flip-Joker_2021-11
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8 KULTUR JOKER Theater
Im Großen Haus dreht sich die
Sommervilla als ginge es hier
wirklich voran und nicht nur ebenso
im Kreis herum. Ein Kamin,
ein paar Stühle mit Tisch, mehrere
Holzbalken stützen die Veranda,
zu der eine Außentreppe führt.
An der Wand hängt ein Stich aus
einem Insektenbuch und wirklich
haben wir merkwürdige Spezies
vor uns. Diese Sommerfrische
gehört Anna Wojnizewa (Janna
Horstmann), dass sie jung verwitwet
ist, reizt die Gemüter. Doch
Wojnizewa ist pleite, das Anwesen
ist hoch verschuldet, der reiche
Nachbar könnte aushelfen, doch
er wird verschmäht. Es sieht ein
bisschen wie ein Puppenhaus aus,
doch das wäre ein anderes Drama
(Bühne: Kaspar Zwimpfer). Hier
wird Anton Tschechows Frühwerk
„Platonow“ gegeben, Regie führt
Intendant des Theater Freiburg
Peter Carp. Eine Projektion wird
auf die Bühnenrückwand geworfen,
die das Geschehen in kleine
Segmente unterteilt, irgendwann
ist das Video verpixelt, dann gibt
es ganz den Geist auf. Was kaum
jemand zu bemerken scheint.
„Platonow“ ist ein Ensemblestück
und daher bestens angetan,
nach dem Monolog von Robert
Hunger-Bühler die neue Spielzeit
2009 haben Nuscha Nistor (Regie)
und Mathias Willaredt-Nistor
(Komposition) ihr Theaterensemble
Puck gegründet, seitdem ist
es ihr Markenzeichen geworden
Schauspiel, Choreografie und Live-Musik
zu einem emotionsgeladenen
und stark rhythmisierten
Theatererlebnis zu verquicken.
Nach fast zweijähriger Zwangs-
Hohl drehendes Sommerhaus
Peter Carp inszeniert zum Spielzeitauftakt Tschechows Frühwerk „Platonow“
(v.l.n.r.) Moritz Peschke, Martin Hohner, Laura Palacios, Henry Meyer, Janna Horstmann und
Thieß Brammer in „Platonow“
Foto: Birgit Hupfeld
einzuläuten. Noch zwölf Rollen
weist die Freiburger Inszenierung
auf, in der Originalfassung sind
es mehr als 20. Dass Charaktere
wider besseres Wissen handeln,
ist nicht ungewöhnlich für Tschechow-Figuren,
doch Michail Platonow
(Martin Hohner) macht
wirklich keine halben Sachen.
Kaum eine Frau oder eine Beziehung,
die er nicht ruiniert, zuallererst
Sascha Iwanowna (Stefanie
Mrachacz), seine eigene Frau.
Man erinnere sich: der Mann ist
Dorflehrer, hat sogar das Studium
abgebrochen. Alle sind irgendwie
dünnhäutig und teilweise bewaffnet,
was keine wirklich gute Kombination
ist.
Dabei hat man noch nicht einmal
das Gefühl, Platonow würde
es in irgendeiner Weise genießen.
Stattdessen wird er, wenn wirklich
alles schon zu spät ist, sich
in seiner Schuld suhlen wie auf
einer schmutzigen Matratze, was
er auch ganz wörtlich tut. Sie liegt
auf einer Euro-Palette. Dieses Unentschiedene
ist nicht einmal melancholisch,
Martin Hohner gibt
ihm etwas Überdrehtes, so als ob
man es nur genügend überspielen
müsste, um es ungeschehen zu
machen. Reihum verzweifeln und
sterben Menschen, es ficht ihn wenig
an. Und weil die (männliche)
Hysterie so etwas wie der Grundton
dieser Inszenierung ist, fällt es
auch schwer den anderen Figuren
so etwas wie Tiefe zuzugestehen.
Bis ins Sprechen hinein ist diese
Inszenierung seltsam übersteuert,
manchmal wird geradezu albern
deklamiert.
Ziemlich am Anfang wird darüber
räsoniert, dass man sich in
der Vergangenheit Aufführungen
bis zum Ende angesehen hat. Es
klingt ein bisschen wie eine ironisch
gemeinte Drohung, denn
tatsächlich dauert die Inszenierung
über drei Stunden. Das ist
aber noch gut vier Stunden kürzer
Emotionsgeladenes Theatererlebnis
Goldonis „Weiberklatsch“ mit dem Theater Puck auf der Experimentalbühne im E-Werk
pause feierte jetzt ihre vom Kulturamt
geförderte Inszenierung
„Weiberklatsch“ auf der Experimentalbühne
im Freiburger E-
Werk Premiere.
Carlo Goldonis hier stark gekürzte
Komödie ist ein turbulentes
und mit all seinen Verwechslungen
und Verirrungen
klassisches Lustspiel á la Molière,
das in Venedig Mitte des 18.
Jahrhunderts spielt und den jungen
Schauspielschüler*innen eine
Steilvorlage für Expressivität und
Dynamik bietet, skizziert Vielschreiber
Goldoni hier doch ein
prallbuntes Sittengemälde mit
ganz unterschiedlichen Typen.
Regisseurin Nuscha Nistor macht
in sparsam-goldenem Licht ein lustiges
Märchen daraus, das durch
Gesangs-und Bewegungseinlagen
zu stimmungsvoll-vielschichtiger
E-Akkordeon-Musik zwischen
Musical, Commedia dell´arteund
Stummfilm-Ästhetik changiert.
Im Mittelpunkt stehen die
Frauen: Klug, geschwätzig und
offenherzig, mit jeder Menge
Temperament und Lebenslust.
Zu fünft sitzen sie schon gickelnd
auf der Bühne, während
das Publikum noch seine Plätze
sucht: In der Mitte die blondbezopfte,
kindliche Checca (Maya
Kenda) im grünen Kleid, rechts
davon in braun gestreiften Röcken
Krämerin Sgualda (Aurélia
Breyer) und Wäscherin Catte
(Caia David), links die feinen
Damen Beatrice (Perrine Martin)
und Elenora (Marlene Lickert) mit
Handschuhen und viel Dekolleté
(Kostüme: Nuscha Nistor). Noch
sind sie friedlich, schließlich feiert
Checca heute Verlobung mit
als die ungekürzte Fassung. Eine
Erleichterung ist das jedoch nicht,
allzu fern bleiben einem diese Figuren.
Weitere Vorstellungen:
5./6./13./20. und 27. November,
jeweils 19.30 Uhr und 28. November
19 Uhr im Großen Haus des
Theater Freiburg.
Annette Hoffmann
ihrem Bebbo (Lukas Kadlec)
– doch gleich gehen sie sich das
erste Mal mit wildem Geschimpfe
und Gekreisch gegenseitig an die
Gurgel. Symptom ihrer Animositäten
ist ein übles Gerücht, das in
den folgenden neunzig Minuten
seine Kreise zieht und fast eine
Katastrophe anrichtet.
„Checca ist nicht die leibliche
Tochter von Paron Toni, Checca
ist ein Bastard“ – lautet die Sensation,
die nun lustvoll von Ohr
zu Ohr getragen wird. Die Folge:
Häme, Misstrauen, Hochzeit
fast geplatzt. Große, junge Liebe
gegen Flüstergift und Konventionen
– klar, gibt’s trotzdem ein
Happy End! Bevor sich die Turteltäubchen
aber kriegen, wird die
Geschichte mit viel Tohuwabohu
verknotet und von clownesken Figuren
wie dem eitlen Geck Lelio
(Jan Saure), seinem Diener (Jannik
Sulger) und dem Dörrobsthändler
Musa (Melchior Meyer)
in Schwung gehalten. Requisite
braucht´s da keine: Es reichen
fünf schlichte, schwarze Hocker
und etwas Pantomime, um den
Fokus ganz auf das Schauspiel
zu richten. Das ist mitreißend
und quicklebendig. Dazu hat jede
Figur ein eigenes Lied, es gibt
Schabernack, Schmachterei und
Streit. Temperamentausbrüche
im Dampfkochtopf einer italienischen
Gerüchteküche…
Weitere Vorstellungen: 5./6.
November, 20 Uhr, 7. November,
18 Uhr. Experimentalbühne im
E-Werk. Karten unter www.puckfreiburg.de
Marion Klötzer
Goldonis „Weiberklatsch“ mitreißend und quicklebendig Foto: W. Nistor