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THEATER KULTUR JOKER 3
Brücken zwischen den musikalischen Welten
Die Donaueschinger Musiktage feiern ihren 100. Geburtstag mit einer XXL-Ausgabe
Auftritt des Ensemble
Omnibus aus Usbekistan
© SWR/Ralf Brunner 2021
Die Verrückten sind wieder
da. Aus der ganzen Welt
kommen sie im Oktober in
das Schwarzwaldstädtchen,
um sich in einer Turnhalle auf
engen Klappstühlen geduldig
und aufmerksam seltsame
Klänge und Geräusche anzuhören
und wie in diesem Jahr
27 Uraufführungen in 4 Tagen
zu erleben. Die Donaueschinger
Musiktage feiern bei
strahlendem Sonnenschein ihren
100. Geburtstag. Und die
„Verrückten“, wie die Künstler
und Besucher laut Moderator
Markus Brock von einigen
Donaueschingern genannt
wurden (oder auch werden),
haben sich auch zum Jubiläum
eingefunden. Die Stimmung
im Foyer beim wohl weltweit
wichtigsten Festival für Neue
Musik ist wie bei einem Klassentreffen.
Unter den Masken
erahnt man strahlende Gesichter.
Der Festakt beginnt
mit dem ersten Satz aus Paul
Hindemiths 3. Streichquartett
Nr. 3 op.16, mit dem die allerersten
„Kammermusikaufführungen
zur Förderung
zeitgenössischer Tonkunst“
LIEBLINGSRINGE
LIEBESRINGE
Ihre Meistergoldschmiede
vor hundert Jahren zum Leben
erweckt wurden. Das Quatuor
Diotima aus Paris lässt die
Energie des Satzes frei. Die
aufsteigenden Figuren werden
wie Raketen abgeschossen,
die Schweller gleichen Vitaminspritzen.
Der Blick geht
beim Festakt nicht nur in die
ruhmreiche Vergangenheit,
sondern man zeigt auch auf,
welche Themen künftig unter
der neuen Leiterin Lydia Rilling
eine noch stärkere Rolle
spielen sollen, nämlich kulturelle
Teilhabe und Diversität.
Zu seinem Abschied als
Festivalleiter nimmt Björn
Gottstein mit „Donaueschingen
global“ Neue Musik aus
Afrika, Lateinamerika und
Asien ins Programm wie beim
eindrucksvollen Auftritt des
Ensemble Omnibus aus Usbekistan
zu erleben ist. Vier
Kompositionen aus Bahrain,
der Türkei, Thailand und China
hat der Leiter Arytom Kim
zum Festival mitgebracht.
Aber die Werke von Hasan
Hujari, Onur Dülger, Piyawat
Louilarpprasert und Qin Yi
werden nicht nacheinander
gespielt, sondern kunstvoll
miteinander verwoben. Feine
Übergänge mit liegenden Tönen
oder einem sanften Trommelwirbel
dienen als Brücken
zwischen den musikalischen
Welten. Alles fließt. Die Musik
lebt vom Ritual und von
ihrer Archaik. Traditionelle
usbekische Instrumente wie
das Hackbrett Chan oder die
gestrichene Langhalslaute
Sato tragen besondere Farben
in diese körperliche, sinnliche,
erzählerische, rituelle Musik,
die auch immer wieder den
Gesang mit einbezieht.
Den westlichen zeitgenössischen
Kompositionen fehlt
es dagegen oft an Sinnlichkeit,
Spannung und einer guten
Dramaturgie, wie auch bei
diesem Festivaljahrgang zu
erleben ist. „Die Flexibilität
der Fische“ von Hannes Seidl
und Anselm Neft für verstärkte
Violine und Stimme (Diamanda
La Berge Dramm) über
Geschlechteridentitäten kombiniert
Textfülle mit musikalischer
Beschränktheit (SWR
Experimentalstudio: Michael
Acker). Milica Djordjevics
dauerlaute Komposition
„Čvor“ mit Trillerpfeifen, gespielt
vom jungen Lucerne Festival
Contemporary Orchestra
unter der Leitung von Baldur
Brönnimann, hat nur wenig
hörbare Differenzierungen, ist
aber zumindest schön kurz.
Stefan Prins’ „under_current“
holt zwar nie gehörte Klänge
aus der E-Gitarre (Yaron
Deutsch) heraus, entwickelte
sich aber mit der Zeit zur ungebremsten
Materialschlacht.
Enno Poppe dagegen zeigt mit
seiner Komposition „Hirn“
für 29 Bläser und Schlagzeug,
präzise umgesetzt vom
Orchestre Philharmonique du
Luxembourg unter der Leitung
von Ilan Volkov, wie man
eine große Steigerung aufbaut
und am Ende einen echten
Sog entstehen lässt, wenn die
Blechbläser immer höher steigen
und der Puls allmählich
aus dem Tritt gerät. Und Maja
S.K. Ratkjes „Considerung
Icarus“ für Posaune (großartig:
Stephen Menotti) und das
SWR Symphonieorchester
(Leitung: Brad Lubman) ist ein
klangsinnlicher Höhenflug mit
wunderbaren Farbwechseln,
sensiblen Übergängen, einem
traditionellen Schönklang und
immer wieder tonalen Passagen,
die die herrlich singende
Posaune auch mal ganz weich
betten können.
Die über die Stadt verteilten
Klanginstallationen haben dagegen
Luft nach oben. Stefan
Frickes/Alper Marals „Am
Grabe/Erdraum“, das die an
den Gräbern von Komponisten
aufgenommene Geräuschkulisse
ungefiltert präsentiert,
fehlt die künstlerische Formung.
Listening At Pungwe:
Khòó-xùùn“ (Alte Molkerei)
und Hanno Leichtmanns „Seculum“
(Museum Art.Plus),
die 100 Jahre Donaueschinger
Musiktage künstlerisch verarbeiten,
ist trotz Kuhfladen
beziehungsweise Porsche (im
Nebenraum) nur wenig aufregend.
Dafür ist das Mitmachprojekt
„Donau/Rauschen.
Transit&Echo“ von Daniel
Ott/Enrico Stolzenburg, das
bei strahlendem Sonnenschein
die ganze Innenstadt belebt
und mit Klängen erfüllt, ein
echter Knaller. Was mit einem
durch Lautsprecherboxen
schallenden Rauschen an der
Donauquelle beginnt, wird zu
einem kollektiven Musikerlebnis.
Die entlang der Karlstraße,
aber auch auf Dächern und in
Wohnungen postierten Mitglieder
mehrerer Blaskapellen
spielen nach einem genauen
Zeitplan einzelne Haltetöne,
die sich mit Trommelwirbeln,
Fanfaren und Einspielungen
aus den Lautsprechern zu
einem großen Klangkosmos
verbinden. Die ganze Stadt ist
auf den Beinen und lässt sich
ein auf diese Klangreise. Zum
großen Finale treffen sich alle
Musikerinnen und Musiker auf
dem Rathausplatz. Die durchaus
experimentellen, herausfordernden
Klänge finden ein
großes Publikum und werden
am Ende von allen bejubelt.
Zugänglicher waren die Donaueschinger
Musiktage wohl
noch nie.
Georg Rudiger