Zukunft Forschung 01/2022
Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck
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ESSAY<br />
FRÜHE FORSCHUNG<br />
IM GEBIRGE<br />
Der Latinist Martin Korenjak begibt sich auf Spurensuche nach alpinen<br />
<strong>Forschung</strong>splätzen in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit.<br />
„Bereits vor rund<br />
450 Jahren verfasste<br />
Francesco Calzolari<br />
einen Führer auf<br />
Monte Baldo, in dem<br />
er nicht nur die dort zu<br />
findenden Heilpflanzen<br />
auflistete, sondern<br />
auch die Schönheit des<br />
Berges hymnisch pries.“<br />
MARTIN KORENJAK (*1971<br />
in Wels, Oberösterreich) studierte<br />
Klassische Philologie (Latein<br />
und Griechisch) sowie Sprachwissenschaft<br />
an der Universität<br />
Innsbruck, die Dissertation<br />
schrieb er an der Universität<br />
Heidelberg. Von 1997 bis 2003<br />
arbeitete er als Universitätsassistent<br />
am Institut für Sprachen<br />
und Literaturen der Universität<br />
Innsbruck, danach folgte er<br />
einem Ruf an die Universität<br />
Bern. 2009 wechselte er als<br />
Professor für Klassische Philologie<br />
und Neulatein zurück nach<br />
Innsbruck.<br />
Die Universität Innsbruck ist eine von<br />
wenigen Universitäten weltweit, die<br />
mitten im Gebirge liegen. Es ist schlüssig,<br />
dass sich bei uns viele Fächer in <strong>Forschung</strong><br />
und Lehre mit alpinen Phänomenen auseinandersetzen<br />
und dass diese Beschäftigung<br />
häufig am Berg selbst stattfindet: Will man die<br />
Hochgebirgsflora, den Gletscherschwund, die<br />
Geologie der Brennergegend oder die alpine<br />
Toponymie verstehen, so führt am Lokalaugenschein<br />
kein Weg vorbei.<br />
Orte des Lernens waren die Berge seit jeher<br />
– schon lange, bevor es so etwas wie Wissenschaft<br />
gab. Man eignete und eignet sich in den<br />
Bergen neues Wissen an, um zu überleben, um<br />
besser zurechtzukommen, aber auch einfach,<br />
weil einem dort Dinge auffallen, die es im Tal<br />
nicht gibt. Das gilt für Bauern, Jäger, Knappen<br />
früherer Zeiten ebenso wie für Wanderer und<br />
Bergsteiger heute: Am Berg lernt man, wie<br />
man auf Skiern eine Aufstiegsspur anlegt, wie<br />
ein Kolkrabe ruft und dass man einen Regenbogen<br />
manchmal auch von oben betrachten<br />
kann.<br />
Darüber hinaus ist das Gebirge schon erstaunlich<br />
früh zum Ort und Objekt systematischer<br />
wissenschaftlicher <strong>Forschung</strong> geworden.<br />
Als sich in den ersten Jahrhunderten der<br />
Neuzeit die modernen Naturwissenschaften<br />
entwickelten, wandten sich manche Intellektuelle<br />
schon bald den Bergen zu, um ihr diesbezügliches<br />
Wissen zu erweitern. Der Zürcher<br />
Universalgelehrte Conrad Gessner betrieb um<br />
1550 am Pilatus bei Luzern Feldforschung zur<br />
alpinen Flora. Im Jahr 1615 erklomm David<br />
Frölich aus dem slowakischen Kežmarok einen<br />
Gipfel der Hohen Tatra und notierte, dass<br />
ein Pistolenschuss dort oben viel leiser klang<br />
als im Tal. Der Jesuit Athanasius Kircher stieg<br />
1638 auf den gerade aktiven Vesuv und blickte<br />
schaudernd in den brodelnden Krater. Ende<br />
des 17. Jahrhunderts rekonstruierte der Brite<br />
Thomas Burnet aus den spektakulären Formen<br />
der Westalpen den Ablauf der Sintflut. Wenig<br />
später durchstreifte Johann Jakob Scheuchzer,<br />
ein weiterer Zürcher, viele Sommer lang die<br />
Schweizer Bergwelt und dokumentierte in seinen<br />
Reiseberichten alles erdenklich Wissenswerte<br />
vom Luftdruck auf den Gipfeln über<br />
spektakuläre Gesteinsfaltungen bis zur Klettertechnik<br />
der Gamsjäger, die sich in schwierigem<br />
Gelände angeblich die Fußsohlen aufschnitten,<br />
um sich mit dem Blut an den Fels<br />
zu kleben.<br />
Viele dieser Forscher begeisterten sich auf<br />
ihren Ausflügen auch für die ästhetische Dimension<br />
der Bergwelt. Bereits vor rund 450<br />
Jahren verfasste der Veroneser Apotheker<br />
Francesco Calzolari einen Führer auf den beim<br />
nahen Gardasee gelegenen Monte Baldo, in<br />
dem er nicht nur die dort zu findenden Heilpflanzen<br />
auflistete, sondern auch die Schönheit<br />
des Berges hymnisch pries und seinen<br />
Erholungswert hervorhob. Die Besteiger, so<br />
schrieb er „wird ihre Mühe nicht reuen, da<br />
sie fühlen und erkennen werden, dass sie daraus<br />
beinahe unglaubliches Vergnügen und<br />
größten Nutzen ziehen. Sie werden nämlich<br />
aus dieser Wanderung soviel Seelenruhe und<br />
Lebensfreude gewinnen, wie niemand sich<br />
vorstellen oder in Worte fassen kann.“ Die<br />
Bergbegeisterung unserer Zeit, die touristische<br />
Erschließung des Gebirges und das alpine<br />
Selbstverständnis von Regionen wie Tirol,<br />
dem „Land im Gebirge“, sind direkte oder<br />
mittelbare Folgen dieser wissenschaftlich motivierten<br />
Bergbegeisterung.<br />
Wie die meisten Gelehrten ihrer Zeit schrieben<br />
auch die genannten Autoren in erster Linie<br />
auf Latein. Vor einigen Jahren hatte ich die<br />
Gelegenheit, den Bergdiskurs dieser Epoche<br />
gemeinsam mit zwei jüngeren Kollegen im<br />
Rahmen eines Projekts am Ludwig-Boltzmann-Institut<br />
für Neulateinische Studien zu<br />
erforschen. Auf diese Weise den Wurzeln der<br />
eigenen Freude an den Bergen nachzuspüren,<br />
wäre grundsätzlich an jedem Ort mit einer ordentlichen<br />
Bibliothek und Internetzugang<br />
möglich und reizvoll gewesen. Der Blick aus<br />
meinem Bürofenster auf die Nordkette und<br />
die Möglichkeit, am Wochenende selbst ins<br />
Gebirge zu gehen, haben diese Spurensuche<br />
aber zu einem besonders bereichernden und<br />
erfüllenden Erlebnis gemacht.<br />
50 zukunft forschung <strong>01</strong>/22<br />
Foto: Andreas Friedle