Beitrag - MEK
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Gottfried von Straßburg und Ovid 43<br />
deln. Das wird beispielhaft klar in der Petitcriu-Episode (Trist. 15769ff.), die sich fast<br />
wie ein eingeschobenes Lehrstück liest. 25 Tristan und Isolde sind gezwungen, nach dem<br />
Gottesgericht eine Zeitlang getrennt voneinander zu leben und so die Qualen unerfüllter<br />
Liebessehnsucht zu erdulden. Durch eine tapfere Heldentat (durch den Sieg über den<br />
Riesen Urgan) erwirbt Tristan Petitcriu, ein wundersam aussehendes Schoßhündchen,<br />
mit einem Fell, das in allen Farben schillert, und mit einem Glöckchen an goldenem<br />
Halsband, von dessen Klang eine magische Wirkung ausgeht: 26 Wer den Glockenklang<br />
vernimmt, der vergißt alle Sorge und alles Leid, das ihn bedrängt. 27<br />
Tristan weiß von dieser Wirkung. Aber er will den leidfreien Zustand nicht für sich;<br />
er wünscht ihn seiner Geliebten, und so sendet er das wundersame Tier nach Cornwall,<br />
läßt es der fernen Isolde als Präsent überbringen. 28 Die hält das Geschenk in<br />
hohen Ehren; 29 aber auch sie will nicht froh sein, solange sie Tristan in Trauer weiß;<br />
und so reißt sie, ohne zu zögern, das Glöckchen ab und zerstört auf diese Weise die<br />
freudebringende Magie des Hündchens. 30<br />
Beide, Tristan und Isolde, wollen lieber den Schmerz des quälenden, ungestillten Liebesverlangens<br />
ertragen, als das Gedenken an den leidenden Geliebten in egoistischer,<br />
einseitiger Freude auslöschen: ein Verhalten, das der von Ovid propagierten Flucht vor<br />
dem Leid in der Liebe diametral entgegengesetzt ist und dem Liebeskonzept Gottfrieds<br />
genau entspricht, das dieser im Prolog im Kontrast zu Ovids Lehre entwickelt hat.<br />
Um so mehr muß es uns erstaunen, wenn wir im Schlußteil des unvollendet gebliebenen<br />
Romans einen Tristan vorgeführt bekommen, der Trauer und Leid von sich abschütteln<br />
will und dabei an sich selbst die wichtigsten Heilmittel gegen die Liebe versucht,<br />
die Ovid in den Remedia empfohlen hat. 31<br />
Tristan und Isolde sind von Marke im Baumgarten in flagranti ertappt worden. Tristan<br />
muß fliehen; er eilt zum Hafen und besteigt schnell das erstbeste Schiff, das ihn zur<br />
Normandie bringt, wo es ihn aber nicht lange hält. Denn ruhelos ist er auf der Suche<br />
nach einem Leben, das ihm trôst ze sîner triure (Trost in seiner Trauer) zu geben ver-<br />
‘Tristan und Isold’. Meisenheim am Glan, 1977, S. 120-124, hier S. 121. Vgl. auch MEISSBURGER (wie Anm. 9),<br />
S. 11 Anm. 51; HAHN (wie Anm. 16), S. 113f.; GREEN, DENNIS HOWARD: Oral poetry and written composition.<br />
– In: DERS.: JOHNSON, LESLIE PETER (Hg.): Approaches to Wolfram von Eschenbach. Bern, 1978, S. 163-264,<br />
hier S. 261 Anm. 3; OKKEN (wie Anm. 23), Bd. 1, S. 21f.<br />
25<br />
SCHNELL (wie Anm. 17), S. 176 Anm. 39: „Der Petitcriu-Szene kommt dadurch besondere Bedeutung zu, daß<br />
allein in ihr den Liebenden die Möglichkeit geboten ist, die reine ‘intentio’ in Handlung umzusetzen [...]“; vgl.<br />
auch WESSEL (wie Anm. 9), S. 444-453.<br />
26 Trist. 15919-16266.<br />
27 Trist. 15795-894.<br />
28 Trist. 16267-297.<br />
29 Trist. 16337-355.<br />
30 Trist. 16356-406.<br />
31 Zusammenstellung bei MEISSBURGER (wie Anm. 9), S. 10f. Anm. 51; vgl. auch HEINZEL (wie Anm. 9), S. 27-<br />
29; HOFFA (wie Anm. 9), S. 345; HAHN (wie Anm. 16), S. 111-118; GANZ 1971 (wie Anm. 9), S. 400f.; DERS.:<br />
Tristan-Ausgabe 1978 (wie Anm. 9), S. XXXIIIf.; CHRIST (wie Anm. 24), S. 118-120, 124-129, 144-160; GREEN<br />
(wie Anm. 24), S. 259-262; MCDONALD (wie Anm. 19), S. 264f.; RIES, SYBILLE: Erkennen und Verkennen in<br />
Gottfrieds ‘Tristan’ mit besonderer Berücksichtigung der Isold-Weißhand-Episode. – In: Zeitschrift für<br />
deutsches Altertum und deutsche Literatur 109 (1980), S. 316-337, hier S. 326 und S. 335-337; WESSEL (wie<br />
Anm. 9), Register, S. 620, Stichwort Remedia amoris; OKKEN (wie Anm. 23), 1. Bd., S. 667-693; USENER (wie<br />
Anm. 9), S. 234f.