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Klaus Nagorni: Zum Frühstück ein Stück Himmel (Leseprobe)

Was gehört zu einem guten Start in den Tag? Ein duftender Kaffee, ein Croissant oder das Lieblingsmüsli. Ein Augenblick Zeit für sich. Und ein Augenblick Zeit für Gott. Denn das Leben ist mehr als der tägliche Marathon zwischen Arbeit, Einkaufen und Familie. Klaus Nagorni schenkt uns mit diesem Andachtsbuch täglich ein Stück Himmel am Morgen: tröstende, anregende, hoffnungsfrohe Gedanken zum Start in den Tag. Damit Alletage ein wenig mehr Sonntag in sich tragen. Ein Buch für mehr Tiefgang im Alltag. Und für echte Zuversichtsmomente am Frühstückstisch, die durch den ganzen Tag begleiten.

Was gehört zu einem guten Start in den Tag? Ein duftender Kaffee, ein Croissant oder das Lieblingsmüsli. Ein Augenblick Zeit für sich. Und ein Augenblick Zeit für Gott. Denn das Leben ist mehr als der tägliche Marathon zwischen Arbeit, Einkaufen und Familie. Klaus Nagorni schenkt uns mit diesem Andachtsbuch täglich ein Stück Himmel am Morgen: tröstende, anregende, hoffnungsfrohe Gedanken zum Start in den Tag. Damit Alletage ein wenig mehr Sonntag in sich tragen. Ein Buch für mehr Tiefgang im Alltag. Und für echte Zuversichtsmomente am Frühstückstisch, die durch den ganzen Tag begleiten.

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<strong>Klaus</strong> <strong>Nagorni</strong><br />

<strong>Zum</strong><br />

<strong>Frühstück</strong><br />

<strong>ein</strong> <strong>Stück</strong><br />

<strong>Himmel</strong><br />

Gedanken zum<br />

Wachwerden


Der alte<br />

Baum<br />

Der alte Baum in unserem Garten fehlt mir. In der<br />

Mittagshitze des Sommers hatte er mir über Jahre Schatten<br />

gespendet. S<strong>ein</strong> kühlendes Blätterdach hatte die Hitze<br />

erträglich gemacht. Hier konnte ich es aushalten. Verweilen.<br />

Träumen.<br />

Der alte Baum hat die Hitze und die Trockenheit des<br />

letzten Sommers nicht überstanden. Er ist abgestorben.<br />

Ein für alle Mal. Nun fehlt er mir. Genauso wie s<strong>ein</strong><br />

kühlender Schatten.<br />

In den Psalmen der Bibel ist öfter davon die Rede,<br />

dass Menschen im Schatten Gottes Ruhe und Geborgenheit<br />

finden. „Wie köstlich ist d<strong>ein</strong>e Güte, Gott, dass Menschenkinder<br />

unter dem Schatten d<strong>ein</strong>er Flügel Zuflucht<br />

haben!“, heißt es in <strong>ein</strong>em Psalm.<br />

Natürlich hat Gott k<strong>ein</strong>e Flügel. Und ob Engel tatsächlich<br />

Flügel haben, weiß ich nicht. Aber das Bild verstehe<br />

ich sofort: dass unter dem Schatten der Flügel Gottes das<br />

Leben erträglich wird. Leichter. Dass ich dort im hitzigen<br />

Alltag aufatmen kann. Und gestärkt aus diesem Schatten<br />

heraustrete.<br />

5


Solche Orte brauche ich umso mehr, je größer die<br />

Reibungshitze im Alltag wird. Im Umgang von Menschen<br />

unter<strong>ein</strong>ander ist das genauso zu spüren wie in<br />

dem, was sich in der Natur beobachten lässt. Es ist diese<br />

Anspannung und dieses Gestressts<strong>ein</strong>, die mir oftmals<br />

zu schaffen machen. Und zu denken geben.<br />

Die Menschen der biblischen Welt haben die Orte und<br />

die Zeiten gekannt, wo und wann man sich im Schatten<br />

regenerieren konnte. Und sie haben zu <strong>ein</strong>em Gott gebetet,<br />

der sie nicht immer wieder zu neuen Aktivitäten<br />

angetrieben hat, sondern der wollte, dass sie hin und<br />

wieder Abstand nehmen zu sich selbst. Aufhören sollten<br />

mit ihrer Geschäftigkeit. Mindestens <strong>ein</strong>mal die Woche.<br />

Besser noch <strong>ein</strong>mal am Tag. Um sich selbst von außen<br />

zu betrachten. Sich zu fragen: Was tust du da eigentlich<br />

jeden Tag? Wohin soll das führen, wenn du so weitermachst<br />

wie bisher? Bedenke, dass d<strong>ein</strong> Leben endlich ist!<br />

Und frage dich, welche Spuren du hinterlassen willst!<br />

Schattenplätze sind ungeheuer wichtig in m<strong>ein</strong>em<br />

Leben. Je heißer es zugeht, umso wichtiger. Ich will mich<br />

dafür <strong>ein</strong>setzen, dass solche Schattenplätze nicht verloren<br />

gehen. Wie die unter <strong>ein</strong>em Baum. Auf <strong>ein</strong>er Parkbank.<br />

Oder <strong>ein</strong>er Kapelle am Weg.<br />

Solche Plätze lassen mich erfahren: Du bist nicht all<strong>ein</strong><br />

mit dir. Da geht jemand mit, in dessen Schatten du<br />

dich aufgehoben fühlen darfst. Der dir die Kraft gibt, die<br />

du gerade brauchst.<br />

6


Zwei Arten<br />

leben<br />

zu<br />

Glauben Sie an Wunder? Albert Einst<strong>ein</strong>, Physiker und<br />

Begründer der Relativitätstheorie, hat es getan. „Es gibt<br />

zwei Arten, s<strong>ein</strong> Leben zu leben“, hat er <strong>ein</strong>mal geschrieben,<br />

„entweder so, als wäre nichts <strong>ein</strong> Wunder, oder so,<br />

als wäre alles <strong>ein</strong>es.“ Und er hat hinzugefügt: „Ich glaube<br />

an Letzteres.“ Ich vermute, das hat damit zu tun, dass<br />

sich Einst<strong>ein</strong> <strong>ein</strong> Leben lang s<strong>ein</strong> kindliches Staunen<br />

bewahrt hat. Was <strong>ein</strong>e gute Voraussetzung ist, um <strong>ein</strong><br />

exzellenter Wissenschaftler zu werden. Vieles geht ja<br />

verloren, bis <strong>ein</strong> Mensch so richtig erwachsen geworden<br />

ist. Vor allem die Fähigkeit, auch über die allerkl<strong>ein</strong>sten<br />

Dinge zu staunen.<br />

Eine Gruppe von Altersforschern in San Francisco hat<br />

sich kürzlich dieses Themas angenommen. Die Wissenschaftler<br />

hatten beobachtet, dass bei vielen Menschen<br />

im Alter die Ängste zunehmen und sie in <strong>ein</strong>e Endlosschleife<br />

aus Sorgen und Grübelei geraten. Mit <strong>ein</strong>fachen<br />

Mitteln wollten die Forscher zeigen, wie es gelingt, sich<br />

zuversichtlicher durch die Welt zu bewegen. Das Rezept<br />

dazu: staunen lernen.<br />

7


In <strong>ein</strong>em Experiment wurden Freiwillige angeregt,<br />

acht Wochen lang jeden Morgen fünfzehn Minuten spazieren<br />

zu gehen. Die Hälfte der Gruppe sollte dabei auf<br />

die Umgebung achten und das Staunen üben, wenn ihnen<br />

etwas bemerkenswert vorkam. Die andere Hälfte<br />

zog ohne weitere Vorgaben los. Der Erfolg des Selbstversuchs<br />

wurde dann anhand der Fotos gemessen, die die<br />

Teilnehmer gemacht hatten.<br />

Auffallend war: Die Bilder der „Staungruppe“ sahen<br />

ganz anders aus als jene der Vergleichsgruppe. Auf ihren<br />

Fotos war zunehmend mehr von der Umgebung draußen<br />

zu sehen. Sie selbst standen immer weniger im Mittelpunkt.<br />

Und sahen am Ende der Woche deutlich entspannter<br />

und gelöster aus.<br />

Einer der Forscher sagte dazu: „Staunen rückt unsere<br />

Perspektive zurecht und zeigt uns, dass die Welt nicht<br />

nur aus uns besteht.“ Im Staunen nämlich lenke ich m<strong>ein</strong>e<br />

Energie nach außen. Und löse mich aus dem Kreisel<br />

der Selbstbeschäftigung.<br />

Dafür, finde ich, gibt es viele Wege. Nicht jeder wird<br />

gleich Naturwissenschaftler wie Albert Einst<strong>ein</strong>. Die großen<br />

Wunder erlebt man sowieso am besten im Kl<strong>ein</strong>en.<br />

Ich gehe dazu gerne hinaus in die Natur. Oder arbeite<br />

<strong>ein</strong>en halben Tag im Garten. Genieße die Ruhe <strong>ein</strong>es<br />

Kirchenraumes. Erfreue mich an der Komposition <strong>ein</strong>es<br />

Musikstückes. Und entscheide mich dafür, mit denen zu<br />

sympathisieren, für die die Welt <strong>ein</strong> Wunder ist.<br />

8


Die Lust an der<br />

Verkleidung<br />

Woher kommt die Lust an der Verkleidung? Warum<br />

lieben Menschen Maskierungen und Maskeraden?<br />

Schon als Kinder haben wir gerne in Kleiderschränken<br />

und Kleiderkisten gestöbert. Und uns mit den dort gefundenen<br />

Textilien <strong>ein</strong> neues Aussehen verpasst. Der<br />

weiche Fuchspelz der Mutter, der Hut des Vaters, Handschuhe,<br />

die bis zum Ellbogen reichten, <strong>ein</strong>e bunte Schürze.<br />

Das war alles recht, um sich für <strong>ein</strong>e bestimmte Zeit<br />

in jemand anderen zu verwandeln.<br />

Der Wunsch nach Verwandlung steckt in uns seit<br />

Kindesb<strong>ein</strong>en. Manchmal darf er sogar ganz offiziell<br />

heraus: in der Faschings- und Karnevalszeit. In diesem<br />

Wunsch verbirgt sich im Kern, und oft ironisch verfremdet,<br />

<strong>ein</strong>e Sehnsucht. Die Sehnsucht, <strong>ein</strong>mal jemand anderes<br />

zu s<strong>ein</strong>. Wenigstens spielerisch auszuprobieren,<br />

was mir in der Routine m<strong>ein</strong>es Alltags versagt bleibt oder<br />

sogar verboten ist.<br />

Dass diese Zeit äußerer Verwandlungslust der Fastenzeit<br />

vorausgeht, ist k<strong>ein</strong> Zufall. Denn auch wer fastet,<br />

9


probiert <strong>ein</strong> anderes Leben aus, äußerlich, aber vor allem<br />

auch innerlich. Er legt Verhaltensweisen oder Eigenschaften<br />

ab, die unter normalen Umständen den Alltag<br />

prägen. Er oder sie lässt s<strong>ein</strong>, was sonst üblich ist. Und<br />

verzichtet.<br />

Neulich hatte ich die Gelegenheit, mit <strong>ein</strong>er Gruppe<br />

von Schülern das Thema Verzicht zu diskutieren. Ein<br />

eher sprödes Thema für junge Leute, die gerade dabei<br />

sind, die Welt zu entdecken, dachte ich. Und war überrascht,<br />

wie positiv sie dieses Thema bewerteten. Natürlich,<br />

wer verzichtet, gibt etwas auf, das war allen klar.<br />

Dennoch, die Gewinne würden <strong>ein</strong>deutig überwiegen,<br />

m<strong>ein</strong>ten die Schüler.<br />

Ich kann mich besser konzentrieren, sagte <strong>ein</strong>er,<br />

wenn ich nicht versuche, überall mitzuspielen. Wenn ich<br />

mit m<strong>ein</strong>em Freund zusammen bin, verzichte ich zwar<br />

während dieser Zeit auf alles Mögliche andere, aber<br />

unserer Beziehung tut das gut. Ich entdecke eher, was<br />

für m<strong>ein</strong> Leben wichtig ist, war <strong>ein</strong>e weitere Auskunft.<br />

Die jungen Leute haben das richtig gesehen, denke<br />

ich. Was vordergründig als Verlust ersch<strong>ein</strong>t, erlaubt bei<br />

genauerem Hinschauen <strong>ein</strong> tieferes Eintauchen ins Leben.<br />

Da muss k<strong>ein</strong>er erst mit der moralischen Keule kommen.<br />

Denn es liegt auf der Hand: Verzichten bringt Gewinn.<br />

Einfach mal loslassen, was mich im Griff hat oder<br />

was ich für unverzichtbar halte. Auch wenn es Überwindung<br />

kostet. Neues zulassen. Und dabei unbekannte<br />

Seiten an mir entdecken. Oder solche, die lange verschüttet<br />

waren.<br />

10


Die Weisheit<br />

des<br />

Plat z-<br />

an -<br />

weisers<br />

Die folgende Geschichte passt gut in unsere Zeit,<br />

finde ich. Obwohl sie uralt ist. Sie erzählt von Abu Said,<br />

<strong>ein</strong>em berühmten persischen Mystiker des 11. Jahrhunderts.<br />

Der war überall als begnadeter Redner bekannt<br />

und beliebt. Wo immer er hinkam, drängten sich die<br />

Menschen, um ihn zu sehen und zu hören.<br />

Wieder <strong>ein</strong>mal geschah es, dass die Menschen in Erwartung<br />

s<strong>ein</strong>er Predigt in <strong>ein</strong>er Stadt zusammenströmten,<br />

so dass k<strong>ein</strong> Platz mehr blieb in dem Gotteshaus. Der<br />

zuständige Platzanweiser versuchte, Ordnung in das<br />

Durch<strong>ein</strong>ander zu bringen. „Jeder soll“, rief er, „von da,<br />

wo er ist, <strong>ein</strong>en Schritt näherkommen.“<br />

Als Abu Said das hörte, schloss er die Versammlung,<br />

bevor er sie begonnen hatte. Zur Erklärung sagte er: „Alles,<br />

was ich sagen wollte, hat der Platzanweiser schon<br />

gesagt.“ Und damit verließ er die Stadt.<br />

„Jeder soll von da, wo er ist, <strong>ein</strong>en Schritt näherkommen.“<br />

So <strong>ein</strong>fach sch<strong>ein</strong>t das und ist doch so schwer!<br />

Denn es setzt guten Willen voraus. Und <strong>ein</strong> Vertrauen<br />

11


in die Bereitschaft der anderen, dasselbe zu tun. Beides<br />

ist nicht immer gegeben. Und dennoch, davon bin ich<br />

überzeugt, Lösungen sind nur auf diese Weise möglich.<br />

Es sind schließlich die kl<strong>ein</strong>en Gesten, die Bewegung<br />

bringen in verfahrene Situationen. Das achtsam gewählte<br />

Wort, das k<strong>ein</strong> Öl ins Feuer gießt. Die Bereitschaft, erst<br />

<strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>en vorsichtigen kl<strong>ein</strong>en Schritt zu machen,<br />

um das Festgefahrene aufzulösen. Und nicht mit aller<br />

Gewalt mit dem Kopf durch die Wand zu wollen.<br />

Mich erinnert die Geschichte an Worte aus der Bergpredigt<br />

Jesu. „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden<br />

das Erdreich besitzen. Selig sind, die Frieden stiften;<br />

denn sie werden Gottes Kinder heißen.“<br />

Die Sanftmütigen und die Friedenstifter. Vermutlich<br />

sind sie chancenlos in Zeiten des Krieges. Sie sitzen ja<br />

meist nicht an den Schalthebeln der Macht. Sie sind <strong>ein</strong>e<br />

kl<strong>ein</strong>e Schar, zu wenige, um den Strom der Gewalt zum<br />

Versiegen zu bringen. Aber ohnmächtig sind sie nicht.<br />

Einige haben es vorgemacht: Martin Luther King, Mahatma<br />

Gandhi, Bertha von Suttner. Sie haben Zeichen<br />

der Hoffnung gesetzt. Über ihr eigenes Leben und ihre<br />

eigene Zeit hinaus. Voller Überzeugung, dass der Gewaltspirale<br />

zu entkommen ist.<br />

Ihre Namen machen uns heute Mut. Als Pioniere, die<br />

mit dem Frieden Ernst gemacht haben. Weil sie verstanden<br />

haben: „Jeder soll von da, wo er ist, <strong>ein</strong>en Schritt<br />

näherkommen.“<br />

12


Mit<br />

anderen Dingen<br />

beschäftigt<br />

Leben ist das, was passiert, während man mit anderen<br />

Dingen beschäftigt ist. Hat <strong>ein</strong> kluger Mensch <strong>ein</strong>mal<br />

gesagt. Damit ist <strong>ein</strong>e Lebenserfahrung beschrieben, der<br />

der Soziologe Hartmut Rosa in <strong>ein</strong>em anregenden Essay<br />

nachgegangen ist. Der Titel lautet: „Unverfügbarkeit“.<br />

Rosa beschreibt, wie der Wunsch, sich alles verfügbar<br />

zu machen, in modernen Gesellschaften allgegenwärtig<br />

geworden ist. Überall wird uns versprochen: Alles ginge<br />

immer noch besser, noch schneller, noch effizienter. Bis<br />

hin<strong>ein</strong> in die persönliche Lebensführung herrscht das<br />

Credo: M<strong>ein</strong> Leben wird besser, je mehr es mir gelingt,<br />

mehr von der Welt unter m<strong>ein</strong>e Verfügungsgewalt zu<br />

bringen.<br />

Aber, und das ist die andere Seite, wir zahlen dafür<br />

<strong>ein</strong>en hohen Preis. Denn je mehr wir auf allen Ebenen<br />

darauf zielen, uns alles verfügbar zu machen, desto mehr<br />

verstummt und verst<strong>ein</strong>ert die Welt um uns her. Sie begegnet<br />

uns nur noch als Reihe von Objekten, die es zu<br />

13


wissen, zu beherrschen oder zu nutzen gilt. Genau dadurch<br />

aber geht alle Lebendigkeit verloren.<br />

Mich erinnert das an <strong>ein</strong>e Frage Jesu: „Was hilft es<br />

dem Menschen, sich die ganze Welt verfügbar zu machen,<br />

wenn er dabei Schaden nimmt an s<strong>ein</strong>er Seele?“<br />

Tatsächlich ist es so: Wo alles verfügbar wird, geht verloren,<br />

was mich unmittelbar ansprechen könnte. Da verstummen<br />

die Stimmen, die von außen kommen und mir<br />

etwas zu sagen haben. Schaden nehmen an der Seele<br />

heißt ja, sich nicht mehr berühren lassen, nicht mehr<br />

erreichbar s<strong>ein</strong>, die Sinne verstopfen – vor dem Gesang<br />

der Vögel, dem Duft des nahen Frühlings, der Frage<br />

<strong>ein</strong>es Kindes.<br />

Erst das Zulassen des Unverfügbaren belebt das Leben.<br />

Erst dann spüre ich: Da ist noch etwas Stärkeres am<br />

Werk, als ich es bin. Etwas, das mir gegenübertritt, mich<br />

anspricht, anruft, manchmal herausholt aus <strong>ein</strong>gefahrenen<br />

Bahnen. Ein unverhoffter Anruf vielleicht, der mich<br />

aus der Routine reißt. Eine Melodie aus frühen Jugendtagen,<br />

die mich berührt wie damals. Ein weiter Kirchenraum,<br />

dessen Stille m<strong>ein</strong>en Blick in <strong>ein</strong>e andere Richtung<br />

lenkt. Dann spüre ich, da gibt es etwas, was ich nicht<br />

steuern kann. Was Seiten in mir zum Klingen bringt,<br />

die mir normalerweise verborgen, die vielleicht sogar<br />

verschüttet sind.<br />

Und plötzlich, während ich doch gerade mit ganz anderen<br />

Dingen beschäftigt bin, meldet sich das Leben bei<br />

mir. Überraschend und unverfügbar.<br />

14


Schlechte<br />

gute<br />

Nachrichten,<br />

Nachrichten<br />

Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Das ist<br />

<strong>ein</strong>e alte Journalistenweisheit. Denn schlechte Nachrichten<br />

erregen mehr Aufmerksamkeit. Und verkaufen sich<br />

besser. Ich weiß das von mir selbst. Wenn ich morgens<br />

erst <strong>ein</strong>mal die Schlagzeilen der großen Tageszeitungen<br />

durchsehe, dann bleibe ich an solchen Überschriften<br />

hängen: Erdrutsche, Überschwemmungen, Unfälle. Das<br />

Neueste von den Schrecken des Krieges. Und der Pandemie.<br />

Aber ich fühle mich nach so vielen negativen Nachrichten<br />

auch ziemlich hilflos. Und ich merke, wie sie<br />

mich lähmen.<br />

Die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel hat darüber<br />

<strong>ein</strong>, wie ich finde, wichtiges Buch geschrieben. Sie<br />

sagt: „Die meisten von uns glauben, die Welt ist viel<br />

schlechter, als sie tatsächlich ist.“ Sie will darum Geschichten<br />

erzählen, die Hoffnung machen und Auswege<br />

aufzeigen.<br />

Als Theologe fällt mir sofort <strong>ein</strong>, dass das auf griechisch<br />

verfasste Neue Testament, übersetzt „die gute<br />

15


Nachricht“ heißt. Lässt sich mit wenigen Worten sagen,<br />

worin diese gute Nachricht besteht? Vermutlich schwierig,<br />

denn beide Teile der Bibel sind voller guter Nachrichten.<br />

Aber vielleicht lässt sie sich doch in zwei Namen fassen.<br />

Im Alten Testament ist es der Name Gottes, den<br />

Mose in der Szene am brennenden Dornbusch erfährt.<br />

„Wie heißt du?“, fragt er die im Feuer aufleuchtende Ersch<strong>ein</strong>ung.<br />

Die Antwort lautet: „Ich bin der ‚Ich bin da‘.“<br />

Die zweite gute Nachricht steckt im Namen Jesus von<br />

Nazareth. Übersetzt bedeutet der: „Gott hilft“ oder „Gott<br />

rettet“.<br />

Ich finde, es lohnt, das eigene Leben <strong>ein</strong>mal daraufhin<br />

zu befragen, was sich für mich ändert, wenn ich<br />

nicht nur von mir behaupte: Ich bin da. Sondern wenn<br />

es, über mich hinaus, noch diese anderen Namen und<br />

die Wirklichkeit dahinter gibt. Ich glaube, damit ändert<br />

sich das Vorzeichen von allem, mit dem ich täglich umgehen<br />

muss.<br />

Das Bedrückende, Unbegreifliche, Schreckliche, was<br />

mich in den Nachrichten erreicht, werde ich nicht ausklammern.<br />

Aber ich will darüber die Geschichten nicht<br />

vergessen, die Mut machen und Hoffnung. Und die mir<br />

helfen, mitzudenken und mitzulenken, wo Lösungen in<br />

Aussicht und Auswege möglich sind. Ich weiß dann<br />

auch, das Bedrückende und Unbegreifliche ist umschlossen<br />

von der guten Nachricht, die im Gottesnamen verborgen<br />

ist. Und die heißt, was auch immer geschieht:<br />

„Ich bin da.“<br />

16


Feuchte Augen<br />

Gänsehaut<br />

und<br />

E rinnern Sie sich, wann Sie zuletzt gerührt waren?<br />

Ich m<strong>ein</strong>e an den Moment, in dem Ihnen das letzte Mal<br />

die Augen feucht geworden sind? Oder Ihnen <strong>ein</strong>e Gänsehaut<br />

den Rücken heruntergelaufen ist?<br />

Mir geht es so, wenn mich <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Kind an die<br />

Hand nimmt. Wenn mir <strong>ein</strong> Mensch schreibt, was ihm<br />

unser Gespräch vor Jahren bedeutet hat. Wenn ich Solidarität<br />

erlebe, die Menschen gegenüber denen aufbringen,<br />

die von <strong>ein</strong>em Unglück getroffen sind. Wie bei der<br />

Überschwemmungskatastrophe an der Ahr.<br />

Psychologen haben herausgefunden, dass Rührung<br />

<strong>ein</strong> menschliches Gefühl ist, bei dem uns beides bewusst<br />

wird: die Besonderheit, aber auch die Vergänglichkeit<br />

des Lebens. Über dieses Gefühl sind wir tief mit anderen<br />

verbunden.<br />

In der Bibel wird in vielen Geschichten davon erzählt,<br />

dass Jesus sich von anderen Menschen hat rühren und<br />

berühren lassen. „Und als er das Volk sah, jammerte es<br />

ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die<br />

Schafe, die k<strong>ein</strong>en Hirten haben“, heißt es an <strong>ein</strong>er Stelle<br />

im Neuen Testament. Dieses Jammern m<strong>ein</strong>t aber k<strong>ein</strong><br />

17


unzufriedenes Herumnörgeln wie in unserer Alltagssprache.<br />

Wenn es Jesus jammert, dann bedeutet es so<br />

viel wie: Was er erlebt, das schlägt ihm auf den Magen.<br />

Es wühlt ihn im Innersten auf. Wenn er Zeuge davon<br />

wird, wie orientierungslos Menschen durchs Leben irren.<br />

Wie manche besessen sind von Ängsten und Hass.<br />

Und aus den Augen verloren haben, was gut ist für sie<br />

und ihre Umgebung. Wie manche unter Krankheiten<br />

leiden, aber auch unter Missachtung und Ausgrenzung.<br />

Alles das löst bei Jesus geradezu körperliche Reaktionen<br />

aus. Es jammert ihn. Er lässt sich berühren, ist gerührt.<br />

Aber das ist nicht alles! Denn Jesus tritt dem Jammer<br />

auch selbst entgegen. Stellt sich <strong>ein</strong>em Menschen zur<br />

Seite, der hilflos ist. Geht mit durch das, was jemand<br />

erleidet. Oder was man ihm oder ihr zugefügt hat.<br />

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“,<br />

hat Jesus <strong>ein</strong>mal gesagt. Das ist <strong>ein</strong>e Haltung, die wir mit<br />

<strong>ein</strong>em modernen Wort als „Empathie“ bezeichnen würden.<br />

Sie ist weit mehr als das bloße Gefühl der Rührung.<br />

Sie äußert sich in Einfühlung und Zuwendung. Und<br />

drückt aus: „Ich sehe dich. Ich lasse mich von dir berühren.<br />

Du lässt mich nicht kalt.“<br />

Ich glaube, das ist <strong>ein</strong>e Haltung, die allen guttut. Und<br />

von der wir mehr brauchen. Heute.<br />

18


Ganz der<br />

Alte?<br />

Nach vielen Jahren wieder <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong> Klassentreffen.<br />

Man begrüßt sich neugierig. „Immer noch ganz der<br />

Alte“, sagt <strong>ein</strong> Klassenkamerad und klopft <strong>ein</strong>em anderen<br />

auf die Schulter. „Wie damals, als du unserem<br />

Deutschlehrer <strong>ein</strong>en nassen Schwamm auf den Stuhl<br />

gelegt hast.“<br />

Immer noch ganz der Alte? Ein richtiges Kompliment<br />

ist das meistens nicht! Da hat sich <strong>ein</strong> Bild verfestigt.<br />

Eine früher gespielte Rolle klebt an <strong>ein</strong>em wie Pech und<br />

Schwefel. Aber eigentlich, denkst du, bist du doch inzwischen<br />

längst <strong>ein</strong> ganz anderer!<br />

Einmal im Jahr allerdings entlädt sich der Zwang,<br />

immer ganz der Alte s<strong>ein</strong> zu müssen, in schrillen Umzügen<br />

und Festen. Selbst wer das nicht mag, muss anerkennen,<br />

dass alle Gesellschaften solche Zeiten kennen,<br />

in denen die Ventile des Alltags geöffnet sind. Soziologen<br />

sprechen davon, dass es sich bei Festen wie Karneval<br />

und Fasching um die kollektive Durchbrechung sozialer<br />

Regeln handelt. Die gewohnte Routine ist aufgehoben.<br />

19


Im Fest, so m<strong>ein</strong>en sie, können Menschen die Erfüllung<br />

des Lebens wiederfinden, <strong>ein</strong>e Erneuerung und Verwandlung<br />

ihrer selbst.<br />

Unter diesem Blickwinkel, das muss ich zugeben, gewinne<br />

ich dem Karnevalstreiben dann doch etwas ab.<br />

Es lässt mich fragen, wohin denn die ekstatischen Momente<br />

unseres christlichen Glaubens entschwunden<br />

sind. Als Protestanten haben wir es dabei sicher noch<br />

etwas schwerer als die Katholiken mit ihren sinnenfreudigen<br />

Riten und Bräuchen.<br />

Biblisch ist diese protestantische Nüchternheit sicher<br />

nicht. Ich denke an die Ekstasen des jungen David, der<br />

vor der Bundeslade tanzte. Mir fällt die Geschichte der<br />

Hochzeit zu Kana <strong>ein</strong>. Da sorgt Jesus dafür, dass der<br />

glanzvolle Rausch der Hochzeitsfeier nicht dadurch beendet<br />

wird, dass plötzlich der W<strong>ein</strong> alle ist. Er bringt mit<br />

viel Verständnis für die Feiernden den W<strong>ein</strong> wieder zum<br />

Fließen.<br />

Ich finde, <strong>ein</strong> bisschen mehr Ekstase tut unserem<br />

Glauben gut. Denn, so dichtete Hanns Dieter Hüsch <strong>ein</strong>mal:<br />

„Ich bin vergnügt, erlöst, befreit, / Gott nahm in<br />

s<strong>ein</strong>e Hände m<strong>ein</strong>e Zeit, / m<strong>ein</strong> Fühlen, Denken, Hören,<br />

Sagen, / m<strong>ein</strong> Triumphieren und Verzagen, / das Elend<br />

und die Zärtlichkeit. / Es kommt <strong>ein</strong> Geist in m<strong>ein</strong>en<br />

Sinn / will mich durchs Leben tragen.“<br />

Genau darum geht es beim Glauben: herauszukommen<br />

aus den alten Gewohnheiten. Und das zu s<strong>ein</strong>, was<br />

man nach Gottes Willen längst ist – <strong>ein</strong> ganz anderer.<br />

20


da Er<br />

ist<br />

Martin Buber, der große jüdische Religionsphilosoph,<br />

hat die folgende wunderbare Begebenheit erzählt.<br />

Mich fasziniert, wie viel in dieser Geschichte auf knappstem<br />

Raum über Gott gesagt wird.<br />

Der Meister, so erzählt Buber, spricht <strong>ein</strong>en Schüler,<br />

der eben bei ihm <strong>ein</strong>tritt, so an: „Mosche, was ist das,<br />

‚Gott‘?“ Der Schüler schweigt. Der Meister fragt ihn zum<br />

zweiten und zum dritten Mal: „Warum schweigst du?“<br />

„Weil ich es nicht weiß“, antwortet der Schüler. „Weiß<br />

ich’s denn?“, spricht da der Rebbe. „Aber ich muss sagen,<br />

denn so ist es, dass ich es sagen muss: Er ist deutlich da,<br />

und außer Ihm ist nichts deutlich da, und das ist Er.“<br />

Am Anfang des Gesprächs steht noch das Verstummen<br />

vor der Frage, was das denn überhaupt ist – Gott.<br />

Dann aber bricht der Meister das Schweigen. Er kann<br />

nicht anders: Angesichts der Fülle, der Größe, der Weite<br />

und Tiefe der Welt muss er von Gott reden.<br />

Aus der armen Welt des osteuropäischen jüdischen<br />

Schtetls stammt diese Geschichte. Dort lebte man <strong>ein</strong>-<br />

21


gekreist von F<strong>ein</strong>den und war immer wieder Pogromen<br />

ausgeliefert. Aber gerade hier blühte <strong>ein</strong>e Glaubenszuversicht<br />

und Gottesgewissheit, die sich weigerte, zu verzagen<br />

oder sich der Resignation auszuliefern.<br />

„Seht ihr denn nicht? Hört ihr denn nicht? Begreift<br />

ihr denn nicht?“, lautet die Frage, die die Geschichte den<br />

Zuhörenden stellt: Größer als alles, was euch den Mut<br />

nehmen will, ist das, was euch immer wieder neuen Mut<br />

schenkt. Deutlicher als die F<strong>ein</strong>dseligkeit, die euch Tag<br />

für Tag auf den Straßen und Gassen entgegenschlägt, ist<br />

die Seligkeit, dass Gott gegenwärtig ist.<br />

Mich erinnert diese Geschichte an <strong>ein</strong>en anderen<br />

Meister der Mystik aus <strong>ein</strong>er ganz anderen Gegend. Es<br />

ist der reformierte Laienprediger Gerhard Tersteegen, der<br />

im 18. Jahrhundert am Niederrh<strong>ein</strong> lebte. Er war aus s<strong>ein</strong>em<br />

Beruf ausgestiegen und überzeugt, dass Gott das<br />

Allergegenwärtigste sei. Gott ist in der Mitte, heißt es in<br />

<strong>ein</strong>em s<strong>ein</strong>er Lieder. Tersteegen vergleicht darin Gott mit<br />

der Luft, die wir atmen. Mit dem Licht, das uns jeden<br />

Morgen neu weckt. Mit dem Meer, dessen Grund und<br />

Tiefe ohne Ende ist.<br />

Der Rebbe und der Prediger – zwei, die sich nie begegnet<br />

sind. Und die doch in der unglaublichen Gewissheit<br />

mit<strong>ein</strong>ander verbunden waren, dass Gott nicht fern<br />

ist. Und alles darauf ankommt zu entdecken, wie nah er<br />

ist.<br />

22


Die Entdeckung<br />

Horizontes<br />

des<br />

Irgendwie bewundere ich sie. Die junge Frau aus<br />

Deutschland, die auf <strong>ein</strong>er Hochebene in den Schweizer<br />

Bergen, 2.300 Meter über dem Meer, die Schafe hütet.<br />

Von Mai bis Oktober. All<strong>ein</strong> mit 350 Schafen und vier<br />

Hütehunden, die ihre <strong>ein</strong>zige Gesellschaft sind. Jedes<br />

Jahr, auch in diesem Jahr, wartet sie schon wieder auf<br />

den Frühling.<br />

Sie ist 33 Jahre alt. Hat sich diesen Job freiwillig ausgesucht.<br />

Als Aussteigerin versteht sie sich nicht. Aber<br />

sie will das Leben in der Zivilisation hinter sich lassen:<br />

Finanzkrise, Zeitdruck, Luxus. Beschränkung auf das<br />

Wesentliche, darauf kommt es ihr an. Ihre Hütte ist <strong>ein</strong><br />

Raum mit Bett, Schrank, Tisch, Bank und Ofen.<br />

„Hier oben ist man frei“, sagt sie. „Ich kann alles selbst<br />

entscheiden.“ Freiheit, das heißt für sie aber auch: Selbstdisziplin.<br />

Bei Wind und Wetter rausgehen, wenn die<br />

Schafe es brauchen. Sich anpassen an den Rhythmus der<br />

Natur. Hin und wieder auch der Versuchung der Langeweile<br />

widerstehen. Die Menschen im Dorf wundern sich,<br />

warum die junge Deutsche das macht. Aber sie sagen,<br />

sie sei die beste Schafhirtin, die sie seit langem hatten.<br />

23


Die Geschichte dieser jungen Frau fand ich in <strong>ein</strong>er<br />

Sonntagszeitung. Ich habe sie mitgenommen, als ich<br />

kürzlich zu <strong>ein</strong>er Diskussion mit <strong>ein</strong>er Gruppe von Schülern<br />

<strong>ein</strong>geladen war. Unser Thema hieß: Verzicht als Bestandteil<br />

von Lebenskunst.<br />

Könnt ihr euch vorstellen, frage ich die jungen Leute,<br />

so zu leben? Ein Drittel meldet sich. Weitere sympathisieren<br />

mit der Frau. Klar, sagen sie, man muss dann schon<br />

auf <strong>ein</strong>iges verzichten. Aber man würde deutlich mehr<br />

gewinnen. Weg von der Reizüberflutung. Konzentration<br />

auf das Wesentliche. Das Gefühl für die Natur. Zeit in<br />

Fülle.<br />

Situationen, in denen sich das Leben auf weniges beschränkt,<br />

in denen Kargheit herrscht und Knappheit,<br />

hatten für Menschen immer schon <strong>ein</strong>e besondere Anziehungskraft.<br />

Wüstenorte im realen und übertragenen<br />

Sinn. Jesus fällt mir <strong>ein</strong>, der in die Wüste geht und fastet,<br />

bevor er <strong>ein</strong> Leben in der Öffentlichkeit beginnt. Und<br />

auch später kehrt er immer wieder in die Abgeschiedenheit<br />

zurück. Dort findet er die Kraft und die Konzentration,<br />

die er im Alltag braucht.<br />

Auch heute ziehen sich Menschen zurück. In Klöster,<br />

auf Zeit. Gehen los als Pilger oder Wanderer in unbekanntes<br />

Terrain. Oder bauen ganz bewusst Pausen und Auszeiten<br />

in ihr Leben <strong>ein</strong>. So lässt sich ausprobieren, was<br />

man auf s<strong>ein</strong>er Lebensreise wirklich braucht. Und wo<br />

man nur Ballast mitschleppt, der letztlich verzichtbar ist.<br />

Es ist gut, wenn ich spüre, die Dinge haben mich<br />

nicht im Griff. Ich bin nicht Opfer m<strong>ein</strong>es vollen Termin-<br />

24


kalenders oder m<strong>ein</strong>er Bedürfnisse nach Bequemlichkeit.<br />

Ich werde nicht gelebt, sondern führe <strong>ein</strong> Leben in<br />

eigener Verantwortung. Deswegen lasse ich mich gerne<br />

auf Zeiten <strong>ein</strong>, in denen ich das üben kann. In denen ich<br />

mal <strong>ein</strong>en Schritt zur Seite gehe, raus aus der Spur der<br />

Gewohnheit und der alltäglichen Routine. Ich lasse die<br />

Angst, zu kurz zu kommen oder etwas zu verpassen,<br />

zurück. Und freue mich an der Fülle dessen, was ich in<br />

m<strong>ein</strong>em Leben erfahren habe. Und was m<strong>ein</strong>e Gegenwart<br />

erfüllt.<br />

Dann spüre ich: Je weniger sich m<strong>ein</strong>e Hände um das<br />

schließen, von dem ich m<strong>ein</strong>e, ich müsse es festhalten,<br />

desto größer wird m<strong>ein</strong>e Freiheit. Manche Dinge lassen<br />

zu können, schenkt mir Gelassenheit. Und m<strong>ein</strong> Blick<br />

öffnet sich für das unbegangene Land, das sich vor mir<br />

ausstreckt. So weit, dass ich den Horizont wieder sehen<br />

kann.<br />

25


Quelle<br />

Miss ver -<br />

aller<br />

ständnisse<br />

„Die Sprache ist die Quelle aller Missverständnisse“,<br />

sagt der kl<strong>ein</strong>e Prinz im Buch des französischen Autors<br />

Saint-Exupéry. Wie, denke ich, Sprache sollte doch<br />

eigentlich Mittel der Verständigung s<strong>ein</strong>? Aber m<strong>ein</strong>e<br />

Erfahrung zeigt mir, Sprache ist <strong>ein</strong> unvollkommenes<br />

Werkzeug. Immer wieder erlebe ich das. Bei Diskussionen<br />

fliegen sehr schnell die Fetzen. Bis man sich irgendwann<br />

fragt: Reden wir überhaupt über dieselbe Sache?<br />

N<strong>ein</strong>, tun wir meist nicht! Nehmen wir die Frage:<br />

Was ist Wahrheit? Der Polizist, der <strong>ein</strong>en Unfall aufnimmt,<br />

versteht unter Wahrheit etwas völlig anderes als<br />

der Arzt am Krankenbett, der mit <strong>ein</strong>em Patienten über<br />

s<strong>ein</strong>e Diagnose spricht. Der Naturwissenschaftler denkt<br />

bei Wahrheit an das überprüfbare Ergebnis s<strong>ein</strong>es Experiments.<br />

Und der Pfarrer an den Satz Jesu: „Ich bin der<br />

Weg, die Wahrheit und das Leben.“<br />

Damit die Sprache nicht die Quelle aller Missverständnisse<br />

bleibt, müssen wir uns also zusammensetzen<br />

und klären: Was m<strong>ein</strong>st du, wenn du sagst, was du sagst?<br />

26


Mit welchen Erfahrungen, guten und schlechten, sind<br />

die Worte, die du gebrauchst, gefüllt? Dann kann es im<br />

besten Fall passieren, dass m<strong>ein</strong> Gegenüber irgendwann<br />

sagt: „Ja, jetzt verstehe ich dich!“<br />

So ähnlich stelle ich mir das Wunder von Pfingsten<br />

vor, damals in Jerusalem. Da kamen Menschen zusammen<br />

aus völlig unterschiedlichen Sprachwelten. Und<br />

doch geschah es, dass sich alle plötzlich verstanden.<br />

Eigentlich kaum zu glauben! Die Bibel spricht in solchen<br />

Fällen vom Wirken des Heiligen Geistes. Der fährt wie<br />

<strong>ein</strong> Sturm hin<strong>ein</strong> in die menschliche Sprachverwirrung.<br />

Und bläst, was an Sprach- und Denkbarrieren im Raum<br />

steht, weg wie dicke Luft.<br />

Plötzlich schauen sich alle verwundert an. Aha, sagen<br />

sie ungläubig, eben haben wir noch wild durch<strong>ein</strong>andergeredet.<br />

Und plötzlich verstehen wir uns. Ist das nicht<br />

<strong>ein</strong> Wunder?<br />

Damals in Jerusalem wusste zunächst niemand, wie<br />

es weitergehen sollte mit der Geschichte Jesu. Man spürte<br />

nur, es lag etwas in der Luft. Eine gespannte Aufmerksamkeit.<br />

Eine gem<strong>ein</strong>same Neugier, die wie <strong>ein</strong> aufgespanntes<br />

Segel wirkte. In das dann der Wind des Heiligen<br />

Geistes hin<strong>ein</strong>fahren konnte. Und bald hieß es für<br />

die Gem<strong>ein</strong>de: Volle Fahrt voraus!<br />

Was ich daraus lerne? Aufmerksamkeit für<strong>ein</strong>ander,<br />

Neugier, Anteilnahme an<strong>ein</strong>ander sind die Voraussetzungen.<br />

Dann schafft Sprache gegenseitiges Verstehen.<br />

Und kann Wunder wirken!<br />

27


Ein exponentieller<br />

Spaziergang<br />

„Die größte Schwäche der Menschheit ist ihre Unfähigkeit,<br />

die Exponentialfunktion zu verstehen.“ Der<br />

Satz stammt von dem amerikanischen Physiker Al Bartlett.<br />

Dass es dabei um viel mehr geht als um das Begreifen<br />

<strong>ein</strong>er mathematischen Formel, habe ich in den letzten<br />

Jahren verstanden. Denn in der Pandemie mussten<br />

wir lernen, wie rasend schnell, eben exponentiell, sich<br />

<strong>ein</strong> Virus über den ganzen Planeten ausbreiten kann.<br />

Und zugleich, wie sehr das exponentielle Wachstum<br />

unser Vorstellungsvermögen überschreitet.<br />

An folgendem Beispiel ist mir das klargeworden. Ich<br />

stelle mir vor: Ein Mensch geht dreißig Schritte. Dabei<br />

legt er, sagen wir, dreißig Meter zurück. Eine zweite Person<br />

geht dreißig exponentielle Schritte. Dabei ist jeder<br />

Schritt doppelt so lang wie der vorangegangene.<br />

Und jetzt die spannende Frage: Wie weit kommt er,<br />

nachdem er dreißig solcher Schritte zurückgelegt hat?<br />

Die richtige Antwort ist erst <strong>ein</strong>mal kaum zu glauben:<br />

28


Die zweite Person hat nach dreißig Schritten den Erdball<br />

fast dreißig Mal umrundet.<br />

Was ich an diesem Beispiel auch begriffen habe: Bloß,<br />

weil etwas unvorstellbar ist, ist es nicht unmöglich. Wir<br />

erleben gerade, wie uns eben noch Unvorstellbares plötzlich<br />

möglich ersch<strong>ein</strong>t. Eine Revolution in der medizinischen<br />

Forschung. Aber auch <strong>ein</strong> Krieg in Europa. Oder<br />

<strong>ein</strong>e Begegnung, die <strong>ein</strong> ganzes Leben verändern kann.<br />

In gewisser Weise hat es auch der christliche Glaube<br />

mit dem Unvorstellbaren zu tun. So wird Jesus <strong>ein</strong>mal<br />

gefragt: „Wer bist du? Woran kann man erkennen, dass<br />

du der Messias, der Erlöser bist?“ Und Jesus antwortet:<br />

„Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden r<strong>ein</strong><br />

und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird die<br />

gute Nachricht verkündigt.“<br />

Alles unvorstellbar! Nach menschlichem Ermessen<br />

jedenfalls. Aber mit Jesus bricht <strong>ein</strong>e Dynamik in die<br />

Realität <strong>ein</strong>, die Menschen verändert, in Bewegung setzt<br />

und heil macht. Eine Kraft, die größer ist als alles, was<br />

ich jemals für möglich gehalten hätte.<br />

Die Exponentialrechnung kann mir <strong>ein</strong>e Ahnung davon<br />

geben, dass die Welt nicht an den Grenzen m<strong>ein</strong>es<br />

Vorstellungsvermögens zu Ende ist. Es gibt etwas, das<br />

m<strong>ein</strong>en Horizont weit übersteigt. Auch der Glaube rechnet<br />

mit dem, was unvorstellbar größer, kraftvoller und<br />

hoffnungsvoller ist, als ich es bin. Darauf möchte ich<br />

auch in Zukunft setzen.<br />

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wer?<br />

Ist da<br />

„Ist da wer?“ Die Frage auf der Titelseite <strong>ein</strong>es bekannten<br />

Magazins hat mich förmlich angesprungen.<br />

Farbig unterlegt mit <strong>ein</strong>em <strong>Himmel</strong> voller Wolken als<br />

Hintergrund.<br />

Ist da wer? Zu allen Zeiten haben sich Menschen darüber<br />

Gedanken gemacht, ob es Gott gibt. Die <strong>ein</strong>en sagen:<br />

„Alles Fantasie, menschliche Einbildung.“ Die anderen<br />

glauben: „N<strong>ein</strong>, da ist <strong>ein</strong>e unsichtbare Wirklichkeit,<br />

die mich berührt. Etwas, das größer ist als ich selbst.“<br />

Auch ich finde diese Frage spannend: Ist da wer?<br />

Denn auch m<strong>ein</strong> eigener Glaube will sich immer wieder<br />

neu vergewissern.<br />

Mir ist klar, dass menschliches Erkenntnisvermögen<br />

nicht ausreicht, um auf diese Frage <strong>ein</strong>e befriedigende<br />

Antwort zu geben. Versuche ich es dennoch, gerate ich<br />

schnell ins Spekulieren. Gott wäre dann – neben allem,<br />

was es gibt – etwas, das es zusätzlich auch noch gibt. Ein<br />

Gegenstand unter anderen Gegenständen, <strong>ein</strong> Gedanke<br />

unter anderen. Mit anderen Worten: <strong>ein</strong> Spekulationsobjekt.<br />

30


So kann es also nicht gehen. Wie es die Bibel macht,<br />

hilft mir hingegen weiter. In der Bibel ist Gott nicht <strong>ein</strong><br />

Etwas unter anderen. Sondern der Grund dafür, dass es<br />

überhaupt etwas gibt: das Vorzeichen vor der Klammer<br />

von allem, was ist. Er ist Grund und Ursache dafür, dass<br />

nicht <strong>ein</strong>fach Nichts ist. Sondern dass mich <strong>ein</strong>e vielfältige<br />

und bunte Welt voller Beziehungen, Bewegungen<br />

und Spannungen umgibt. Ein Kosmos, in dem ich leben<br />

und lieben, arbeiten und ausruhen darf. Und wo mir in<br />

besonderen Momenten bewusst wird, wie wenig selbstverständlich<br />

und wie wunderbar das alles ist.<br />

Die Frage „Ist da wer?“ ist also für mich nicht durch<br />

menschliche Vorstellungen zu beantworten. N<strong>ein</strong>, Gott<br />

beantwortet sie, in dem er sich selbst vorstellt. In den<br />

großen und kl<strong>ein</strong>en Details <strong>ein</strong>er Lebensgeschichte. Dort,<br />

wo ich glücklich bin und voller Lebensfreude. Aber auch<br />

dort, wo ich scheitere und an m<strong>ein</strong>e Grenzen stoße.<br />

Die Hirten in der Weihnachtsgeschichte hätten an<br />

dieser Stelle von den Engeln gesprochen, die ihnen den<br />

Weg zeigten. Die drei Weisen aus dem Morgenland vom<br />

Stern, der ihnen vorausgeht. Für mich sind es Worte, die<br />

mir Mut machen. Zeichen der Zuwendung und Sympathie,<br />

die mir neuen Schwung geben und langen Atem.<br />

Vielleicht kennen Sie auch solche Erfahrungen und<br />

Erlebnisse? Wo Ihnen etwas Größeres, Tröstliches und<br />

Segensreiches begegnet ist? Und wo die Frage „Ist da<br />

wer?“ <strong>ein</strong>e klare Antwort bekommen hat.<br />

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Bibliografische Information der Deutschen National -<br />

bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek ver -<br />

zeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im<br />

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

© 2023 by edition chrismon in der Evangelischen<br />

Verlags anstalt GmbH · Leipzig<br />

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geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen<br />

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Ver vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und<br />

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Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier<br />

gedruckt.<br />

Covergestaltung: Ellina Hartlaub, GEP gGmbH,<br />

Frankfurt am Main<br />

Innengestaltung Friederike Arndt, Formenorm, Leipzig<br />

Druck und Bindung: BELTZ Grafische Betriebe GmbH<br />

ISBN 978-3-96038-344-4<br />

eISBN (E-Pub) 978-3-96038-345-1<br />

www.eva-leipzig.de

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