08.08.2022 Aufrufe

syndicom magazin Nr. 30

Das syndicom-Magazin bietet Informationen aus Gewerkschaft und Politik: Die Zeitschrift beleuchtet Hintergründe, ordnet ein und hat auch Platz für Kultur und Unterhaltendes. Das Magazin pflegt den Dialog über Social Media und informiert über die wichtigsten Dienstleistungen, Veranstaltungen und Bildungsangebote der Gewerkschaft und nahestehender Organisationen.

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24 Politik<br />

«Produktivität» ist eine<br />

frauenfeindliche Idee<br />

Laetitia Vitaud, Autorin und<br />

Vortragende zur Zukunft<br />

der Arbeit und des Managements,<br />

übt feministische<br />

Kritik an der Produktivität,<br />

einem Indikator, der die<br />

unsichtbare und unbezahlte<br />

Arbeit der Frauen nicht<br />

berücksichtigt.<br />

Gespräch: Muriel Raemy<br />

Bild: zVg<br />

Laetitia Vitaud, im April erschien<br />

Ihr Buch «En finir avec la productivité<br />

– Critique féministe d’une notion<br />

phare de l’économie et du travail»<br />

(Schluss mit der Produktivität:<br />

Feministische Kritik an einem<br />

Leitkonzept in Wirtschaft und<br />

Arbeit). – Was ist Produktivität?<br />

Die Produktivität entspricht einem<br />

Verhältnis, einem Anteil. Zum Beispiel:<br />

Anzahl Autos, die am Abend<br />

das Werk verlassen, im Verhältnis<br />

zur Anzahl der anwesenden Arbeiter:innen.<br />

Daraus ergibt sich eine<br />

eindeutige Zahl – und die Illusion<br />

eines unumstösslichen Fakts. In der<br />

Realität ist es aber schwierig, einen<br />

einzigen Produktionsfaktor isoliert<br />

zu betrachten. Das ist sehr künstlich<br />

und verkennt das Wesentliche.<br />

Das heisst?<br />

Produktivität lässt sich in der Fabrik<br />

oder in der Landwirtschaft ganz gut<br />

messen. Aber wie kann man Wissen,<br />

Care, Wohlbefinden, Beziehungen,<br />

die Auswirkungen auf die Umwelt,<br />

auf die urbane Vitalität, auf das soziale<br />

Gefüge beziffern? Per Definition<br />

ignoriert die Produktivität die<br />

Wechselwirkung von Aktivitäten<br />

ebenso wie die externen Effekte<br />

und alle Besonderheiten einer<br />

Volkswirtschaft. Schon lange wird<br />

dies auch am BIP kritisiert. Produktivität<br />

und BIP definieren aber, ob<br />

eine Wirtschaft gesund ist oder<br />

nicht. Aus ökonomischer Sicht<br />

beruht meine Kritik darauf, dass<br />

Produktivität als Kennzahl sehr<br />

beschränkt oder gar falsch ist.<br />

«Derweil der<br />

Mann produktiv<br />

arbeiten geht, ist<br />

die Frau zu Hause<br />

unsichtbar.»<br />

Ihre Kritik ist in erster Linie<br />

feministisch.<br />

Ja, mit der industriellen Wirtschaft<br />

wird die Produktion den Männern<br />

ausser Haus anvertraut. Für die<br />

Reproduktion seiner Arbeitskraft<br />

(Kinder betreuen, kochen, haushalten,<br />

während der Mann arbeitet)<br />

ist die Frau zuständig, zu Hause eingesperrt.<br />

Der Lohn des Mannes soll<br />

alle Bedürfnisse der Familie abdecken.<br />

Die Aufgaben der Frauen (die<br />

jedoch für die Produktion unerlässlich<br />

sind!) hingegen werden nicht<br />

entlohnt. Ihre Arbeit ist nicht Teil<br />

der Marktwirtschaft. Die Frauen<br />

werden unsichtbar gemacht.<br />

Im 20. Jahrhundert haben die<br />

«Reproduktionsaufgaben» grösstenteils<br />

Eingang in die Marktsphäre gefunden:<br />

die Essenszubereitung in<br />

der Kantine, die Betreuung der Alten<br />

zu Hause, die Kinderbetreuung.<br />

Diese Berufe sind noch weit gehend<br />

weiblich und deutlich entwertet.<br />

Ökonom:innen bezeichnen alle<br />

diese Tätigkeiten als «wenig produktiv»!<br />

Produktivität ist in vielerlei<br />

Hinsicht frauenfeindlich.<br />

Produktivität hätte aber etwas Gutes<br />

sein können, oder? Mehr mit<br />

weniger produzieren – wir hätten<br />

eben gerade mehr Zeit gewinnen<br />

sollen für unsere Hobbys oder<br />

dafür, uns um andere zu kümmern.<br />

Man dachte, die Arbeitszeit würde<br />

sich verringern. Das war auch bis zu<br />

den 1990er­Jahren zu beobachten:<br />

Die Leute hatten Zeit für Hobbys,<br />

konnten verreisen. Nur kam die<br />

Verkürzung der Arbeitszeit zum<br />

Stillstand. Die Produktivität hat zugenommen,<br />

aber die produktivsten<br />

Arbeitnehmenden haben weiterhin<br />

immer mehr gearbeitet, besonders<br />

in wichtigen Positionen, in Bereichen<br />

wie Finanz oder Technologie.<br />

Gleichzeitig wurden den Arbeitnehmenden,<br />

die als weniger produktiv<br />

galten, schlecht bezahlte und Teilzeitstellen<br />

angeboten: Die Arbeit<br />

wird einfach nicht richtig aufgeteilt.<br />

Das Buch ist in der Essay­Reihe von Payot<br />

erschienen, es kostet 18 Franken.

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