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War ich eine Hochstaplerin?<br />
Das waren damals, 1945 grausame Zeiten! Als wir, das<br />
deutsche Volk, den Krieg verloren hatten, in den uns<br />
unsere Machthaber gehetzt hatten. Vai Victis - wehe<br />
den Besiegten! Hunger, Armut, Elend, Ruinen, wohin man<br />
blickte! Wollte man in dem allgemeinen Chaos nicht untergehen,<br />
musste man sich irgendwie durchmogeln. Auch ich ,,segelte“<br />
damals auf dieser Welle mit, im Kampf ums Überleben,<br />
nicht nur für mich selbst, blieb mir gar nichts Anderes übrig.<br />
Das, was ich in diesem gesetzlosen Chaos einsetzen konnte,<br />
das waren meine Sprachkenntnisse: Englisch vor allem,<br />
aber auch Französisch, ein paar Brocken Russisch und Italienisch<br />
aus der Gesangstunde. Richtig angewandt retteten sie<br />
mir manchmal das Leben. So einmal, als ich auf dem Weg<br />
nach Hause, durch die französische Zone treckte. Da stand<br />
ein baumstarker Marokkaner in französischer Uniform vor<br />
mir und würgte meinen Hals, um an meine Korallenkette<br />
zu kommen. Da stieß ich, in höchster Todesangst, das Wort<br />
,,merde“ hervor, das auf Deutsch ,,Scheiße“ heißt. Augenblicklich<br />
ließ der französisch- afrikanische Söldner, wie vom<br />
Blitz getroffen, meinen Hals los und stieß eine halbwegs nach<br />
Französisch klingende Entschuldigung hervor.<br />
Gerettet!<br />
War ich damals, in Zeiten der Not, eine Hochstaplerin?<br />
Muss ich mich noch heute, wegen fehlender Moral, schämen?<br />
Böse Zeiten gebären solche Auswüchse bei sonst ehrenhaften<br />
Menschen. Nein, ihr heutigen Frauen und Mädchen, hättet Ihr<br />
damals in meiner Haut gesteckt, hättet Ihr anders gehandelt?<br />
,,Werft alle Skrupel über Bord“, so hieß es damals, „und lasst<br />
Erinnerung<br />
Erinnerung<br />
euch von den ,Trümmerfrauen‘ nicht beschämen!“ Und auch<br />
nicht von den Männern, die elend, fast verhungert, damals<br />
aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrten!<br />
Sie waren, noch mehr als die Soldaten, die der Krieg ausgespien<br />
hatte (von der Abiturklasse meiner ,,Heimkehrers“<br />
waren es fünf von 25 Klassenkameraden), auf die Hilfe von<br />
uns Frauen angewiesen, sie wollten doch leben! War das der<br />
Beginn der Emanzipierung der deutschen Frauen, die noch<br />
heute in Politik und Gesellschaft herrscht?<br />
Unter unsern ,,Siegern“ waren es besonders die Engländer,<br />
die sich solidarisch mit uns fühlten, besonders mit den Heimkehrern<br />
aus russischer Gefangenschaft, die mit den tapferen<br />
deutschen Frauen fühlten, die halfen, wo sie konnten. Unter<br />
der amerikanischen Besatzung waren es auch Einzelne, denen<br />
unsere Not nicht gleichgültig war. So rettete mich einmal ein<br />
amerikanischer General vorm Hungertod, als ich, entkräftet,<br />
im Strasßengraben lag. Vor allem war es der Marschall-Plan<br />
des amerikanischen Außenministers, der uns, Widerständen<br />
zum Trotz, mit seinem ,,European Recovery Program“ das<br />
Weiterleben möglich machte. Menschliche, christliche Hilfsbereitschaft<br />
bei unseren ehemaligen Feinden! Aber auch ein<br />
Bollwerk gegen den Weltkommunismus als Gefahr aus dem<br />
Osten! „Der Kalte Krieg!“ hatte eingesetzt.<br />
Ich war damals, als Leiterin des englischen Informationscenters<br />
meiner Heimatstadt, auch ein kleines Rädchen im<br />
„Kalten Krieg“. Aber, abgesehen von ihren politischen Zielen,<br />
nahmen meine englischen Vorgesetzten Anteil am Kriegsschicksal<br />
meiner Familie. Sie luden mich und meine Freunde<br />
in ihre Familien ein. Da war ein alter Colonel mit seiner Frau,<br />
die mich wie eine Tochter umarmten, wenn sie zur Inspektion<br />
in die „Brücke“ kamen. Und als ich mich 1948 mit meinem<br />
Heimkehrer verlobte, brachten sie jedesmal Zigaretten mit für<br />
ihn. Um ihn besuchen zu können in seiner ersten Anstellung<br />
in Essen, schickten sie mir ein Auto mit Chauffeur, ja ihre<br />
tätige Hilfsbereitschaft ging noch weiter: Ohne mein Zutun<br />
erhöhten sie dreimal mein anfangs dürftiges Gehalt und ermöglichten<br />
damit unsere Heirat. Auch später in Essen hielten<br />
sie fürsorglich ihre Hand über uns. Aber nicht nur über uns,<br />
auch vielen ehemaligen Soldaten, gleich, aus welcher Gefangenschaft<br />
sie heimkehrten, es wurde geholfen. Das englische<br />
Arbeitsamt vermittelte ihnen Arbeit und Lohn. Ich bin noch<br />
heute dankbar für alles, was damals unsere „Sieger“ für uns<br />
taten. Sie nahmen uns das Gefühl der Demütigung.<br />
Doch das Gefühl der Dankbarkeit hinderte mich nun damals<br />
keineswegs daran, wenn es nötig war, mich als „Hochstaplerin“<br />
zu betätigen. Das war schon 1945, kurz nach<br />
Kriegsende, als ich in Bremerhaven als „Abgesandte der<br />
Britischen Zone“ mit dem amerikanischen Marinekommandanten<br />
verhandelte. Um meinen Vater, der in einem Gefangenenlager<br />
bei Bremerhaven saß, noch, bevor das Lager<br />
nach Amerika ausgeschifft werden sollte, frei zu bekommen.<br />
Da log ich das Blaue vom Himmel herunter, dass die<br />
Geschlechtskrankheiten ohne seine ärztliche Hilfe nicht nur<br />
die deutsche Bevölkerung lahm legen würden, sondern besonders<br />
die englische Besatzung. Ob sie das alles glaubten,<br />
was ich ihnen vorschwindelte? Es wurde jedenfalls eine Konferenz<br />
einberufen, Landkarten wurden entrollt, und ich, die<br />
„Abgesandte der Britischen Zone“ stand da im Dirndl, einen<br />
Begrüßungstrunk in der Hand und redete drauf los. Ob mein<br />
Lügengespinst geglaubt wurde? „We‘ll do our best!“ so wurde<br />
ich verabschiedet.<br />
Aber das Wunder geschah: Nachdem das Lager aufgelöst<br />
und bevor es nach Amerika ausgeschifft wurde, kehrte mein<br />
Vater heim. Dort kam eine schwere Zeit für uns, als wir die<br />
zerstörte Praxis wieder aufbauten.<br />
Auch in eigener Sache musste ich damals, 1947 war das,<br />
kämpfen. Ich fuhr, zwei Jahre nach Kriegsende, nach Marburg,<br />
meiner Universitätsstadt während des Krieges. Dort hatte ich<br />
bis Ende 1944, als Hitler auch alle Studierenden als „Letztes<br />
Aufgebot“ an die Heimatfront schickte, studiert. Da war ich<br />
„Zwangsarbeiterin“ in einem Rüstungswerk, Magd auf einem<br />
hessischen Bauernhof. Nichts hatte ich damals beenden können,<br />
weder meine Studien noch meine Doktorarbeit. Nun<br />
ging es mir um diese Dissertation und meine Studienpapiere.<br />
Mitglieder der VVN (Verfolgte des Naziregimes), denen ich<br />
mal geholfen hatte, wollten mir nun helfen, weiterstudieren<br />
zu können. Sie (die meisten waren Kommunisten) hatten damals<br />
das Heft in der Hand. Dazu brauchte ich aber vor allem<br />
meine Studienpapiere. Die lagen, so vermutete ich, in einem<br />
der von der amerikanischen Besatzung beschlagnahmten<br />
Häuser. Auch das Haus, in dem ich drei Jahre gewohnt hatte,<br />
gehörte dazu. Ich suchte also den amerikanischen Kreiskommandanten<br />
in seiner Residenz, dem ehemals schönsten<br />
Gebäude der Universität, auf. Ich trat nicht etwa als Bittstellerin<br />
auf, sondern ich verlangte, dass er mir helfen müsse. Bei<br />
einem Begrüßungstrunk brach ich in die theatralischen Worte<br />
aus: „Soll ich denn meine Papiere auf dem Mond suchen?“<br />
Der amerikanische Gentleman lachte und beorderte einen<br />
Jeep mit zwei „GI‘s“, die sollten mich bei der Suche begleiten.<br />
Wir fuhren nun zu dem Haus im „Köhlergrund“, in dem<br />
Mitarbeiter der Behring-Werke und ich gewohnt hatten. Nun<br />
war es beschlagnahmt für Mitglieder der amerikanischen Militärverwaltung.<br />
Meine Begleiter brachen das Siegel an der Haustür,<br />
schlossen auf und wir stiegen hinauf auf den Speicher. Dort<br />
fand ich, säuberlich in Kisten verpackt, meine Studienpapiere<br />
und auch das Exposé meiner Dissertation. Ich nahm alles an<br />
mich und auch noch ein Paar Schneestiefel, die dort herrenlos<br />
herumstanden. Was ich aber nicht geahnt hatte: Einer der beiden<br />
GI‘s zückte einen Filmapparat und, während der andere<br />
sich übermütig auf ein Schaukelpferd schwang, filmte er einen<br />
Streifen für die amerikanische „Wochenschau“:<br />
,,Wie eine deutsche Studentin, zwei Jahre nach Kriegsende,<br />
ihre Studienpapiere wieder findet.“ So wurde ich, die „Hochstaplerin“<br />
der Nachkriegsjahre, zum „Filmstar!“<br />
Elisabeth Hengstenberg<br />
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