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sortimenterbrief juni 2022

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Juni 2022.

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uchrezension<br />

Wie Gespräche am Küchentisch<br />

Mottingers Meinung<br />

www.mottingers-meinung.at<br />

Es gibt Romane, in denen kaum etwas passiert,<br />

die aber dennoch Pageturner sind.<br />

Diese große Kunst beherrscht die USamerikanische<br />

Autorin Elizabeth Strout,<br />

die ihr Lesepublikum scheinbar mühelos<br />

und stets weitherzig mit ihren Protagonistinnen<br />

und Protagonisten vertraut macht.<br />

Strout, von Kritik wie Fans als grandiose<br />

Chronistin des Alltags verehrt, betrachtet<br />

ihre Figuren mit scharfem Blick für deren<br />

Schwächen, umhüllt sie aber gleichzeitig<br />

mit einem Schutzmantel aus Sympathie.<br />

Mit jedem neuen Roman taucht man erneut<br />

in die Welt ihrer Geschöpfe ein.<br />

Meist ist es Maine, wo sich die Glücksmomente,<br />

die tiefen Verletzungen und mittelschweren<br />

Katastrophen ereignen, und<br />

immer wieder mal wird eine Neben- aus<br />

einem früheren Werk in einem späteren<br />

zur Hauptperson. So auch in Oh, William!.<br />

Zwar ist die Erzählerin die schon<br />

aus Die Unvollkommenheit der Liebe und<br />

Alles ist möglich bekannte Schriftstellerin<br />

Lucy Barton, die im ersten Buch in einem<br />

Manhattaner Krankenhaus um ihr Leben<br />

und gegen die ungeliebte Mutter kämpft,<br />

während sie im zweiten von ihren auf<br />

seltsame Art sadistischen Eltern und ihrer<br />

armseligen Kindheit auf einem Einschichthof<br />

im Mittleren Westen erzählt.<br />

Nun, im dritten Lucy-Barton-Roman, ist<br />

die Literatin jenseits der Sechzig. Sie war<br />

in der Zwischenzeit mit dem Cellisten David<br />

Abramson verheiratet, der vor Kurzem<br />

verstarb. Dies in zweiter Ehe, denn mit<br />

Ehemann eins, William Gerhardt, Parasitologe<br />

und Dozent an der New York<br />

University, Lucys Studentinnenliebe, war<br />

sie’s zwanzig Jahre lang. Sie hat mit dem<br />

notorischen Fremdgeher die längst erwachsenen<br />

Töchter Becka und Crissy.<br />

„Ich muss noch etwas über meinen ersten<br />

Mann sagen, William.“ Mit diesem richtungsweisenden<br />

Satz beginnt Lucy ihr<br />

Gespräch mit der Leserin, dem Leser, so<br />

ist der Tonfall des Textes, als säße man<br />

miteinander plaudernd am Küchentisch<br />

bei Tee und Kuchen, und die Freundin<br />

schildert, was jüngst vorgefallen ist. Wobei<br />

sie ins vorsichtige Herantasten an die<br />

Geschehnisse, an die eigene Vita ihre Gedanken<br />

und Gefühle einwebt. „Ich weiß<br />

gar nicht, wie ich es beschreiben soll“,<br />

heißt es an einer Stelle, „ich sag einfach,<br />

wie es ist.“ Und genau das tut Strout und<br />

biegt direttissima in die abgrundtiefen<br />

Gemütslagen ihrer Heldin ab.<br />

Der Roman setzt ein, als William nach<br />

Lucy und Joanne – mit der er Lucy zuvor<br />

betrogen hatte – auch von seiner dritten<br />

Ehefrau Estelle samt dem zehnjährigen<br />

Töchterchen Bridget verlassen wird. Wie<br />

gewohnt, wenn sein Leben aus dem Ruder<br />

läuft, klammert er sich an seinen Rettungsanker<br />

Lucy, haben sich die beiden<br />

doch ihre Vertrautheit und Freundschaft<br />

bewahrt. Lucy weiß, woran es krankt,<br />

nämlich dass Williams Distanziertheit<br />

seine Ehefrauen unglücklich macht und<br />

in die Flucht treibt, was er selber aber<br />

nicht erkennt.<br />

„Es gab Zeiten in unserer Ehe, da habe<br />

ich ihn verabscheut. Ich spürte mit einem<br />

Grauen, das sich wie ein dumpfer Ring<br />

um meine Brust legte, dass da hinter<br />

seiner liebenswürdigen Distanz, hinter<br />

seiner sanften Art eine Mauer war. Nein,<br />

schlimmer noch: Unter dieser geballten<br />

Liebenswürdigkeit lauerte etwas Infantil-Mürrisches,<br />

über seine Seele huschte<br />

gleichsam ein Schatten, und ich sah einen<br />

dicklichen kleinen Buben mit vorgeschobener<br />

Unterlippe vor mir, der die Schuld<br />

bei anderen suchte, bei dem und bei jenem<br />

– er gab die Schuld mir, hatte ich<br />

oft das Gefühl, er machte mich für Dinge<br />

verantwortlich, die mit unserem jetzigen<br />

Leben nichts zu tun hatten“, sagt Lucy.<br />

Und schwankt zwischen melancholisch<br />

duldsam und aufmüpfig emanzipiert,<br />

zwischen „armer William“ und einem<br />

„Gott sei Dank, er gehört mir nicht mehr“.<br />

In dieser diffusen Atmosphäre zwischen<br />

Ratio und Emotion bewegen sich Lucy<br />

und William aufeinander zu. Elizabeth<br />

Strout, die mit dem Charakter Lucy zweifellos<br />

auch ein Rollenspiel mit dem eigenen<br />

Ich betreibt, umkreist in Lucys Selbstbefragungen<br />

und mit deren Rückblicksfragmenten<br />

behutsam die Kalvarienbergstationen<br />

der beiden, dies nicht linear,<br />

sondern assoziativ<br />

und ergo keinem<br />

biografischen Zeitbalken<br />

gehorchend. An Lucy nagt nach<br />

wie vor ihre Kindheit. Von einem posttraumatischen<br />

Stress-Syndrom sind die<br />

nächtlichen Panikattacken geblieben,<br />

und es geht wie Nadeln unter die Haut,<br />

wenn Lucy plötzlich einfällt: „Ich kann<br />

mich nicht erinnern, dass meine Mutter<br />

je irgendeines ihrer Kinder berührt hätte,<br />

außer um es zu schlagen.“<br />

William wiederum laboriert am Umstand,<br />

dass sein Vater Wilhelm im Dritten<br />

Reich auf Seiten der Nationalsozialisten<br />

kämpfte. Als deutscher Kriegsgefangener<br />

war er zum Arbeiten auf die Erdäpfelfelder<br />

Maines abkommandiert worden,<br />

verliebte sich vice versa in die Frau des<br />

Farmers Clyde Trask, Catherine, die ihm<br />

bedingungslos in ein neues Daseinskapitel<br />

folgte. Derart mäandert Strouts Roman<br />

von Schock zu Erschütterung, von<br />

der Angst vorm Verlassenwerden zu der<br />

vorm Alleinsein. „Pillie“/William und<br />

„Button“/Lucy unternehmen eine Erinnerungsreise<br />

in ihre Vergangenheit inklusive<br />

ihrer Ehe, eine Odyssee – von Lucys<br />

widersprüchlichen Empfindungen für<br />

William zu dessen andauerndem Herzausschütten.<br />

Auszug aus der Online-Kulturzeitschrift<br />

Mottingers-Meinung.at<br />

224 Seiten, Hardcover, mit Schutzumschlag<br />

ISBN 978-3-630-87530-9<br />

€ 20,60 | Luchterhand<br />

72<br />

<strong>sortimenterbrief</strong> 6/22

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