08.08.2022 Aufrufe

syndicom magazin Nr. 30

Das syndicom-Magazin bietet Informationen aus Gewerkschaft und Politik: Die Zeitschrift beleuchtet Hintergründe, ordnet ein und hat auch Platz für Kultur und Unterhaltendes. Das Magazin pflegt den Dialog über Social Media und informiert über die wichtigsten Dienstleistungen, Veranstaltungen und Bildungsangebote der Gewerkschaft und nahestehender Organisationen.

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Dossier<br />

Selbständig, enthusiastisch,<br />

aber im Notfall ohne Schutz<br />

13<br />

Die Gesundheitsgefahren in der Selbständigkeit<br />

und in der Plattformarbeit zeigen sich<br />

exemplarisch am Burn-out. Es ist nicht einmal<br />

als Berufskrankheit anerkannt.<br />

Text: Mattia Lento<br />

Bilder: Cécile Monnier<br />

1956 eröffnet der junge Psychoanalytiker Herbert J. Freudenberger,<br />

ein deutscher Jude, der dem Nationalsozialismus<br />

entkommen war, in New York eine eigene Praxis. Er<br />

ist glücklich, und er beginnt pausenlos zu arbeiten.<br />

Abends engagiert er sich freiwillig und hilft jungen Menschen,<br />

von Drogen wegzukommen. Freudenberger, der<br />

auch verheiratet und Vater dreier Söhne ist, hat wahrscheinlich<br />

sehr viel Energie und eine grosse Leidenschaft<br />

für seine Arbeit, aber nach einigen Jahren zerbricht etwas<br />

in ihm. Er fühlt sich erschöpft, ausgelaugt, resigniert und<br />

unausgeglichen. Nach einiger Zeit verfällt er in einen Zustand<br />

völliger physischer und psychischer Erschöpfung.<br />

Er beginnt, mit Kollegen darüber zu sprechen und Artikel<br />

zu schreiben. Zur Beschreibung seines Zustands benutzt<br />

er 1974 erstmals den Begriff «Burn-out», der zuvor im<br />

Sport verwendet und dann in der Psychologie und Arbeitsmedizin<br />

populär wurde.<br />

Selbständige Erwerbsarbeit heisst oft Prekarität<br />

Freudenberger war nicht nur ein genauer Beobachter und<br />

begabter Wissenschaftler, sondern auch Freiberufler. Er<br />

war zwar hochqualifiziert, beruflich gut situiert und wahrscheinlich<br />

ohne grosse Geldsorgen. Dennoch blieb er ein<br />

selbständig Erwerbstätiger, dem es aus dem einen oder<br />

anderen Grund nicht gelang, Arbeitsbelastung und verfügbare<br />

Energie im Gleichgewicht zu halten.<br />

Die selbständige Erwerbsarbeit ist explosionsartig angestiegen.<br />

Wie der Ökonom und Philosoph Christian Marazzi<br />

wiederholt geschrieben hat, ist das ein Produkt des<br />

spätkapitalistischen Systems. Die Free lancer:innen von<br />

heute laufen Gefahr, aufgrund eines in stabilen Wirtschafts-<br />

und Sozialsystems, das wenig Schutz bietet, krank<br />

zu werden. Eine freiberufliche Tätigkeit ist nicht immer<br />

freiwillig, und sie ist oft gleichbedeutend mit Prekarität.<br />

Francesco Giudici und Davide Morselli haben in einer<br />

neuen Studie mit Daten aus dem Schweizer Haushalts-<br />

Panel der letzten zwanzig Jahre gezeigt, wie Prekarität eng<br />

mit psychischem Unwohlsein, vor allem Depression, zusammenhängt.<br />

Einer Krankheit, die häufig mit einem<br />

Burn-out einhergeht. Für die Arbeitnehmenden der Gig-<br />

Economy – die zwar keine Freelancer:innen sind, aber als<br />

solche behandelt werden – ist die Lage nicht besser. Sie<br />

sind nicht nur äusserst prekär beschäftigt, sondern auch<br />

sozialer Isolation und der Überwachung durch Algorithmen<br />

ausgesetzt. Häufig leiden sie unter einem Mangel an<br />

beruflicher Identität und beruflichen Aussichten. Dies<br />

macht sie anfällig für Depressionen, Angststörungen,<br />

Schlafprobleme und Burn-out. Erst in einigen Jahren werden<br />

wir das Ausmass der Schäden, die mit der Plattformarbeit<br />

einhergehen, quantitativ erfassen können.<br />

Das Arbeitsrecht ist nicht auf der Höhe der Zeit<br />

Das Schweizer Arbeitsrecht ist auf diese Herausforderungen<br />

nicht vorbereitet. Das geginnt damit, dass «Burn-out»<br />

auch weiterhin keine Krankheitsdiagnose, sondern als<br />

Berufsphänomen definiert ist, das aber «multifaktorielle»<br />

Ursachen hat. Damit fällt es im Gegensatz zu anderen europäischen<br />

Ländern nicht unter die Berufskrankheiten.<br />

Anja Zyska Cherix, Chefärztin Arbeitsmedizin bei der<br />

SUVA, erklärt, dass «psychische Krankheiten (z. B. Depression)<br />

in der Schweiz dann als Berufskrankheiten gelten<br />

können, wenn sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit<br />

auf die Arbeit als Hauptursache zurückgeführt werden<br />

können». Die Einstufung von Burn-out als Krankheit hätte<br />

vor allem Folgen für die Krankenkassen.<br />

Die Versicherungsfrage allgemein ist auch ein brisantes<br />

Thema für Plattform-Arbeitnehmende und Selbständige.<br />

Erstere müssen endlich als Angestellte behandelt<br />

werden, wie das Bundesgericht für die Uber-Fahrer:innen<br />

entschieden hat. Für Letztere ist es wichtig, dass sie sich<br />

gegen Erwerbs ausfälle wegen Krankheit und Unfall versichern.<br />

Hier und heute noch ein teurer Schutz, den sich leider<br />

nicht alle leisten können.

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