TITELTHEMA REICH GESCHMÜCKTE UNTERWELT Die Spannagelhöhle unterhalb des Hintertuxer Gletschers im Tiroler Zillertal ist die höchstgelegene Schauhöhle Europas – mit unerwarteten Eigenschaften. Das Höhlensystem ist trotz seiner hochalpinen Lage eisfrei. 16 zukunft forschung <strong>01</strong>/22 Fotos: Robbie Shone, Andreas Wolf
TITELTHEMA Der Geologe Christoph Spötl untersucht die größte Höhle Tirols seit mehr als zwei Jahrzehnten. „Sie ist eine Augenweide“, sagt er über „die Spannagel“. Seit knapp 25 Jahren begleitet die Marmor-Höhle bei Hintertux in den Zillertaler Alpen den Forscher schon. Das insgesamt elf Kilometer lange Höhlensystem ist im vorderen Teil auch touristisch erschlossen und mit der Gletscherbahn einfach erreichbar. Die gute Zugänglichkeit ist ein großer Pluspunkt der Höhle, für die <strong>Forschung</strong> interessant ist sie aber aus einem anderen Grund. Die Spannnagelhöhle weist nämlich Eigenschaften auf, die man unter den Umständen vor Ort eigentlich nicht erwarten würde: Der Eingang zur Höhle liegt auf einer Höhe von 2. 524 Metern unweit des Hintertuxer Gletschers. „Noch vor etwa 100 Jahren war sie zu zwei Drittel vom Gletscher bedeckt, inzwischen hat sich der Gletscher massiv zurückgezogen“, erklärt Spötl, Leiter der Arbeitsgruppe für Quartärforschung am Institut für Geologie. Trotz der großen Seehöhe und der damit verbundenen niederen Temperatur von nur zwei Grad hat sie überraschenderweise einen reichen Sinterschmuck. „Tropfsteine sind für uns ein wertvolles Archiv, wir können damit wie in einem Buch sehr weit zurück in die Vergangenheit blättern. Sie speichern in ihrer geochemischen Zusammensetzung Klimaund Umweltinformationen. Entstehen können diese Ablagerungen aber nur, wenn flüssiges Wasser vorhanden ist“, so der Geologe. „Die Altersdatierungen an Tropfsteinen zeigten uns, dass die Höhle nie zugefroren war, es herrschten immer Temperaturen knapp über Null Grad – selbst in wesentlichen kälteren Perioden der Klimageschichte.“ Wie eine Decke Auch wenn es auf den ersten Blick nicht intuitiv klingt: Dass die Spannagelhöhle nie zu einer Eishöhle wurde, hat sie dem Gletscher über ihr zu verdanken. „Er hat sich in kälteren Klimaphasen wie eine isolierende Bettdecke über die Höhle gelegt und die Temperatur im Höhlensystem darunter nie unter Null sinken lassen. Damit war Wasser in flüssiger Form vorhanden und die Bildung von Sinterablagerungen war möglich – über sehr lange Zeit hinweg“. Als junger Wissenschaftler war Christoph Spötl bei seinen ersten Begehungen der Höhle im Jahr 1998 noch davon ausgegangen wenn überhaupt nur sehr junge Ablagerungen zu finden. „Unsere Untersuchungen zeigten aber, dass die Sintervorkommen in der Spannagelhöhle bis zu einer halben Million Jahre alt sind und uns somit sehr weit in das Quartär zurückschauen lassen.“ Das Team um Spötl hat in den letzten Jahrzehnten weltweit Klimaarchive in Form von Höhlenablagerungen identifiziert und analysiert – allerdings nicht auf so großer Seehöhe. „Solche weit zurückreichenden Aufzeichnungen der Klimavergangenheit eines Hochgebirges sind mir anderswo nicht bekannt, das ist ein Alleinstellungsmerkmal“, betont der Forscher. Erderwärmung spürbar Um die in den Tropfsteinen gespeicherten Informationen einordnen zu können, ist ein gutes Verständnis des Höhlensystems in der Gegenwart wichtig. Dazu führt Christoph Spötl mit seinem Team seit mehr als 20 Jahren ein Monitoring in der Spannagelhöhle durch. An mehreren Punkten in der Höhle werden mit kleinen autonomen und wasserdichten Messgeräten – sogenannten Datenloggern – verschiedene Parameter des Höhlenklimas erfasst. „Das ist vergleichbar mit einer Wetterstation. Im Fokus steht für uns vor allem die Messung der Lufttemperatur, aber auch Informationen darüber, wo das Wasser in die Höhle eindringt und welche chemische Beschaffenheit es hat.“ Regelmäßig werden die Mini-Stationen gewartet und die aufgezeichneten Daten heruntergeladen. Von besonderem Interesse ist dabei der innere, öffentlich nicht zugängliche Teil der Höhle. „Dort sind die Jahreszeiten nicht mehr spürbar und es herrschen das ganze Jahr extrem stabile Bedingungen.“ In den letzten 20 Jahren lässt sich aber selbst dort die durch den fortschreitenden Klimawandel bedingte Erderwärmung beobachten: „Wir messen dort einen kontinuierlichen Anstieg der SEIT 1994 sind Teile der prächtigen Marmor-Höhle auch touristisch zugänglich. Temperaturen: Zwar bewegt sich dieser nur im Zehntelgrad-Bereich, dennoch zeigt uns das, dass die Erwärmung selbst in diesen entfernten Höhlenteilen bereits angekommen ist“, betont der Geologe. „Die Spannagelhöhle liefert der Höhlenund Klimaforschung zahlreiche interessante Informationen, die ich sonst von keinem anderen Ort auf der Welt kenne. Sie erlaubt uns – fast ein wenig vergleichbar mit dem Hubble-Teleskop – Blicke in ‚Galaxien‘ weit vor unserer Zeit, über die es sonst keine Daten gibt.“ mb DIE ARBEITSGRUPPE für Quartärforschung am Institut für Geologie unter der Leitung von Christoph Spötl untersucht seit vielen Jahren Höhlenablagerungen verschiedenster Art in Höhlensystemen weltweit, teils verbunden mit spektakulären Expeditionen. Neben Höhlen in den Alpen forschen die Mitarbeiter*innen der Arbeitsgruppe in mehreren europäischen Ländern, Grönland, USA, Iran, Russland, China und Namibia. Die Ergebnisse dieser Arbeiten liefern wesentliche Informationen für die Paläoklimatologie. Die Studien von Spötl und seinem Team erscheinen regelmäßig in hochrangigen internationalen Wissenschaftsjournalen. zukunft forschung <strong>01</strong>/22 17