaum

aus der Hand legen. Ein „Muss“

für alle Cineasten und folglich

ein guter Tipp für die kommende

Auswahl der Weihnachtsgeschenke.

Das Buch von Dieter Kosslick

„Immer auf dem Teppich bleiben

- Von magischen Momenten

und der Zukunft des Kinos“ ist im

Buchhandel unter ISBN: 978-3-

455-00360-4 erhältlich

Erich Krieger

Emmendingen gedruckt und ist

für 25 Euro bestellbar bei post@

beavonmalchus.de

Lesungen: Güterhalle, Bleibach,

Sa. 20. November 20 Uhr.

Nellie Nashorn, Lörrach, So. 28.

November um 18 Uhr. Rainhofscheune,

Kirchzarten, Do. 9. Dezember

um 19.30 Uhr

Marion Klötzer

Säwentitu

Foto: promo

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!