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Benedikt Hensel | Christian Wetz (Hrsg.): Migration und Theologie (Leseprobe)

Im Kontext wissenschaftlich reflektierter Theologie sind Migration sowie die zugehörigen Themenfelder Flucht und Vertreibung im gesamten Fächerkanon zu einem breit diskutierten und hochaktuellen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden. Ein Desiderat ist allerdings die konsequente Reflexion des Themas in der Theologie des Alten wie auch des Neuen Testaments. Die unterschiedlichen theologischen Prägungen der Bücher und Sammlungen der Bibel lassen das Thema Migration in je anderen, aber zentralen Akzentuierungen zum Vorschein kommen. Der innovative Band schließt diese Lücke, indem die Einzelbeiträge thematisch breit aufgestellt die Geltungsansprüche alt- und neutestamentlicher Migrationsthematik im Okular ihres komplexen Verhältnisses von Historie, Theologie und literarischer Genese der Traditionskomplexe betrachten und hermeneutisch reflektieren.

Im Kontext wissenschaftlich reflektierter Theologie sind Migration sowie die zugehörigen Themenfelder Flucht und Vertreibung im gesamten Fächerkanon zu einem breit diskutierten und hochaktuellen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden. Ein Desiderat ist allerdings die konsequente Reflexion des Themas in der Theologie des Alten wie auch des Neuen Testaments. Die unterschiedlichen theologischen Prägungen der Bücher und Sammlungen der Bibel lassen das Thema Migration in je anderen, aber zentralen Akzentuierungen zum Vorschein kommen. Der innovative Band schließt diese Lücke, indem die Einzelbeiträge thematisch breit aufgestellt die Geltungsansprüche alt- und neutestamentlicher Migrationsthematik im Okular ihres komplexen Verhältnisses von Historie, Theologie und literarischer Genese der Traditionskomplexe betrachten und hermeneutisch reflektieren.

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<strong>Benedikt</strong> <strong>Hensel</strong> | <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> <strong>Theologie</strong><br />

Historische Reflexionen, theologische<br />

Gr<strong>und</strong>elemente <strong>und</strong> hermeneutische<br />

Perspektiven aus der alt- <strong>und</strong> neutestamentlichen<br />

Wissenschaft<br />

Arbeiten zur Bibel <strong>und</strong> ihrer Geschichte


Vorwort<br />

Im Kontext wissenschaftlich reflektierter <strong>Theologie</strong> sind <strong>Migration</strong> sowie die zugehörigen<br />

Themenfelder Flucht <strong>und</strong> Vertreibung im gesamten Fächerkanon zu<br />

einem breit diskutierten <strong>und</strong> hochaktuellen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung<br />

geworden. Die Idee zu diesem Band entstand erst einmal ganz gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

durch diverse Anfragen an den Alttestamentler der beiden Herausgeber,<br />

die aus diversen kirchlichen, kirchenleitenden <strong>und</strong> Erwachsenenbildungskontexte<br />

der Evangelischen Akademiearbeit an ihn herangetragen wurden, eine biblische<br />

F<strong>und</strong>ierung der wichtigen <strong>Migration</strong>s- <strong>und</strong> Fluchtthematik zu entwickeln<br />

<strong>und</strong> vorzustellen. Im Zuge der Beschäftigung mit der Thematik realisierte er sehr<br />

schnell, wie reichhaltig einerseits die Thematik aus alttestamentlicher Sicht in<br />

seiner Tiefendimension zu bearbeiten ist, <strong>und</strong> wie andererseits geradezu<br />

»stiefmütterlich« das Thema in seiner historischen, theologischen <strong>und</strong> hermeneutischen<br />

Tiefenschärfe bisher bearbeitet worden ist. Der Themenkomplex<br />

hat sich dabei als zentraler Baustein alttestamentlicher <strong>Theologie</strong> ebenso wie<br />

auch einer Religions-, Kultur- <strong>und</strong> Literaturgeschichte Israels <strong>und</strong> Judas <strong>und</strong> des<br />

frühen Judentums. Der Alttestamentler ist dankbar, dass sein neutestamentlicher<br />

Kollege Dr. <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong> (Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg) sich<br />

ohne Zögern dazu bereit erklärt hat, gemeinsam einen gr<strong>und</strong>legenden, thematisch<br />

breit aufgefächerten <strong>und</strong> auf Vollständigkeit der zu diskutierenden Aspekte<br />

zielenden Band zu entwickeln <strong>und</strong> zu veröffentlichen, der das Thema ausgehend<br />

vom Alten Testament auch für das Neue Testament erk<strong>und</strong>et.<br />

Sehr deutlich ist: Die unterschiedlichen theologischen Prägungen der Bücher<br />

<strong>und</strong> Sammlungen der Bibel lassen das Thema <strong>Migration</strong> in je anderen, aber<br />

zentralen Akzentuierungen zum Vorschein kommen. Der nun vorliegende Band<br />

schließt diese Lücke, indem die Einzelbeiträge thematisch breit aufgestellt die<br />

Geltungsansprüche alt- <strong>und</strong> neutestamentlicher <strong>Migration</strong>sthematik im Okular<br />

ihres komplexen Verhältnisses von Historie, <strong>Theologie</strong> <strong>und</strong> literarischer Genese<br />

der Traditionskomplexe betrachtet <strong>und</strong> hermeneutisch reflektieren.<br />

Unser Dank gilt zuerst allen Beiträgerinnen <strong>und</strong> Beiträgern. Für die Bearbeitung<br />

des Manuskripts sowie die Erstellung der Register gilt unser Dank unseren<br />

studentischen Hilfskräften am Oldenburger Alttestamentlichen Lehrstuhl:


6<br />

Vorwort<br />

Maite Benn, Sophie Dierks, Julia Klose, Maryam Matta <strong>und</strong> Miriam Ostermann<br />

sowie der studentischen Hilfskraft am Neutestamentlichen Lehrstuhl Alica Johanna<br />

Saathoff. Sodann gilt unser Dank Mirjam Becker (Textwache Leipzig) für<br />

die zuverlässige Schlussredaktion des Bandes.<br />

Dem Verlag, namentlich Herrn Tilman Meckel, danken wir für die konstruktive<br />

Zusammenarbeit. Nicht zuletzt gilt unser Dank den Fachherausgeberinnen<br />

<strong>und</strong> -herausgebern der Reihe »Arbeiten zur Bibel <strong>und</strong> ihrer Geschichte« für die<br />

fre<strong>und</strong>liche Aufnahme des Bandes in ihre renommierte Reihe, namentlich Beate<br />

Ego, Christof Landmesser, Susanne Luther <strong>und</strong> Andreas Schüle.<br />

Oldenburg, am Sonntag Judika 2023<br />

<strong>Benedikt</strong> <strong>Hensel</strong> <strong>und</strong> <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong>


Inhalt<br />

<strong>Benedikt</strong> <strong>Hensel</strong> <strong>und</strong> <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong><br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> <strong>Theologie</strong><br />

Gr<strong>und</strong>legende Orientierungen, historische Einordnungen <strong>und</strong><br />

theologische Gr<strong>und</strong>linien ........................................................................................ 11<br />

Teil 1<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Identität: Historische Erfahrungshorizonte <strong>und</strong><br />

ihre literatur- <strong>und</strong> theologiegeschichtlichen Reflexionen<br />

Michaela Bauks<br />

Der entwurzelte Mensch<br />

<strong>Migration</strong> als Thema der Urgeschichte ................................................................ 33<br />

<strong>Benedikt</strong> J. Collinet<br />

»Der Hunger lastete schwer auf dem Land« (Gen 43,1)<br />

Hunger als Push-Faktor für <strong>Migration</strong>sbewegungen <strong>und</strong> seine<br />

ambivalente Deutung in der Bibel ......................................................................... 45<br />

Michael Pietsch<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Dislokation in den Königebüchern<br />

Eine literarische <strong>und</strong> historische Spurensuche .................................................. 61<br />

Melanie Köhlmoos<br />

Wo liegt das »Feld Moabs«?<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Genealogie in Rut <strong>und</strong> 1 Chronik ............................................. 115<br />

Helge Bezold<br />

Fremde Heimat<br />

Narrative Reflexionen über <strong>Migration</strong>, Diaspora <strong>und</strong> den Umgang mit<br />

Fremden in den Büchern Rut, Tobit <strong>und</strong> Ester ................................................. 135<br />

Martin Meiser<br />

Der Auszug Abrahams --- Vertreibung, Flucht, <strong>Migration</strong>?<br />

Gen 12,1 in der Rezeption in außerbiblischen Schriften des frühen<br />

Judentums <strong>und</strong> des frühen Christentums .......................................................... 159


8<br />

Inhalt<br />

Johannes Woyke<br />

Galut <strong>und</strong> Diaspora, Kain <strong>und</strong> Ahasver<br />

Historische <strong>und</strong> theologische Einordnung eines christlich-antijüdischen<br />

<strong>Migration</strong>snarrativs ............................................................................................... 179<br />

Teil 2<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> die »Fremden«: <strong>Migration</strong> im Kontext von<br />

rechtstheologischen, sozialethischen <strong>und</strong> sozialgeschichtlichen<br />

Entwürfen<br />

Rainer Kessler<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Fremdsein in doppelter Perspektive<br />

Eine phänomenologische, sozialgeschichtliche <strong>und</strong> sozialethische<br />

Spurensuche ............................................................................................................ 219<br />

Matthias Hopf<br />

Fremd-Sein im Heiligkeitsgesetz ...................................................................... 249<br />

Reinhard Achenbach<br />

Mose der Migrant .................................................................................................. 267<br />

Nils Neumann<br />

Der wandernde Jesus in den synoptischen Evangelien<br />

Gruppenidentität <strong>und</strong> Begegnungen mit Fremden bei Markus, Matthäus<br />

<strong>und</strong> Lukas ................................................................................................................ 291<br />

Teil 3<br />

<strong>Migration</strong> als konstitutives Element in Gottesbildern <strong>und</strong><br />

Christusimaginationen<br />

Thomas Naumann<br />

Mit Gott unterwegs<br />

Lokale Jhwh-Manifestationen <strong>und</strong> die Vorstellung vom mitgehenden<br />

Gott in biblischen <strong>Migration</strong>snarrativen ............................................................ 317<br />

<strong>Benedikt</strong> <strong>Hensel</strong><br />

Selbstprädikation JHWHs <strong>und</strong> Herausführungsformel in der<br />

Dekalogeröffnung Ex 20,2---6/Dtn 5,6---10 ....................................................... 337


Teil 4<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Heimat: Gegenkonzepte <strong>und</strong> Hoffnungsbilder<br />

Inhalt 9<br />

<strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong><br />

Migratorische <strong>Theologie</strong> bei Paulus?<br />

Eine ekklesiologische Spurensuche .................................................................... 385<br />

Jürgen van Oorschot <strong>und</strong> Lars Allolio-Näcke<br />

Beheimatung <strong>und</strong> <strong>Migration</strong><br />

Alttestamentlich-anthropologische Erk<strong>und</strong>ungen zu einem<br />

Spannungsfeld ........................................................................................................ 401<br />

Martin Leuenberger<br />

Jhwhs Rückkehr <strong>und</strong> die neuen Kinder Zions<br />

Heimkehrtheologien in Jes 40---55 ....................................................................... 425<br />

Michael Labahn<br />

»Heimat ist …« der seinem Volk bereitete Ruheort bei Gott<br />

Die durch Christus eröffnete <strong>Migration</strong> des Gottesvolks (Hebr 3,7---4,13)<br />

aus der römischen Alltagswelt in seine »Heimat« bei Gott ............................ 447<br />

Ursula Ulrike Kaiser<br />

»Ich bin ein Gast auf Erden«. Irdische Heimatlosigkeit <strong>und</strong><br />

himmlische Bleibe in neutestamentlichen Texten ....................................... 471<br />

Pieter B. Hartog<br />

Ioudaioi and Migrant Apostles in the Book of Acts ...................................... 487<br />

Stellenregister (in Auswahl) ................................................................................. 503<br />

Verzeichnis der Autorinnen <strong>und</strong> Autoren ......................................................... 511


<strong>Benedikt</strong> <strong>Hensel</strong> <strong>und</strong> <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong><br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> <strong>Theologie</strong><br />

Gr<strong>und</strong>legende Orientierungen, historische Einordnungen<br />

<strong>und</strong> theologische Gr<strong>und</strong>linien<br />

1. Plädoyer für einen theologischen <strong>und</strong><br />

theologiegeschichtlichen Zugang zum Thema<br />

<strong>Migration</strong><br />

<strong>Migration</strong> sowie die zugehörigen Themenfelder Flucht <strong>und</strong> Vertreibung sind<br />

spätestens seit dem Jahr 2015 Themen, die die politische <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Agenda nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas bestimmen. Auch die<br />

<strong>Theologie</strong> hat es sich seither vertiefend zur Aufgabe gegeben, ihren spezifischen<br />

Debattenbeitrag zum Thema zu leisten --- nicht zuletzt als Gr<strong>und</strong>lage für kirchliches<br />

Reden <strong>und</strong> Handeln, so dass sich inzwischen eine vertiefende Durchdringung<br />

des Themenfeldes insbesondere in der Systematischen <strong>Theologie</strong>, namentlich<br />

der Sozialethik, 1<br />

sowie der migrationssensiblen <strong>und</strong> interkulturellen Religionspädagogik<br />

2 , aber auch der Kybernetik 3 eingestellt hat.<br />

Ein Desiderat ist allerdings die konsequente Reflexion des Themas in der<br />

<strong>Theologie</strong> des Alten wie auch des Neuen Testaments. Die unterschiedlichen theologischen<br />

Prägungen der Bücher <strong>und</strong> Sammlungen der Bibel lassen das Thema<br />

<strong>Migration</strong> in je anderen, aber doch zentralen Akzentuierungen zum Vorschein<br />

kommen. Bisher wurde die biblische Dimension der <strong>Migration</strong>sthematik in der<br />

<strong>Theologie</strong> zwar ganz allgemein zu Recht betont, allerdings tauchen historische<br />

wie theologische Exegese der Bibel, insbesondere des Alten Testaments, hier<br />

meist nur insofern auf, als dass sie bestimmte ethische Begründungsfiguren<br />

über Verweise auf biblische Gebote, ethische Normen <strong>und</strong>/oder einschlägige<br />

biblische Motive (z.B. Schutz von <strong>und</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft gegenüber Fremden) liefern<br />

sollen oder als dass sie paradigmatische Arbeit an ausgesuchten Figuren<br />

<strong>und</strong> Erzählungen leisten mögen (Abraham als Figur des Aufbruchs; Israel als<br />

1<br />

Beyers, <strong>Migration</strong>, 198---209; <strong>und</strong> von Scheliha, <strong>Migration</strong>, 78---98.<br />

2<br />

S. insbesondere Behr/van der Velden (<strong>Hrsg</strong>.), Religion; Haen/Käbisch/Simojoki/Zimmermann<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Migration</strong>; Kumlehn, Perspektivenwechsel, 48---58.<br />

3<br />

Burkhardt, Aspekte einer migrationssensiblen Kirchentheorie, 235---242.


12<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> <strong>Theologie</strong><br />

wanderndes Gottesvolk; Jesus <strong>und</strong> seine Jünger in konstanter missionarischer<br />

Bewegung).<br />

Der vorliegende Band möchte diese Lücke schließen <strong>und</strong> die theologische<br />

<strong>und</strong> auch die theologiegeschichtliche Dimension der <strong>Migration</strong>sthematik in ihren<br />

Tiefendimensionen eruieren: Es bedarf aus unserer Sicht einer konsequent<br />

biblisch-theologischen Aufbereitung des Themas <strong>Migration</strong>, die nicht an Einzelfiguren<br />

<strong>und</strong> -episoden hängenbleibt, sondern die Breite biblisch-theologischer wie<br />

historischer Forschung in den Blick nimmt.<br />

In diesem Sinne ist die <strong>Theologie</strong>geschichte, also die Wahrnehmungsbereitschaft<br />

<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>erkenntnis, dass bestimmte theologische Positionen in unterschiedlichen<br />

Traditionen, die später Teil der Hebräischen Bibel bzw. des Alten<br />

<strong>und</strong> Teil des Neuen Testaments werden, selbst eine Geschichte haben <strong>und</strong> gewissen<br />

Positionswandlungen <strong>und</strong> -erweiterungen unterliegen.<br />

Mit dieser Zielstellung ist auch schon der methodologische Horizont, der<br />

dem Bandkonzept wie auch seinen Einzelbeiträgen zugr<strong>und</strong>e liegt, angesprochen,<br />

<strong>und</strong> es sei hier nochmals eigens betont: Es versteht sich von selbst, dass<br />

wissenschaftliche Exegese nicht ohne weiteres <strong>und</strong> unvermittelt in ein Gespräch<br />

mit den aus den gegenwärtigen Herausforderungen abgeleiteten Fragen <strong>und</strong><br />

Disziplinen treten kann. Für die theologisch fragende Exegese ist es unabdingbar,<br />

Geltungsansprüche biblischer <strong>Migration</strong>sthematik mit dem Okular ihrer<br />

Entstehungsprozesse zu betrachten <strong>und</strong> diese hermeneutisch zu reflektieren.<br />

Denn die biblisch sehr präsente <strong>Migration</strong>sthematik offenbart bei genauerem<br />

Hinsehen ein komplexes Verhältnis von Historie, <strong>Theologie</strong>, literarischer Genese<br />

der Traditionskomplexe sowie ihrer kanontheologischen Akzentuierung. Eben<br />

diese Komplexität gilt es, im vorliegenden Band zu entschlüsseln <strong>und</strong> aus<br />

unterschiedlichen Blickwinkeln von Spezialistinnen <strong>und</strong> Spezialisten der Alt<strong>und</strong><br />

Neutestamentlichen Wissenschaft betrachten zu lassen. Dabei führt das<br />

Phänomen <strong>Migration</strong> notwendig zur ethischen Frage nach dem Umgang mit Alterität,<br />

mit dem Anderen <strong>und</strong> dem Fremden. Migrierende <strong>und</strong> Migrierte kommen<br />

in aller Regel mit bereits vorhandenen Gesellschaften in Kontakt. Dies initiiert<br />

auf beiden Seiten Prozesse von Othering --- von Konstruktion des Anderen. 4 Hier<br />

lässt sich analysieren, wie »der Andere« entworfen wird, nach welchen Kriterien<br />

die Abgrenzung zwischen In- <strong>und</strong> Outgroup geschieht <strong>und</strong> wie sich das Eigenbild<br />

zum Bild des Anderen verhält, gerade auch, weil viele biblische Texte Auswege<br />

aus dem Othering zu weisen versuchen. 5<br />

4<br />

Verwiesen sei auf die Beiträge in dem zweisprachigen Sammelband Konz/Ortmann/<br />

<strong>Wetz</strong> (<strong>Hrsg</strong>.), Postkolonialismus.<br />

5<br />

Vgl. z.B. <strong>Wetz</strong>, Meile.


<strong>Benedikt</strong> <strong>Hensel</strong> <strong>und</strong> <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong> 13<br />

2. <strong>Migration</strong> als kulturanthropologisches Thema<br />

Das Phänomen der (menschlichen) <strong>Migration</strong> ist unmittelbarer Gegenstand einer<br />

ganzen Reihe von Fachdisziplinen, u.a.: Sozialwissenschaften, Politikwissenschaft,<br />

Jurisprudenz, Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft,<br />

Paläoanthropologie, Evolutionäre Anthropologie. <strong>Migration</strong><br />

gibt es schon so lange, wie es die Gattung Homo gibt. 6 Ohne Wanderungsbewegungen<br />

hätten Homo erectus <strong>und</strong> Homo sapiens niemals Afrika verlassen. 7<br />

Man darf sich diese Wanderungsbewegungen freilich nicht als ein permanentes<br />

Vorstoßen in neue Gebiete vorstellen. Die »<strong>Migration</strong>« von Homo sapiens vom<br />

Vorderen Orient bis nach Ostasien zum Beispiel dauerte 10.000 Jahre (70.000---<br />

60.000 vor heute). 8 Bei einer Strecke von ca. 8.000 km entspräche das einer <strong>Migration</strong>sgeschwindigkeit<br />

von 800 m pro Jahr. Man muss sich diese »<strong>Migration</strong>«<br />

eher so vorstellen, dass kleinere Populationen bei Ressourcenknappheit ihren<br />

Lebensraum wechselten <strong>und</strong> dadurch in neue Gebiete vorstießen, aber auch,<br />

dass sie migrierenden Tierherden nachzogen. Dass der Mensch so ohne Weiteres<br />

neue Gebiete mit neuen geographischen <strong>und</strong> meteorologischen Herausforderungen<br />

<strong>und</strong> mit neuen Raubtieren erschließen konnte <strong>und</strong> kann, hängt<br />

unmittelbar mit seinen technischen <strong>und</strong> allgemein: kulturellen Fähigkeiten<br />

zusammen. Er erschafft neue Techniken, mit denen er in neuen Lebensräumen<br />

überleben kann. 9<br />

Dass Homo sapiens stets auch Homo migrans ist oder zumindest das Potential<br />

dazu besitzt, schlägt sich auch in den großen Erzählungen der Menschheit<br />

nieder. Fast alle Kulturen kennen das Konzept der Heldenreise: Jemand bricht<br />

von zu Hause auf, besteht Abenteuer <strong>und</strong> kehrt als Gewandelter, als »Held«, zurück<br />

oder kommt in einer neuen Heimat an. Vladimir Propp hat als erster diese<br />

Abfolge als typischen Aufbau russischer Zaubermärchen identifiziert 10<br />

--- man<br />

spricht daher auch von der »Propp-Sequenz«. Algirdas J. Greimas konnte nachweisen,<br />

dass die Propp-Sequenz nicht auf russische Zaubermärchen beschränkt<br />

6<br />

Otte, Art. <strong>Migration</strong>s, 472: »From the beginning, one of the essential criteria defining<br />

humanity was mobility«. Vgl. auch Bade, Art. <strong>Migration</strong>, 446; vgl. ferner Bridgeman,<br />

Psychology, 58---61; vgl. aber auch besonders Harari, Geschichte, 11---31. der die<br />

Geschichte der Menschheit <strong>und</strong> eben auch der <strong>Migration</strong> (vgl. besonders a.a.O., 23---30)<br />

unter dem Paradigma der Big History beleuchtet.<br />

7<br />

Für einen knappen Überblick über die Hominisation, die »Eroberung« der Welt durch<br />

Homo sapiens von Afrika aus <strong>und</strong> seinen Wanderungsbewegungen durch die Kontinente<br />

vgl. Burda/Bayer/Zrzavý, Humanbiologie, 62---96.<br />

8<br />

Die Datierungen variieren je nach Neuf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> neuen Messmethoden, aber die <strong>Migration</strong>sdauer<br />

bleibt annähernd gleich.<br />

9<br />

Zum Komplex vgl. z.B. Otte, Art. <strong>Migration</strong>s, 472, <strong>und</strong> Massey, Strangers, 36---43.<br />

10<br />

Vgl. Propp, Morphologie, 7---152. Genau genommen besteht nach Propp die Heldenreise<br />

aus 31 »Funktionen«.


14<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> <strong>Theologie</strong><br />

ist, sondern auf der ganzen Welt begegnet --- kultur- <strong>und</strong> zeitenübergreifend. 11<br />

Systematisch analysiert hat diese globale Struktur, die er »Monomythos« nennt,<br />

Joseph Campbell. 12 Beispiele Erzählungen mit dieser Struktur sind das Märchen<br />

vom tapferen Schneiderlein, die Geschichte von Amor <strong>und</strong> Psyche, wie wir sie in<br />

Apuleius’ Metamorphosen finden, Homers Odyssee, der Argonautenmythos, Gilgameschs<br />

<strong>und</strong> Enkidus Suche nach <strong>und</strong> Kampf gegen Ḫumbaba im Gilgamesch-<br />

Epos, Herman Melvilles Moby Dick, die meisten modernen Roadmovies, Texte<br />

aus dem Popol Vuh, dem Schöpfungsbuch der Maya, Richard Wagners Parsifal.<br />

Bemerkenswert ist, dass die »Heldenreise« oder der »Monomythos« nicht nur<br />

literarisch ubiquitär existiert, sondern auch die gr<strong>und</strong>legende Struktur von<br />

Übergangsritualen darstellt. Diese bestehen stets aus drei Phasen: Separation,<br />

liminale Phase <strong>und</strong> Aggregation. 13 Auch bei diesen werden die Initianden in der<br />

liminalen Phase oft in die Wildnis geschickt, um sich Gefahren auszusetzen <strong>und</strong><br />

z.B. einen Löwen zu töten. Danach kehren sie als Gewandelte, als von ihrer<br />

Gemeinschaft anerkannte erwachsene Männer 14 , zurück. Der Zusammenhang<br />

von Mythos <strong>und</strong> Ritual soll hier nicht weiter erörtert werden, wurde aber bereits<br />

zahlreich beleuchtet. 15 Es ist aber offensichtlich, dass diese Nahtstelle von realer<br />

<strong>Migration</strong>, deren literarischem Niederschlag <strong>und</strong> ihrer rituellen Performanz das<br />

Potential hat, die biblischen <strong>Migration</strong>stexte zu beleuchten. 16<br />

In den Sozialwissenschaften wird unter »<strong>Migration</strong>« nicht jede beliebige Bewegung<br />

von Menschen im Raum verstanden. Mit »<strong>Migration</strong>« sind vielmehr<br />

»jene Formen regionaler Mobilität [gemeint], die weitreichenden Konsequenzen für<br />

die Lebensverläufe der Wandernden haben <strong>und</strong> aus denen sozialer Wandel<br />

resultiert« 17 .<br />

Als Gründe für <strong>Migration</strong> werden in den Sozialwissenschaften hauptsächlich<br />

fünf genannt: 18<br />

materielle Verbesserung, Risikomanagement, symbolische Be-<br />

11<br />

Vgl. Greimas, Éléments, 157---183. Vgl. auch Burkert, Kulte, 76---81, <strong>und</strong> D<strong>und</strong>es, Morphology,<br />

passim.<br />

12<br />

Vgl. Campbell, Heros, passim. Campbell übernimmt den Begriff aus James Joyce’ »Finnegans<br />

Wake«, 581.<br />

13<br />

Vgl. van Gennep, Übergangsriten, 25.29.passim.<br />

14<br />

Mädcheninitiationen verlaufen in der Regel nach einer anderen Struktur, vgl. Lincoln,<br />

Chrysalis, bes. 94---108.<br />

15<br />

Bereits Propp vermutete einen Zusammenhang --- wahrscheinlich ohne Kenntnis von<br />

van Genneps Hauptwerk (vgl. Propp, Wurzeln, 19---25). Vgl. im Übrigen z.B. Burkert,<br />

Kulte, 81---101; Turner, African Ritual, 45---81; Turner, Ritual, passim; Turner, Universals,<br />

8---18; Rogerson, Myth, 66---84; Segal, Theorizing, 37---46.157---160; vgl. auch die<br />

zahlreichen einschlägigen Beiträge in: Rothöhler/Manisari (<strong>Hrsg</strong>.), Mythos. Vgl. auch<br />

die Darstellung Ackerman, Myth, passim.<br />

16<br />

Zum Themenkomplex vgl. auch <strong>Wetz</strong>, Eros, 54---102.<br />

17<br />

Oltmer, <strong>Migration</strong>, 20.


<strong>Benedikt</strong> <strong>Hensel</strong> <strong>und</strong> <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong> 15<br />

lohnung, soziale Bindung <strong>und</strong> Flucht vor Bedrohung. Materielle Verbesserung ist<br />

in erster Linie das Erschließen neuer materieller 19 oder ökonomischer 20 Ressourcen.<br />

Die psychologisch beschreibbare Verlustaversion, d.h. das Phänomen, dass<br />

Menschen einen Verlust höher gewichten als einen vergleichbaren Gewinn,<br />

kann zur <strong>Migration</strong> aufgr<strong>und</strong> von Risikomanagement führen. So kann das Fehlen<br />

guter Versicherungen oder einer ausreichenden Krankenversorgung Menschen<br />

zur <strong>Migration</strong> aus einem Land bewegen. 21<br />

Wer sich eine Verbesserung seines<br />

sozialen Ansehens erhofft, indem er z.B. für eine Professur den Wohnort wechselt,<br />

fällt unter das Label »symbolische Belohnung«. 22 Auch soziale Bindung spielt<br />

als Gr<strong>und</strong> für <strong>Migration</strong> eine große Rolle, nicht zuletzt, weil der Mensch ein ζῷον<br />

πολιτικόν ist, dessen Überleben vom Eingeb<strong>und</strong>ensein in soziale Gruppen abhängt.<br />

Soziale Bindungen führen zu Partner- <strong>und</strong> Familiennachzug oder zur<br />

Rückkehr des Migrierten. 23 Die Bedrohungen, die zu Flucht <strong>und</strong> <strong>Migration</strong> führen,<br />

können unterschiedlicher Natur sein: Bevölkerungsunruhen, Gewalt in der<br />

Familie, Kriminalität, Krieg, Naturkatastrophen, politische Umwälzungen oder<br />

tiefgreifende wirtschaftliche Veränderungen. 24<br />

Man kann also mit Fug <strong>und</strong> Recht summieren, dass Flucht, Vertreibung <strong>und</strong><br />

<strong>Migration</strong> zur Lebenswirklichkeit der Menschen der Antike letztlich zum Wahrnehmungshorizont<br />

von Wirklichkeit dazugehören. Konkret greifbar wird dies für<br />

die Regionen, in der die biblischen Erzählungen spielen, der Südlevante insbesondere,<br />

in den immens folgenreichen politischen <strong>und</strong> sozialen Umbrüchen in<br />

den Mittelmeerregionen des 12. <strong>und</strong> 11. Jhs. v.Chr., die häufig (nicht aber in<br />

jedem Detail zutreffend) mit den Begriffen Expansionen, Seevölkersturm, Vertreibungen,<br />

Abwanderungen <strong>und</strong> <strong>Migration</strong>en umschrieben werden <strong>und</strong> den gesamten<br />

Mittelmeerraum betreffen. Abwanderungen <strong>und</strong> Delokalisierungen größerer<br />

Bevölkerungsgruppen erschaffen ein neues Szenario innerhalb der Siedlungsregion<br />

der Südlevante, in deren Bereichen sich die Kulturen <strong>und</strong> Kleinstaaten<br />

dieser Region neu bestimmen <strong>und</strong> entfalten können. 25 Diese Ab-, Rück- <strong>und</strong><br />

Wegwanderungen bestimmen auch die Jahrh<strong>und</strong>ert danach <strong>und</strong> damit ganz<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich den Kulturraum Südlevante wie auch des Mittelmeerraums, sie<br />

affizieren kulturelle, religiöse, soziologische <strong>und</strong> politische Entwicklungen des<br />

frühen Israel, der südlevantinischen Kleinstaaten Israel <strong>und</strong> Juda <strong>und</strong> der Nachbarkulturen,<br />

ebenso wie die Geschichte des frühen <strong>und</strong> dann des antiken <strong>und</strong><br />

18<br />

Vgl. Massey, Art. <strong>Migration</strong>. Motivations, 452---454; vgl. auch Oltmer, <strong>Migration</strong>, 22---24,<br />

<strong>und</strong> Han, Soziologie, 17---25.<br />

19<br />

Vgl. Massey, Strangers, 264---268.<br />

20<br />

Vgl. Sjaastad, Costs, passim.<br />

21<br />

Vgl. Massey et al., Theories, 436---440.<br />

22<br />

Vgl. Massey, Art. <strong>Migration</strong>. Motivations, 453. Zum symbolischen Kapital vgl. Bourdieu,<br />

Forms, 248---252.<br />

23<br />

Vgl. Massey, Art. <strong>Migration</strong>. Motivations, 453.<br />

24<br />

Vgl. a.a.O.<br />

25<br />

S. Burstein, Antike, 15---34.


16<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> <strong>Theologie</strong><br />

später des rabbinischen Judentums wie auch der Geschichte des Christentums.<br />

Nicht zuletzt bestimmen diese migratorische Gr<strong>und</strong>ierungen kultureller<br />

menschlicher Existenz im Mittelmeerraum 26 über Jahrtausende bestimmte historische,<br />

politische oder sozialgeschichtliche Weichenstellungen, 27<br />

die uns noch<br />

heute mitdefinieren. 28<br />

Biblische Narrative resonieren diese Geschichte, wenn auch nie in ungebrochener,<br />

sondern zumeist traditionsgeschichtlich wie theologisch geronnener<br />

Weise 29 --- auch dies wird der vorliegende Band an Einzelthemen entfalten.<br />

3. <strong>Migration</strong> als Thema im Horizont der Hebräischen<br />

Bibel sowie des Alten <strong>und</strong> Neuen Testaments<br />

3.1 Hebräische Bibel <strong>und</strong> Altes Testament<br />

In Hinsicht auf die Hebräische Bibel <strong>und</strong> das Alte Testament lässt sich mit Fug<br />

<strong>und</strong> Recht sagen: <strong>Migration</strong>, Flucht <strong>und</strong> Vertreibung sind integraler Bestandteil<br />

ihrer großen Narrative; sie gehören zu den Gr<strong>und</strong>erfahrungen der Protagonisten<br />

ihrer Geschichten <strong>und</strong> ihrer Geschichte. Bekanntermaßen entfalten sich die biblischen<br />

Gründungserzählungen Israels in zwei großen narrativen Bögen als <strong>Migration</strong>sbewegung.<br />

Zunächst beschreiben die Erzelternerzählungen (Gen 11,27---<br />

50,26) die <strong>Migration</strong> der Familie Abrahams von Ur in Babylonien bis nach Kanaan.<br />

Sie bleiben dort allerdings bis auf weiteres »Fremdlinge« im gelobten <strong>und</strong><br />

von JHWH gegebenen Land. 30<br />

Insbesondere gewisse priesterschriftliche Texte<br />

der Erzelternerzählungen, zu Anfang der Perserzeit verfasst, bezeichnen das<br />

Land Kanaan als »Land der Fremdlingschaft« (Gen 17,8; vgl. 23,4), obwohl JHWH<br />

an Abraham das Land übergeben hat. Sodann wird Israel zum Gottesvolk in der<br />

Urerfahrung des Exodus <strong>und</strong> der anschließenden 40 Jahre andauernden Wüstenwanderung,<br />

die einen ihrer Höhepunkte in Gesetzesgabe <strong>und</strong> exklusivem<br />

B<strong>und</strong> JHWHs mit diesem Volk am Sinai erfährt, bevor die Wanderung sie dann<br />

an die Grenzen des gelobten Landes führt (so die ostjordanische Inszenierung<br />

des Deuteronomiums). Im jetzigen literarischen Kontext korrespondieren Exodus<br />

<strong>und</strong> Eisodos, also der Einzug des Volkes Israel in das gelobte Land (Exodus bis<br />

Josua), die bereits die älteste literarisch rekonstruierbare Fassung in dieser<br />

26<br />

Gr<strong>und</strong>legend hierzu Abulafia, Mittelmeer.<br />

27<br />

Vgl. Yoo/Zerbini/Barron (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Migration</strong>.<br />

28<br />

Vgl. Godlewicz-Adamiec/Piszczatowski (<strong>Hrsg</strong>.), Vagab<strong>und</strong>en.<br />

29<br />

Vgl. dazu noch --- mit einer breiteren Perspektive auf <strong>Migration</strong>snarrative im Mittelmeerraum<br />

--- Renger/Toral-Niehoff (<strong>Hrsg</strong>.), Genealogie.<br />

30<br />

Wöhrle, Fremdlinge.


Teil 1<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Identität:<br />

Historische Erfahrungshorizonte<br />

<strong>und</strong> ihre literatur- <strong>und</strong><br />

theologiegeschichtlichen<br />

Reflexionen


Michaela Bauks<br />

Der entwurzelte Mensch<br />

<strong>Migration</strong> als Thema der Urgeschichte<br />

Für die katholische Theologin Regina Polak ist <strong>Migration</strong> angesichts der aktuellen<br />

Flüchtlingsströme ein »Zeichen der Zeit«, welches zugleich einen locus theologicus<br />

darstellt, der zu theologischer Erkenntnis hinsichtlich des göttlichen<br />

Heilsplans führt. Was nach einem Blick in die alltäglichen Nachrichten zynisch<br />

klingen mag, ist systematisch-theologisch <strong>und</strong> praktisch-theologisch bedeutsam:<br />

<strong>Migration</strong> ist nämlich nicht nur ein »Anwendungsfall der <strong>Theologie</strong>«, sondern<br />

auch ein »theologiegenerativer Ort« <strong>und</strong> ist somit als Bewährungskontext,<br />

Lernort <strong>und</strong> Forschungsgegenstand von <strong>Theologie</strong> zu begreifen, der Zeitgeb<strong>und</strong>enheit<br />

<strong>und</strong> Fragmentarität erfahrbar macht <strong>und</strong> zu artikulieren hilft. 1<br />

Nun begegnet <strong>Migration</strong> in den alttestamentlichen Texten als ein komplexes<br />

Geschehen. Dieses ist entweder als eine soziale Lebensform geschildert (Nomadismus)<br />

oder ereignet sich im Zuge einer Katastrophe (Krieg; Naturkatastrophe)<br />

als spontane Fluchtbewegung. <strong>Migration</strong> kann aber auch das Ergebnis eines längeren<br />

Prozesses sein (z.B. wegen anhaltender Dürre, instabiler politischer Lage<br />

oder religiöser Unterdrückung), der schließlich zur Planung sowie zum Entschluss<br />

eines Aufbruchs <strong>und</strong> Auszuges führt. <strong>Migration</strong> resultiert mitunter auch<br />

aus Vertreibung oder Deportation, d.h. sie wird gegen den eigenen Willen durch<br />

eine höhere politische Instanz angeordnet oder gegebenenfalls sogar durch diese<br />

ausgeführt. 2 Für diese unterschiedlichen <strong>Migration</strong>sformen kennt die hebräische<br />

Bibel zahlreiche Beispiele. Sie zeigt dabei eindrücklich den Zusammenhang von<br />

historischer Erfahrung <strong>und</strong> <strong>Theologie</strong>werdung auf. 3<br />

Folglich gilt die Exilszeit<br />

nicht nur als historisch bedeutsames Beispiel für <strong>Migration</strong> <strong>und</strong> als<br />

Geburtsst<strong>und</strong>e umfassender Sammlung <strong>und</strong> Redaktion der vorhandenen literarischen<br />

Traditionen, 4 aus der die hebräische Bibel schließlich hervorgeht. Durch<br />

sie bedingt nimmt das Thema <strong>Migration</strong> nämlich auch inhaltlich breiten Raum<br />

ein <strong>und</strong> wird geradezu zu einer theologischen Deutungsmatrix, in die die Offen-<br />

1<br />

Polak, <strong>Migration</strong> als Ort der <strong>Theologie</strong>; dies., <strong>Migration</strong> Bd. 2, 69---78.<br />

2<br />

Naumann, Flucht, 98f.<br />

3<br />

<strong>Hensel</strong>, Gr<strong>und</strong>elemente, 22---28.<br />

4<br />

Vgl. Römer, Crisis Literature, 159f.


34<br />

Michaela Bauks<br />

barung Gottes eingeschrieben ist. 5 <strong>Migration</strong>serfahrung --- wie sie z.B. in den verschiedenen<br />

Erzählsträngen des Pentateuchs reflektiert ist 6<br />

--- lässt sich als ein<br />

identity marker israelitisch-jüdischer Existenz beschreiben. Schaut man in die<br />

Erzählungen <strong>und</strong> Texte der Urgeschichte, ergibt sich ein erweiterter Horizont.<br />

Denn auch hier begegnet das Thema <strong>Migration</strong>, kennzeichnet aber nicht die<br />

Identität einer bestimmten Gruppe, sondern erweist sich als eine anthropologische<br />

Gr<strong>und</strong>erfahrung. Ähnlich dem Konzept der Transmigration in den Politikwissenschaften<br />

bedeutet <strong>Migration</strong> in der Urgeschichte nicht etwa »einen einmaligen<br />

<strong>und</strong> in eine Richtung gehenden Vorgang«, sondern eine »permanente<br />

Lebensform in Gestalt eines Lebens im ständigen Übergang. « 7 Dieser an zeitgenössischen<br />

Phänomenen entwickelte Begriff, der die Ströme religiöser Einflüsse<br />

<strong>und</strong> Konzepte in einer polykontextuellen Welt untersucht, lässt sich generalisierend<br />

auf anthropologische Erfahrungen von Brüchen <strong>und</strong> Veränderungen<br />

menschlichen (Er)Lebens übertragen.<br />

1. Die Urgeschichte als literarische Sammlung der<br />

Exilszeit<br />

Es wäre zu einfach, alle Passagen, die von Flucht, Auszug bzw. Vertreibung handeln,<br />

auf die Zeit von 597 oder 587/586 v.Chr. zurückzuführen. 8 Doch ist gerade<br />

diese Epoche als eine theologisch <strong>und</strong> literarisch starke Impulse gebende Zeit<br />

anzusehen, in der Identität jenseits von politischer oder territorialer Einheit<br />

konstruiert, verteidigt <strong>und</strong> in dem jeweiligen Lebenskontext (Diaspora) entfaltet<br />

wurde. Es geht um die Findung einer »Heimat im Plural«, 9 die trotz der großen<br />

Bedrohung durch das Exil zur Festigung von Überlieferung <strong>und</strong> Identität geradezu<br />

beiträgt. In der persischen Zeit redigiert wird das anwachsende literarische<br />

Korpus zu dem viel zitierten »portativen Vaterland«. 10 Die Zerstörung von Jerusalem<br />

<strong>und</strong> dem Tempel mit den verschiedenen Phasen des Exils hat »eine Verlagerung<br />

von körperlicher zu textueller Präsenz« in Jerusalem entstehen lassen,<br />

11<br />

die ihrerseits in der Erinnerung für die in Exil oder Diaspora lebenden<br />

Menschen Fixpunkt bleibt bzw. Transzendierung erfährt. Zugleich entwickeln<br />

5<br />

Polak, <strong>Migration</strong> als Thema.<br />

6<br />

Müllner, »Du selbst bist fremd in Ägypten gewesen!«, 41---46.<br />

7<br />

Dehn/Hock, »Mein Vater war ein heimatloser Aramäer«, 104; vgl. zur Begrifflichkeit<br />

Kuhlmann, <strong>Migration</strong>, Exil, Transmigration.<br />

8<br />

Schmid, Literaturgeschichte, 73---85; 109---112. Er stellt die assyrische Zeit seit 732<br />

v.Chr. als Beginn systematischer Literaturwerdung heraus, die durch die neubabylonische<br />

Einflussnahme <strong>und</strong> daraus resultierende Exilierungen im 6. Jh. weiteren Anschub erhielt.<br />

9<br />

Vgl. Müllner, Heimat im Plural, 83---106.<br />

10<br />

Vgl. <strong>Hensel</strong>, Gr<strong>und</strong>elemente, 30 mit Verweis auf H. Heine.<br />

11<br />

Müllner, Heimat im Plural, 97.


Der entwurzelte Mensch 35<br />

die seit der Exilszeit anwachsenden Literaturwerke unterschiedliche Strategien,<br />

um eine adäquate Krisenliteratur als Aufweis der fortschreitenden göttlichen<br />

Offenbarung zu schaffen: Die prophetischen Bücher mit der Rede von Gericht<br />

<strong>und</strong> Heil unterscheiden sich darin deutlich von den priester(schrift)lichen oder<br />

deuteronom(ist)ischen Redeformen, die innerhalb der Grenzen des Pentateuch<br />

auf die Realisierung von Kult <strong>und</strong> Recht zielen, ohne die Ankunft im Land zur<br />

Voraussetzung zu haben. Stattdessen wird das Gottesvolk darin in einer Zeit der<br />

anhaltenden Wanderung beschrieben. 12<br />

Unter diesen auf eine Landutopie zielenden Aufrissen kommt der Urgeschichte<br />

eine besondere Bedeutung zu. Die darin versammelten Texte (P <strong>und</strong><br />

nicht-P) mögen zwar ältere Traditionen umfassen, lassen sich aber in der vorliegenden<br />

Form wohl nicht vor dem 7./6. Jh. v.Chr. datieren, womit das Korpus<br />

zeitlich an die für die Literaturwerdung produktive Exilszeit zumindest heranreicht.<br />

13 Es gibt zwar auch jüngere Textstücke (z.B. Gen 6,1---4), aber einige der<br />

urgeschichtlichen Motive spielen auf die Erfahrungen von Zerstörung <strong>und</strong> Revision<br />

zentraler religiöser Institutionen an. Auf den Prozess politischer <strong>und</strong> religiöser<br />

Infragestellungen des 6. Jh. v.Chr. reagieren die urgeschichtlichen Texte<br />

mit einem Universalisierungsschub. <strong>Migration</strong> ist nicht mehr nur die Erfahrung<br />

eines kleinen, von den jeweiligen imperialen Interessen der umliegenden Großmächte<br />

bevorm<strong>und</strong>eten Volks, sondern sie wird theologisch als eine anthropologische<br />

Gr<strong>und</strong>erfahrung gedeutet.<br />

2. Semantische Hinweise auf <strong>Migration</strong> in der<br />

biblischen Urgeschichte<br />

<strong>Migration</strong> ist also auch ein Leitthema in den Texten der sogenannten biblischen<br />

Urgeschichte 14 , die aber m.E. nie als eigenständige Schrift vorlag. 15<br />

Ausgehend<br />

von einigen Lemmata soll der Einsatz dieses Leitthemas untersucht werden.<br />

12<br />

Vgl. Römer, Crisis Literature, 173f. <strong>Hensel</strong> beschreibt die Zeit im Land im Pentateuch<br />

als Übergangszeit <strong>und</strong> schließt: »Israels migrierende Existenz wird demnach von ihren<br />

Rändern her definiert <strong>und</strong> changiert zwischen Exodus <strong>und</strong> Exil« sowie »diese Diaspora-<br />

Existenz … im Gr<strong>und</strong> das Hintergr<strong>und</strong>rauschen für die gesamte nachexilische Zeit« bildet<br />

<strong>und</strong> den <strong>Migration</strong>sstatus miteinschließt (<strong>Hensel</strong>, Gr<strong>und</strong>elemente, 27 <strong>und</strong> 30).<br />

13<br />

Vgl. Gertz, Das erste Buch Mose, 16f mit Verweis auf Bührer, Am Anfang, 369---381;<br />

anders setzt Carr (Genesis 1---11, 31) zwei Schichten in der nicht-priesterlichen Urgeschichte<br />

voraus, von denen die erste (ohne die Fluterzählung) in die mittlere Königszeit<br />

reicht, während die Fluterzählung eine Ergänzung aus neuassyrischer Zeit oder später<br />

darstellt <strong>und</strong> somit die Zerstörung des Nordreichs <strong>und</strong> die Belagerung Jerusalems 701<br />

v.Chr. reflektiert.<br />

14<br />

Vgl. <strong>Hensel</strong>, Gr<strong>und</strong>elemente, bes. 22f; vgl. Polak, <strong>Migration</strong> 1, 73f; dies., <strong>Migration</strong>, 2,<br />

77---82.99f zu Gen 11 <strong>und</strong> a.a.O. 77f zu Gen 9.


36<br />

Michaela Bauks<br />

Das einschlägigste Motiv ist <strong>Migration</strong> als Folge von Vertreibung: So fügen<br />

Gen 3,24 <strong>und</strong> 4,14 das Motiv der Vertreibung durch Gott ( ‏(גר ein. 16 Während<br />

das Menschenpaar nur den göttlichen Garten in Eden verlässt, um sich östlich<br />

davon niederzulassen, muss Kain das ganze Gebiet Eden verlassen, um weiter<br />

östlich im »Land der Ruhelosigkeit« (Gen 4,16) zu leben, nimmt man die Etymologie<br />

von Nod wörtlich (vgl. V.12.14). Er wandert also nicht von einem Ort zu<br />

einem nächsten, sondern sein Leben ist fortan als anhaltende Ruhelosigkeit, als<br />

Transmigration charakterisiert. In beiden Erzählungen bewirkt Gott diese Vertreibung,<br />

einmal als Reaktion auf die fehlende menschliche Einsicht (vgl. Gen<br />

4,7) oder aber auf den fehlenden Gehorsam gegenüber der göttlichen Weisung<br />

(2,17) gepaart mit der Weigerung, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen<br />

(Gen 3,11---13). 17 Vertreibung ist nicht nur als Strafe der jeweiligen Person<br />

gezeichnet, sondern auch <strong>und</strong> vor allem als unabwendbare Folge einer Tat<br />

innerhalb eines Weltbilds, dem zufolge alles mit allem zusammenhängt. Besonders<br />

deutlich wird dies in Gen 4. Hier ist <strong>Migration</strong> die unwiderrufliche Folge,<br />

weil der gesch<strong>und</strong>ene Acker seine Fruchtbarkeit versagt, woraufhin Kain seinen<br />

Lebensraum verliert (Gen 4,11f). Kain leidet unter seinem Verfluchtsein nicht<br />

wegen des göttlichen Akts der Verfluchung, sondern wegen der Folgen seiner<br />

Tat. Kain sieht sich zwar selbst als Vertriebener an (Gen 4,14), doch resultiert<br />

seine Existenzform nicht aus einer göttlichen Strafe, sondern aus der von ihm<br />

selbst in Gang gesetzten Dynamik. 18 Anders als in Gen 3, wo die Fluchsprüche<br />

nicht den Menschen selbst treffen, sondern die Schlange <strong>und</strong> den Ackerboden,<br />

erfolgt die Vertreibung in Gen 3,24 durch Gott. Sie dient der klaren Trennung<br />

von menschlicher <strong>und</strong> göttlicher Sphäre. <strong>Migration</strong> bedeutet hier Auszug des<br />

Menschen aus der unmittelbaren Nähe zu Gott. In Gen 4 ist diese Trennung bereits<br />

vorausgesetzt <strong>und</strong> die Folge des menschlichen Ergehens (Wegzug Kains)<br />

שׁ<br />

15<br />

Es geht hier vor allem um die Geschlossenheit der nicht-priesterlichen Texte, die z.B.<br />

Gertz verteidigt, allerdings bereits in 8,22 enden lässt (Gertz, Das erste Buch Mose, 14f).<br />

Die P-Texte sind von Anfang an mit der Erzeltern- <strong>und</strong> Exodustradition verb<strong>und</strong>en, wobei<br />

der fragmentarische Charakter des P-Erzählbestands in Gen 12---50 überlegen lässt, ob es<br />

sich nicht lediglich um eine eigenständige Urgeschichte mit einer sich anschließenden<br />

Komposition von Erzeltern- <strong>und</strong> Israeltraditionen in Überarbeitung der Vorgängertexte<br />

handelt (a.a.O. 8---10). David Carr setzt für die Urgeschichte einen z.T. älteren nicht-P-<br />

Textbestand voraus (s. Anm. 13), den P in einer eigenen selbstständigen Gesamtbearbeitung<br />

überformt (Carr, Genesis 1---11, 28f).<br />

16<br />

Das Verb findet sich auch in der Exoduserzählung in Bezug auf Pharaos Tun gegenüber<br />

Israel wieder (Ex 6,1; 10,11; 11,1; 12,39).<br />

17<br />

Das Problem ist nicht der begehrte Baum an sich, sondern --- als Folge des Genusses ---<br />

die Trennung von Gott, die in der Fluchtbewegung der Menschen gründet, welche sich<br />

der Verantwortung, wider das göttliche Gebot verstoßen zu haben, nicht stellen. Das<br />

Menschenpaar sucht nach Ausflüchten <strong>und</strong> begreift sich im Gegenüber Gottes <strong>und</strong> des<br />

Mitmenschen als »nackt« --- einer Metapher, die gemindertes Statusbewusstsein anzeigt;<br />

vgl. Bauks, Text- and Reception-Historical Reflections, 167f.<br />

18<br />

Vgl. Bauks, Der imperfektible Mensch, 32f.


Der entwurzelte Mensch 37<br />

resultiert ausdrücklich aus seinem Tun. <strong>Migration</strong> ermöglicht zugleich die Sondierung<br />

neuer Möglichkeiten des (Über)Lebens.<br />

Das andere in Gen 3,23 genannte Verb ( לח ) »fortschicken« (vgl. Gen 8,6<br />

Rabe; 21,14 Hagar) artikuliert den gleichen Sachverhalt in etwas gemäßigterer<br />

Weise. Der Mensch soll den Garten verlassen, um seinem ursprünglichen Auftrag,<br />

den Erdboden zu bebauen, nachzugehen (vgl. Gen 2,5). Somit scheint der<br />

Mensch vor allem zu seiner ursprünglichen <strong>und</strong> eigentlichen Bestimmung zu<br />

gelangen. Literarkritische Operationen, die die beiden Akte des Vertreibens <strong>und</strong><br />

Fortschickens unterschiedlichen literarischen Strata der Erzählung zuzuweisen,<br />

sind unnötig. 19 Denn der Abbruch mit V.23 ließe das Ende der Erzählung offen:<br />

Nachdem der Mensch von Gott aus dem Garten geschickt wurde, fügt V.24 die<br />

Realisierungsnotiz der Vertreibung an. Durch die Keruben wird eine Rückkehr<br />

vereitelt.<br />

Ein weiterer, explizit als »<strong>Migration</strong>serzählung« eingeführter Text findet sich<br />

in Gen 11. Das Aufbrechen ‏(נסע)‏ der Menschen von Osten schließt sich an die<br />

geographische Situierung von Gen 3-4 an. Endlich scheinen die Vertriebenen an<br />

einem Ort angekommen zu sein (im Land Schinar), um sich dort niederzulassen<br />

<strong>und</strong> eine Stadt zu erbauen. Der Schlüsselbegriff ist hier die Zerstreuung (<br />

»zerstreuen«). Denn am Ende der Erzählung tritt ein, was die Menschen verhindern<br />

wollten: Gott zerstreut (qal <strong>und</strong> hif) die Bewohner Babels ȟber die ganze<br />

Erde« (Gen 11,8f). Während das Verb im Nifal ein Sich-Zerstreuen der Sippen<br />

der Kanaanäer (Gen 10,18) bezeichnet, ähnlich dem sich verzweigenden Bevölkern<br />

der Noah-Söhne נפץ)‏ qal in Gen 9,19), steht es in Gen 11 für das Zerstreutwerden<br />

durch Gott. Es rückt in Kontrast zu dem Streben nach Einheit(lichkeit),<br />

das die Menschen mit dem Bau des Turms intendierten, dessen Funktion eben<br />

darin bestand, sich nicht zu zerstreuen פוץ)‏ qal Subjekt Mensch). Während Gen<br />

10 das Sich-Zerstreuen der Völker nach Gebieten <strong>und</strong> Sprachen positiv darstellt,<br />

gewissermaßen als die Konsequenz der erfolgreichen Fortpflanzung der Menschen,<br />

die eine räumliche <strong>und</strong> kulturelle Ausbreitung nach sich zieht, thematisiert<br />

Gen 11 den Versuch, die Aufteilung nach Gemeinschaften <strong>und</strong> Gruppen<br />

gezielt zu unterbinden, was wiederum die göttliche Reaktion geradezu provoziert.<br />

Weiterhin begegnet das Verb ‏(יצא)‏ »weggehen«, das im Kontext der Fluterzählung<br />

auf ein befreiendes Heraustreten aus der Arche (Taube in Gen 8,7;<br />

Noah etc. in 8,16---19; 9,10.18) verweist <strong>und</strong> in der Völkerliste den Aufbruch von<br />

einem Ort zu einem neuen Ziel (10,11 Nimrod in Assur etc.; vgl. 4,16 <strong>und</strong> 11,31<br />

wohnen; 12,4) bezeichnet. <strong>Migration</strong> ist hier positiv konnotiert, indem שׁבי +<br />

neue Handlungsspielräume entstehen. Gen 9,20 gibt zwar einen knappen Ein-<br />

פוץ<br />

שׁ<br />

19<br />

Vgl. zur Diskussion ausführlich Bührer, Am Anfang, 256---261. Er verweist darauf, dass<br />

das Nebeneinander der beiden Verben auch andernorts belegt ist (Ex 6,1; 11,1; 23,27---31;<br />

33,2; Jos 24,12; vgl. Gen 21,10.14 in umgekehrter Reihenfolge; a.a.O. 259). Anders sieht<br />

Gertz (Gertz, Das erste Buch Mose, 146---148) V.22.24 <strong>und</strong> den Lebensbaum in Gen 2,9b<br />

als sek<strong>und</strong>ären Zusatz an.


38<br />

Michaela Bauks<br />

blick in Noahs Leben nach der Flut als Weinbauer, präzisiert aber keinen Ort.<br />

Während der Schlussvers der Kain-Abel-Erzählung (4,16) lakonisch die Folgen<br />

des zwangsläufigen Auszugs ‏(יצא)‏ in das unwirtliche Leben im Land Nod resümiert,<br />

zeigt der Fortgang des Kapitels zugleich, dass das Leben keinesfalls zu<br />

Ende ist. Nicht nur ist das Anwachsen der Menschheit positiv, sondern auch die<br />

knappen Notizen zu den kulturellen Errungenschaften sprechen gegen eine ausschließlich<br />

negative Sicht. Zwar ist Lamech als ein gewaltvoller Mensch geschildert,<br />

der die neutral bewertete Schmiedekunst seines Sohns (Gen 4,22) mit Gewalt<br />

(<strong>und</strong> ggf. Kriegsführung) in Verbindung bringen lässt, doch lassen die drei<br />

Notizen zu seinen Söhnen wie auch die Stadtgründung Kains (4,17) keine negative<br />

Einschätzung zu. In gewisser Weise illustrieren auch die nachfolgenden Belege<br />

des Verbs יצא diesen Sachverhalt. Das Verlassen der Arche bedeutet für die<br />

Geschöpfe nicht nur Überleben, sondern lässt eine Neuschöpfung mit positiven<br />

Optionen für das Leben erwarten, die sich tatsächlich auftun (Gen 9,18f). Doch<br />

zeigt gerade die Geschichte des Wein kultivierenden Noah, dass es immer wieder<br />

zu Zerwürfnissen kommt, die Gruppenbildung, Abgrenzung <strong>und</strong> <strong>Migration</strong><br />

hervorbringen.<br />

In einem etwas anderen Licht ist die Völkerliste zu bewerten, die nicht nur<br />

die gelingende Fortpflanzung <strong>und</strong> Verzweigung ‏;פרד)‏ Gen 10,32; vgl. 10,5) belegt,<br />

sondern auch kulturelle Differenzierung als positive Gegebenheit unterstreicht.<br />

Nur die Figur Nimrods --- ähnlich wie Lamech in Gen 4,23f --- lässt in diesem<br />

Kontext aufhorchen. Die in die Genealogie der Noahsöhne eingelassene ausführlichere<br />

Notiz beschreibt ihn --- entsprechend den Vorgaben altorientalischer Königsideologie<br />

--- als sagenhaften Jäger <strong>und</strong> Bauherr sowie als Gründer vieler<br />

Städte im Land Schinar. Das ist das Gebiet, in dem auch Babel angesiedelt ist<br />

(Gen 11,2.9), so dass Nimrod sogar mit dem Akteur des Turmbaus identifiziert<br />

wurde (Jos. Ant. I,113---114). Auch könnte sein »Auszug« (V.11) der Hinweis auf<br />

eine Militärkampagne sein, die dazu dient, sein Herrschaftsgebiet zu erweitern,<br />

andere Völker zu unterwerfen <strong>und</strong> sie in sein Reich zu integrieren. Gen 11<br />

würde dieser Lesart nach das Motiv von »einer Sprache <strong>und</strong> einerlei Wörter«<br />

(V.1) in kriegerischem Sinne oder sogar totalitär deuten. Das Ansinnen der in<br />

Schinar versammelten Menschen könnte darin bestehen, die in Gen 10 geschilderte<br />

Vielheit in vermessener Weise gleichzuschalten. 20 Das zwingt Gott zu handeln.<br />

»Gott institutionalisiert die Fremdheit zwischen Menschen, um diese vor<br />

wechselseitiger Vereinnahmung <strong>und</strong> Homogenisierung zu schützen.« 21 Die Nimrodnotiz<br />

gibt zugleich Einsicht, warum das Ansinnen in Gen 11,4, sich einen<br />

Namen zu machen <strong>und</strong> sich nicht zu zerstreuen, überhaupt anstößig ist <strong>und</strong><br />

שׁוב »aufbrechen«, <strong>und</strong> נסע Gottes Zorn aufwirft. Denn eine Ortsveränderung mit<br />

20<br />

Vgl. Ebach, »Globalisierung«, 42.53f in Aufnahme von Uehlinger, Weltreich, 396---399<br />

(zu 1 Makk 1,41f).532---536 (konstruierter Mythos von gescheiterten neuassyrischen<br />

Weltherrschaftsansprüchen).546.576f (zu Gen 10 <strong>und</strong> 11).<br />

21<br />

Vgl. Polak, <strong>Migration</strong> 2, 78.100 (Zitat). Es geht um Einheitlichkeit im Sinne von Uniformität<br />

<strong>und</strong> Totalitarismus.


Der entwurzelte Mensch 39<br />

»niederlassen« zum Ausdruck zu bringen (Gen 11,2), ist zwar eine durchaus geläufige<br />

Formulierung im nomadischen Milieu (Gen 20,1; vgl. 12,9; 13,11), die<br />

zudem in der kurzen Notiz von Gen 4,20 zu Jabal, dem Bewohner von Zelten mit<br />

Herden, explizit begegnet. Doch widerspricht dieser sozialgeschichtlichen Zuordnung<br />

das Motiv des Städtebaus in Gen 11. Außerdem lässt die deutliche Anspielung<br />

auf die babylonische Fremdmacht (Babel in V.9; vgl. Schinar in V.2;<br />

14,1.9 u.ö.) auf eine Polemik gegen Eroberungszüge <strong>und</strong> imperiale Ausbeutung<br />

schließen (vgl. die Fronarbeit in Ägypten in Ex 2,13.23). 22 Die für mesopotamische<br />

Architektur typischen Materialien wie gebrannte Ziegel <strong>und</strong> Erdpech als<br />

Mörtel (V.3) unterstreichen die traditionsgeschichtlichen Bezüge auf Mesopotamien<br />

weiterhin.<br />

Nun geht zumindest auf der Ebene des kanonischen Endtexts die Aufteilung<br />

in verschiedene Völker (Gen 10: Völkerätiologie) dem Einheitsstreben von Gen<br />

11 voran. Die Namensätiologie des Peleg, Sohn des ‘Eber (vgl. Gen 11,16), der als<br />

Nachkomme Sems in die Linie des künftigen Gottesvolks gehört <strong>und</strong> wegen der<br />

etymologischen Nähe als Urahn der »Hebräer« gelten kann, entfaltet listenhaft,<br />

wie sich zu seiner Zeit die Menschheit verteilte (Gen 10,25; פלג nif.). 23<br />

Somit<br />

beschreibt Gen 11 einen narrativen Rückschritt hinter die in Gen 10 entfaltete<br />

zivilisatorische Vorgaben. Es geht in Gen 11 nämlich nicht um Einheit, sondern<br />

um erzwungene Vereinheitlichung.<br />

3. Das Gilgamesch-Epos, ein altorientalischer<br />

Vorläufer<br />

Das Motiv der <strong>Migration</strong> in einem urzeitlichen Kontext, wie es in der hebräischen<br />

Bibel begegnet, findet sich bereits einschlägig in der babylonischen Standardversion<br />

des Gilgamesch-Epos (12. Jh. v.Chr.). 24 Ob Heldenepos 25 oder weisheitliche<br />

Reflexion über den Tod <strong>und</strong> die Möglichkeiten seiner Überwindung 26 ,<br />

das Werk entspricht in seiner Struktur einem road movie, dessen Protagonisten<br />

Gilgamesch <strong>und</strong> Enkidu ruheloses Unterwegssein geradezu verkörpern. Ohne<br />

22<br />

Vgl. dazu auch Gertz, Das erste Buch Mose, 316---318 mit Hinweis auf Mi 5,5 als einzig<br />

weiteren biblischen Beleg, der ebenfalls Gewaltbezug aufweist.<br />

23<br />

Dass die Passagen Gen 11,1---9 <strong>und</strong> 10,21---32 unterschiedlichen Traditionen zuzuweisen<br />

sind, ergibt sich schon aus der semantischen Differenz von פלג bzw. פוץ für »zerstreuen«.<br />

24<br />

Zur deutschen Übersetzung Maul, Gilgamesch-Epos, nach der die folgenden Passagen<br />

zitiert sind; vgl. Hecker, Gilgamesch-Epos, 646---744.<br />

25<br />

Es handelt sich um ein Heldenepos im Dual, da beide Hauptfiguren heroische Züge<br />

verkörpern; vgl. Ziegler, Gilgameš, 289-305.<br />

26<br />

Vgl. Sallaberger, Gilgamesch-Epos, 77---82.101---103 zur Durchlässigkeit der Kategorien.


<strong>Benedikt</strong> J. Collinet<br />

»Der Hunger lastete schwer auf dem<br />

Land« (Gen 43,1)<br />

Hunger als Push-Faktor für <strong>Migration</strong>sbewegungen <strong>und</strong><br />

seine ambivalente Deutung in der Bibel<br />

1. Hinführung: Hunger heute<br />

Als ich diesen Artikel 2021 zusagte, war noch nicht klar, dass die Verbindung<br />

von Hunger <strong>und</strong> <strong>Migration</strong> sich im Jahr 2022 noch einmal verstärken <strong>und</strong> die<br />

Hungerproblematik weltweit noch angespannter werden würde. Der Angriff auf<br />

die Ukraine hat jedoch dazu geführt, dass die fruchtbare Region des Donezk-<br />

Beckens, einer der größten Kornproduktionsorte der Welt, derzeit mit Produktions-<br />

<strong>und</strong> Exportproblemen kämpfen muss. Dies ist ein weiterer Indikator dafür,<br />

dass die Besiegung des Hungers bis zum Ende des Sustainable Development<br />

Goal Nr. 2 der UNO voraussichtlich nicht erreicht werden kann. 1 Dass dies ohnehin<br />

kritisch war, zeigt bereits ein Bericht der Tagesschau vom Oktober 2021<br />

über die Zunahme des Hungers in der Welt. 2<br />

Hunger ist, wenn es um <strong>Migration</strong> geht, ein starker Push-Faktor, d.h. ein<br />

Moment, welches zum Wegzug aus dem eigenen Wohnort motiviert. 3 Dabei werden<br />

verschiedene Kategorien entwickelt, die zwischen schwerem Hunger, d.h.<br />

lebensgefährlicher Mangelernährung, die zum Tod führt, <strong>und</strong> Mangelernährung<br />

(permanent oder temporär) unterscheiden. Hunger in all seinen Formen ist dabei<br />

nicht einfach eine Einschränkung der Lebensqualität, sodass man von einer<br />

freiwilligen <strong>Migration</strong> ausgehen könnte, sondern er ist eine langfristige Bedrohung.<br />

An Hunger leidende Menschen 4 erkranken, ihre Organe versagen schneller<br />

<strong>und</strong> durch den Mangel an Nährstoffen tritt eine Reihe medizinischer Probleme<br />

auf. Zusätzlich wird das Immunsystem heruntergefahren, d.h. unter Hun-<br />

1<br />

https://orf.at/stories/3287612 (Stand: 04.10.2022).<br />

2<br />

https://www.youtube.com/watch?v=q-IcoQC1vtM (Stand: 04.10.2022).<br />

3<br />

Genauere Beschäftigungen mit freiwilliger <strong>und</strong> unfreiwilliger <strong>Migration</strong> finden sich bei<br />

Collinet, <strong>Migration</strong>sziel, 89---92. Biblisch wird das Thema u.a. im Themenheft<br />

Crouch/Strine, Jeremiah, behandelt.<br />

4<br />

Dieser Artikel kann aufgr<strong>und</strong> der Verlagsvorgaben nicht vollumfänglich in geschlechtersensibler<br />

Sprache verfasst werden. Wo möglich, wird eine neutrale oder ausdifferenzierte<br />

Form verwendet.


46<br />

<strong>Benedikt</strong> J. Collinet<br />

ger leidende Menschen erkranken auch schneller <strong>und</strong> schwerer an übertragbaren<br />

Krankheiten.<br />

Will man das Phänomen Hunger <strong>und</strong> <strong>Migration</strong> korrekt einschätzen, so<br />

braucht es zunächst ein Wissen darüber, wie viele Menschen unter Hunger leiden,<br />

<strong>und</strong> wie viele von ihnen auf der Flucht sind. Die erste relevante Zahl beläuft<br />

sich für 2021 auf geschätzte 820 Mio. Menschen <strong>und</strong> umfasst jene, die unter<br />

schwerem Hunger leiden, also in akuter Gefahr zu verhungern stehen. Sie werden<br />

ergänzt durch jene Menschen, die dauerhafter Mangelernährung ausgesetzt<br />

sind, sodass hier insgesamt von ca. 2 Mrd. Menschen auszugehen ist, d.h. in<br />

etwa 25% der Weltbevölkerung (11% schwerer Hunger) leiden unter Hunger. 5<br />

Diesen Menschen stehen Hilfsleistungen der Vereinten Nationen entgegen,<br />

die nach eigener Angabe für 2021 durch Direkthilfe knapp 130 Mio. Menschen<br />

erreichen konnten. Dies ist eine großartige Leistung <strong>und</strong> dennoch bedeutet es,<br />

dass das World Food Programme (WFP) nur knapp 9% der Betroffenen (also ca. 1%<br />

der Weltbevölkerung) versorgen konnte. 6 Vergleicht man diese Angaben mit der<br />

Kapazität des Planeten Erde, bis zu 11 Mrd. Menschen zu ernähren (derzeit ca. 8<br />

Mrd. Menschen auf der Erde) <strong>und</strong> der Problematik weggeworfener Speisen in der<br />

nördlichen Hemisphäre <strong>und</strong> auf den Transportwegen, dann wird deutlich, dass<br />

es sich bei Hunger auch um ein Phänomen sozialer Gerechtigkeit handelt.<br />

Bestätigt wird dies durch die Erhebungen von Statista 7 , die für 2021 alle<br />

Krisenherde in puncto Hunger in der südlichen Hemisphäre verorteten. 14/20<br />

Staaten mit dem größten Hungerproblem liegen in Afrika 8 , weitere fünf in Asien 9<br />

<strong>und</strong> einer in der Karibik. 10 Bezogen auf die Bevölkerung leben die meisten Hungernden<br />

in absoluten Zahlen in Indien (ca. 400 Mio. Menschen, d.h. 20% aller<br />

Hungernden); zum Vergleich: in Somalia sind es ca. 8,6 Mio. <strong>und</strong> im Jemen ca.<br />

15 Mio. von Hunger betroffene Menschen.<br />

Es fällt auf, dass zwei Faktoren Hunger deutlich beeinflussen: Armut <strong>und</strong><br />

Krieg. Besonders gut zu erkennen ist das einerseits daran, dass die natürliche<br />

Fruchtbarkeit der Böden nicht in direktem Zusammenhang zu Hunger stehen<br />

muss. Andererseits sieht man es an den langen Konflikten in Somalia <strong>und</strong> der<br />

DR Kongo, die kein Wachstum ermöglichen <strong>und</strong> dem grassierenden Hunger im<br />

5<br />

https://www.careelite.de/welthunger-statistiken-fakten/ (Stand 04.10.2022).<br />

6<br />

https://bit.ly/3SluUCD (Stand 04.10.2022).<br />

7<br />

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/165561/umfrage/am-staerksten-vonhunger-betroffene-laender-weltweit-nach-dem-welthunger-index<br />

(Stand 04.10.2022).<br />

8<br />

Platz 1 ist Somalia, welches zugleich das einzige Land der Erde ist, in welchem mehr als<br />

die Hälfte (59,8%) der Bevölkerung hungern.<br />

9<br />

Hier ist zu unterscheiden zwischen drei südostasiatischen Ländern (Osttimor, Papua-<br />

Neuguinea, Indien) <strong>und</strong> zwei kriegsversehrten Ländern in der Region des arabischen<br />

Golfes (Jemen, Afghanistan).<br />

10<br />

Auf Haiti (Platz 8) hungern 32,8% der Bevölkerung. Zu einem nicht geringen Teil dürfte<br />

dies immer noch mit den Folgen der großen Naturkatastrophen von 2011 zusammenhängen.


»Der Hunger lastete schwer auf dem Land« (Gen 43,1) 47<br />

Jemen (Platz 2; 45,1% der Bevölkerung hungern) oder Afghanistan (28,3%). Neben<br />

globaler sozialer Gerechtigkeit stehen damit auch die globale wie lokale Sicherheitslage,<br />

Konflikte <strong>und</strong> die Armutsfrage als Faktoren im Raum. Sie alle tragen<br />

zu Hunger bei <strong>und</strong> sind auch in sich Push- bzw. Pull-Faktoren, die Menschen<br />

zur Flucht bewegen. Bei Hunger lassen sich allerdings keine sicheren Zahlen<br />

ausmachen, da er zwar immer wieder als Motivator genannt wird, die schwer<br />

Hungernden aber gar nicht die Kraft haben, Binnenmigration, geschweige denn<br />

länder- oder gar kontinentübergreifende <strong>Migration</strong>, auf sich zu nehmen. 11<br />

Dieser kurze Blick auf heutige Hungerproblematiken zeigt, dass es ein aktuelles<br />

Thema ist <strong>und</strong> dass es aufgr<strong>und</strong> der heutigen Transportwege weniger die<br />

natürlichen als die sozialen <strong>und</strong> politischen Faktoren sind, die ihn verursachen.<br />

Hunger ist dabei ein direkt lebensgefährliches Problem <strong>und</strong> wird somit in Fragen<br />

der <strong>Migration</strong> zu einem Push-Faktor, der zu Emigration in Regionen führt, in<br />

denen der Hunger gestillt werden kann. Er ist unter die unfreiwilligen <strong>Migration</strong>sgründe<br />

zu reihen <strong>und</strong> damit ist Hunger auch eine Fluchtursache.<br />

Auf den nachfolgenden Seiten wird sich dem Thema »Hunger« aus biblischer,<br />

bevorzugt alttestamentlicher, Sicht genähert. Dabei wird Hunger (1) zunächst in<br />

der Breite des Auftretens präsentiert, dann wird ein Fokus auf die Zusammenhänge<br />

von <strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Hunger gelegt. In einem weiteren Schritt (2) werden<br />

sozialgeschichtliche Faktoren benannt, wo <strong>und</strong> wie Hunger in der antiken Levante<br />

vorkam <strong>und</strong> was über <strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Hunger bekannt ist. Abschließend (3)<br />

kommt die spezifisch bibeltheologische Sicht, speziell die mit Hungermigration<br />

verb<strong>und</strong>enen Menschen- <strong>und</strong> Gottesbilder, vor. Sie wird noch einmal in Beziehung<br />

zur gegenwärtigen Situation gesetzt. Dabei ist sowohl interessant, welche<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Faktoren gemeinsam resp. divergierend sind als auch die<br />

Frage, welche Gottesbilder <strong>und</strong> bibelethischen Argumente heute Anwendung<br />

finden (sollten).<br />

2. Das Phänomen »Hunger« im Alten Testament<br />

2.1 Das Hunger-Motiv im Allgemeinen<br />

Das hebräische Kernwort רעב wird nach dem ThWAT vor allem allgemein oder<br />

im Kontext der Exilserfahrungen <strong>und</strong> ihrer <strong>Migration</strong> angesiedelt. 12 Wird Hunger<br />

11<br />

Ebenfalls darf nicht übersehen werden, dass Hunger als Fluchtursache in der Regel<br />

nicht direkt auf politische Verfolgung zurückgeht, sondern ein Nebenprodukt von Konflikten<br />

ist. Daher ist die Frage, welchen Status die Menschen auf der Flucht im Ankunftsland<br />

erwarten dürfen (vgl. die Ausführungen in Collinet, <strong>Migration</strong>sziel, 96).<br />

12<br />

Seidl, 558; ‏:רעב 562. Ihm entgegen steht eine Reihe von Begriffen, die Fülle, Saturiertheit,<br />

Erfüllung usw. ausdrücken, sie werden in diesem Artikel jedoch nicht gesondert


48<br />

<strong>Benedikt</strong> J. Collinet<br />

als Satzobjekt verwendet, so handle es sich bei ihm um ein Strafinstrument, das<br />

von Gott als Subjekt ausgehe. 13<br />

Diese gr<strong>und</strong>sätzlichen Beobachtungen treffen zu, dennoch soll im Folgenden<br />

noch einmal etwas ausdifferenziert werden. Die Wurzel רעב <strong>und</strong> ihre griechischen<br />

Pendants begegnen um die 150 Mal in der Bibel. Kanonisch ist Esau der<br />

erste Mensch, dessen Hunger explizit genannt wird (Gen 25,32) <strong>und</strong> bereits hier<br />

ist es ein so fataler Zustand, dass der Ausgehungerte seinem Bruder das Erstgeburtsrecht<br />

um ein Linsengericht abtritt.<br />

Außerhalb von <strong>Migration</strong> begegnet Hunger dann vor allem als Politikum. Es<br />

ist zumeist eine göttliche Strafe auf Reaktion von Fehlverhalten des Volkes oder<br />

der Herrscher, z.B. die Schuld Sauls (2 Sam 21,1) <strong>und</strong> das gerechtere Handeln<br />

Davids (2 Sam 24,13 // 1 Chr 21,12). 14 Salomo <strong>und</strong> Joschafat beten daher darum,<br />

das Volk vor Hunger zu bewahren (1 Kön 8,37 // 2 Chr 6,28 Tempelweihe; 2 Chr<br />

20,9). In der Zeit der getrennten Reiche findet sich die angekündigte oder eingetretene<br />

Hungerstrafe verstärkt im Nordreich, besonders im Elija-Elischa-Zyklus<br />

(1 Kön 18,2; 2 Kön 4,38; 6,25 15 ; 7,4.12; 8,1) <strong>und</strong> bei den finalen Belagerungen<br />

(2 Kön 25,3 // Jer 52,6; 2 Chr 32,11; Klgl 2,19; 4,9; 5,10). 16<br />

In der Prophetie findet sich in Gerichtsworten 17 wiederholt die Trias aus Hunger,<br />

Seuche <strong>und</strong> Schwert (Jer 18<br />

14,12---18;15,12; 21,7.9; 24,10; 27,8.13; 29,17f;<br />

32,24.36; 34,17; 38,2 Ez 12,16; 14,21 19 ), während in der Weisheitsliteratur der<br />

Tun-Ergehen-Zusammenhang von hungernden Frevlern <strong>und</strong> satten Gerechten<br />

behandelt. Die Besiegung von Hunger als Werk der Barmherzigkeit ist ein wichtiges Motiv<br />

im Buch Tobit (Tob 1,17; 4,16).<br />

13<br />

Ebd. 560.<br />

14<br />

Die Nähe der beiden Kapitel <strong>und</strong> das Reden von drei aufeinanderfolgenden Missernten<br />

zur Zeit Sauls wird David erlebt haben. Daher wählt er, der gerechte König, eine persönliche<br />

Strafe, um sein Volk zu erhalten <strong>und</strong> vor einer weiteren Hungersnot zu bewahren.<br />

Interessant ist an dieser Stelle auch das ungewöhnliche Zusammentreffen von Flucht <strong>und</strong><br />

Hunger. David flieht, damit andere, die zuhause bleiben, nicht hungern müssen. Üblicherweise<br />

löst der Hunger Flucht aus, hier verhindert die Flucht selbigen.<br />

15<br />

Vgl. den Aufsatz Müller, Eselfleisch, 17---23, der sich ausführlich mit dem Phänomen<br />

der Notspeisung in diesem Vers befasst. Diese Hungersnot könnte bereits von Elischa<br />

vorhergesagt worden sein, wie der Rückbezug in 2 Kön 8,1---6 nahelegt (vgl. McKenzie,<br />

1 Kön, 388).<br />

16<br />

Reflexe auf die Belagerungen finden sich auch in der späten Literatur z.B. in Jdt 7,14;<br />

1 Makk 6,54; 13,49.<br />

17<br />

Vgl. Lefebvre, Pest, 185---193. Weitere Belege sind etwa Jes 14,30, das in die Heilsworte<br />

Jes 49,10; 51,19, 65,13 gewendet wird; Jer 5,12; 11,22 u.ö.; Ez 5,12.16f; 6,11f; 7,15; 14,13<br />

mit den gegenüberliegenden Heilsworten in Ez 34,29; 36,29f; Am 4,6; 8,11 Bei diesen<br />

Belegen finden sich jeweils Hinweise auf das Exil <strong>und</strong> eine dort vollzogene Wende zum<br />

Heil.<br />

18<br />

Bei Jeremia tritt häufig nur die Kombination von Schwert <strong>und</strong> Hunger ohne Seuche auf,<br />

z.B. Jer 11,22; 18,21.<br />

19<br />

In Ez 14,21 werden sie um eine vierte Dimension gefährlicher Tiere ergänzt. Implizit<br />

begegnet diese Kombination auch in Jer 16,4.


»Der Hunger lastete schwer auf dem Land« (Gen 43,1) 49<br />

stark präsent ist (Ps 33,19; 34,11; 37,19; 50,12; 105,16; 107,5.9.36; 146,7; Spr<br />

13,25; 16,26; 19,15; Bar 2,18.25). 20<br />

Einige Einzelbemerkungen weisen auf die Ambivalenz von Hunger hin. In Jes<br />

8,21 soll er zwar zu Gott hinwenden, in 1 Makk 9,24 aber führt er sogar zum<br />

Abfall vom Glauben. Den Hunger eines Feindes zu stillen ist nicht einfach eine<br />

gute Tat, es stärkt vielmehr die Position des Gerechten, um den Untergang des<br />

Feindes durch Gott zu beschleunigen (Spr 25,21; Sir 39,29 unter zusätzlichem<br />

Bezug auf Dtn). 21<br />

Den eigenen Hunger um jeden Preis zu stillen, ist ebenfalls<br />

verpönt (Spr 6,30) <strong>und</strong> weist darauf hin, dass sogar M<strong>und</strong>raub verachtenswert<br />

sei <strong>und</strong> damit jede Form von Hunger ethisiert erscheint.<br />

2.2 Das Hunger-Motiv im Kontext von <strong>Migration</strong><br />

Während mit Ausnahme Esaus vor allem eine göttliche Ursache für Hunger verantwortlich<br />

gemacht wird, gibt es im Rahmen von <strong>Migration</strong> auch natürliche<br />

Dürren bzw. Nahrungsknappheiten, die zu <strong>Migration</strong> führen. Dies geschieht vor<br />

allem in der Erzelternerzählung <strong>und</strong> in Rut 1,1. 22 Ein erstes Mal kurz nach dem<br />

Aufbruch Abrahams (Gen 12,1---4 , der sich bis nach Ägypten bewegen muss<br />

(Gen 12,10), dann bei Isaak (Gen 26,1), der nach Gerar zieht <strong>und</strong> schließlich in<br />

der Josefgeschichte, in welcher die größte Kumulation von »Hunger« in der Bibel<br />

zu finden ist (Gen 41---47). 23<br />

Nachdem Hungermigration an dieser für die Identität Israels wichtigen<br />

Stelle zum Thema wird, begegnet sie unmittelbar nach dem Auszug aus Ägypten<br />

erneut. In der Murrerzählung von Ex 16 erweist sich Gott erneut als Retter, indem<br />

er Israel mit dem Manna versorgt, um so den Hunger in der Wüste (Ex 16,3)<br />

zu heilen. 24<br />

In Dtn 8,3 wird dieser Hunger als pädagogische Maßnahme Jhwhs<br />

angesehen, die in Dtn 28,48 in eine Strafandrohung kippt, deren Erfüllung in<br />

20<br />

Ähnliche Motive finden sich auch in Tob 4,13; Bar 2,18.25 <strong>und</strong> Sir 4,2; 16,27; 18,25;<br />

24,21; 40,9, 48,2. In Jer 38,9 wird der Prophet in eine Zisterne geworfen, um Hungers zu<br />

sterben wie die Stadt um ihn herum. Hier klingt erstmals der leidende Gerechte an, der<br />

dann auch in Hi 5,5.20---2; 22,7; 24,10; 30,3 den Menschen vor Gott als Hungernden schildert.<br />

Gott greift diese Anfrage indirekt in der ersten Gottesrede in Form einer rhetorischen<br />

Frage auf (Hi 38,39) <strong>und</strong> stellt damit der göttlichen Rolle des Strafenden den umsorgenden<br />

Schöpfergott entgegen.<br />

21<br />

Vgl. Janowski, Anthropologie, 224.<br />

22<br />

Die <strong>Migration</strong> im Buch Rut ist vor allem eine Frage des Rechtsdiskurses <strong>und</strong> weniger<br />

der <strong>Migration</strong> an sich, da es sich um eine Art Midrasch zum Recht auf Nachlese (Lev<br />

19,9f; 23,22; Dtn 24,21) handelt; vgl. dazu Tsoffar, trajectory, 257---274; Egger-Wenzel,<br />

Recht, 31---44.<br />

23<br />

Von knapp 20 Nennungen entfallen allein 11 auf Gen 41f. Diese Hungersnot wird auch<br />

in Jdt 5,10 erinnert <strong>und</strong> damit zu einem identity marker Israels.<br />

24<br />

Vgl. dazu Naumann, Flucht, 104f.


Michael Pietsch<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Dislokation in den<br />

Königebüchern<br />

Eine literarische <strong>und</strong> historische Spurensuche<br />

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der <strong>Migration</strong>. Wann immer<br />

sich die Lebensbedingungen des Menschen oder einzelner Gruppen nachhaltig<br />

verschlechterten, suchte er andere Orte <strong>und</strong> Regionen auf, um die Sicherung<br />

seiner Existenz oder die Verbesserung seiner Lebensqualität zu erreichen. Die<br />

Anlässe dafür können ganz unterschiedlich sein. Neben Veränderungen der klimatischen<br />

oder anderweitiger Umweltbedingungen wären vor allem eine Verknappung<br />

ökonomischer Ressourcen oder Konflikte mit rivalisierenden Clans zu<br />

nennen, die Menschen dazu bewegen, ihren angestammten Lebensraum zu<br />

verlassen. <strong>Migration</strong>serfahrungen können von daher als anthropologische<br />

Gr<strong>und</strong>konstanten des Menschseins begriffen werden. 1<br />

Sie waren den antiken<br />

Gesellschaften des östlichen Mittelmeerraums nicht weniger vertraut als der<br />

Moderne <strong>und</strong> konnten damals wie heute langzeitig wirksame, traumatische Spuren<br />

im individuellen oder kollektiven Gedächtnis hinterlassen. 2<br />

Das Wissen um die Existenz des Menschen als homo migrans ist in der zweigeteilten<br />

christlichen Bibel breit belegt. Es begegnet schon auf den ersten Seiten<br />

des Alten Testaments. Das erste Menschenpaar muss den Garten verlassen, zu<br />

dessen Pflege <strong>und</strong> Bebauung der Mensch einst erschaffen worden war, <strong>und</strong> lässt<br />

sich an einem ungenannten Ort östlich von Eden nieder (vgl. Gen 3,22---24). Das<br />

gleiche Schicksal widerfährt der zweiten Generation des Menschen, wenn Kain<br />

nach dem Mord an seinem Bruder Abel vom »Ackerboden« vertrieben wird, der<br />

ihm keine Nahrung mehr spendet (vgl. Gen 4,11f) <strong>und</strong> die erste städtische Siedlung<br />

gründet. Die Belege ließen sich leicht vermehren; soweit sie im literarischen<br />

Raum der so genannten ›Urgeschichte‹ (Gen 1---11) zu stehen kommen, ist<br />

daran zweierlei bemerkenswert: zum einen handelt es sich jeweils um eine er-<br />

1<br />

Vgl. Bade, <strong>Migration</strong>, 19.<br />

2<br />

Der Prozess der inneren, psychosozialen <strong>Migration</strong> ist als wesentlich langwieriger zu<br />

beurteilen als der Vorgang der äußeren, physischen <strong>Migration</strong> <strong>und</strong> kann sich über Generationen<br />

hinweg erstrecken (vgl. Han, Soziologie der <strong>Migration</strong>, 7). Die Erfahrung des<br />

babylonischen Exils <strong>und</strong> ihre theologische Bearbeitung im Alten Testament ist dafür nur<br />

ein Beispiel unter vielen (vgl. Janzen, Trauma and the Failure of History; Markl, Babylonian<br />

Exile).


62<br />

Michael Pietsch<br />

zwungene Bewegung, die von Jhwh aufgr<strong>und</strong> eines schuldhaften Verhaltens der<br />

Betroffenen initiiert wird, <strong>und</strong> zum anderen erfährt das Dasein des Menschen als<br />

homo migrans in ihnen eine mythische, d.h. zeitlose <strong>und</strong> existentiale, Begründung.<br />

3<br />

<strong>Migration</strong> gehört zur Alltagserfahrung des biblischen (bzw. ›israelitischen‹)<br />

Menschen. Er erlebt sie in unterschiedlicher Weise: als zeitlich begrenzt oder<br />

dauerhaft, als Einzelner im Kreis der Familie oder im nationalen Kollektiv, als<br />

›freiwillig‹ oder als ›erzwungen‹. 4 Letztere Unterscheidung bleibt jedoch insofern<br />

unscharf, als die Anlässe, die Menschen zur <strong>Migration</strong> bewegen, ihre Ursache<br />

häufig in einer drastischen Verschlechterung der ökonomischen oder sozialen<br />

Verhältnisse haben, die den Betroffenen kaum eine andere Wahl lassen (z.B.<br />

aufgr<strong>und</strong> von Hungersnöten in Folge von Dürre oder Missernten, vgl. Gen 12,10;<br />

Rut 1,1). Anders liegen die Dinge in jenen Fällen, in denen Einzelne oder Gruppen<br />

von anderen, höhergestellten oder übermächtigen Akteuren zum dauerhaften<br />

Verlassen ihres Wohnortes gezwungen werden (vgl. die Deportationspraxis<br />

der assyrischen <strong>und</strong> babylonischen Großkönige, denen Israel <strong>und</strong> Juda mehrfach<br />

zum Opfer fielen). Hier ist den Migranten jeder Spielraum zu eigener Entscheidung<br />

genommen.<br />

Die nachfolgenden Überlegungen beschränken sich auf solche <strong>Migration</strong>serfahrungen<br />

bzw. <strong>Migration</strong>sbewegungen, die sich im Narrativ der Königebücher<br />

niedergeschlagen haben. Dabei muss zwischen der ›erzählten Welt‹ des<br />

biblischen Textes <strong>und</strong> ihrer narrativen Inszenierung <strong>und</strong> den historischen Prozessen,<br />

die im Hintergr<strong>und</strong> der Erzählungen (re-)konstruiert werden können,<br />

sorgfältig unterschieden werden. Auch wenn letztere sich einer belastbaren<br />

Überprüfung häufig entziehen, kann in jedem Fall nach der literarischen Funktion<br />

einzelner <strong>Migration</strong>serzählungen oder -notizen im narrativen Diskursraum<br />

der Königebücher gefragt werden. Daher gliedern sich die folgenden Ausführungen<br />

im Anschluss an einige einleitende Vorbemerkungen zum Begriff der <strong>Migration</strong><br />

(1.) in zwei Hauptteile. Im ersten Teil sollen die einschlägigen Belege für<br />

<strong>Migration</strong> im Erzählgefüge der Königebücher vorgestellt <strong>und</strong> diskutiert werden<br />

(2.). Im zweiten Teil schließt sich eine historische Skizze jener kollektiven <strong>Migration</strong>serfahrungen<br />

Israels <strong>und</strong> Judas unter assyrischer <strong>und</strong> babylonischer Herrschaft<br />

an, die sich tief in das kulturelle Gedächtnis des biblischen ›Israel‹ eingeschrieben<br />

haben (3.).<br />

3<br />

Vgl. hierzu den Beitrag von Michaela Bauks in diesem Band.<br />

4<br />

Das Phänomen der <strong>Migration</strong> ist im Alten Testament nicht zuletzt im Konzept der<br />

»Fremdlingschaft« ‏,גֵּ‏ ר)‏ ‏(גּוּר präsent, das sowohl auf das biblische ›Israel‹ selbst als auch<br />

auf Personen, die nicht zum Sozialverband ›Israels‹ gehören, aber (zeitweise) auf dessen<br />

Territorium leben, angewandt wird (vgl. Bultmann, Der Fremde im antiken Juda; Steins,<br />

»Fremde sind wir …«; Rose, »… denn Fremde seid ihr gewesen im Land Ägypten!«).


<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Dislokation in den Königebüchern 63<br />

1. Was ist <strong>Migration</strong>? Soziologische Annäherungen an<br />

ein komplexes Phänomen<br />

<strong>Migration</strong> kann zwar als anthropologische Gr<strong>und</strong>erfahrung bezeichnet werden,<br />

welche sozialen Phänomene unter diesen Begriff näher zu subsumieren wären,<br />

ist jedoch umstritten. Diese Unschärfe kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck,<br />

dass es keine allgemein anerkannte soziologische Definition des Begriffs ›<strong>Migration</strong>‹<br />

gibt. Eine breit gefasste Bestimmung des Begriffs geht von der Bedeutung<br />

»Wanderung« aus <strong>und</strong> versteht unter <strong>Migration</strong> einen dauerhaften Wechsel des<br />

Wohnsitzes. Als räumliche Mobilität stellt <strong>Migration</strong> eine Subkategorie der sozialen<br />

Mobilität dar.<br />

The movement of a person or a group of persons, either across an international border,<br />

or within a State. It is a population movement, encompassing any kind of movement<br />

of people, whatever its length, composition and causes; it includes migration of<br />

refugees, displaced persons, economic migrants, and persons moving for other<br />

purposes, including family reunification. 5<br />

Die Faktoren, die Menschen zu einem solchen Ortswechsel veranlassen, reichen<br />

von besseren Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten über familiäre Gründe (z.B.<br />

Heirat) bis zur Flucht vor Diskriminierung, Krieg oder Einschränkungen persönlicher<br />

Freiheitsrechte. Dabei wird in der Regel vorausgesetzt, dass die Entscheidung<br />

zur <strong>Migration</strong> von den Betroffenen freiwillig getroffen wird. Dies spiegelt<br />

sich nicht zuletzt in der geläufigen Unterscheidung zwischen ›Flüchtlingen‹ <strong>und</strong><br />

›Migranten‹ bzw. ›erzwungener‹ (forced migration) <strong>und</strong> ›freiwilliger‹ <strong>Migration</strong><br />

wider. 6<br />

Der Antagonismus dürfte der komplexen Gemengelage aus Push- <strong>und</strong><br />

Pull-Faktoren, die Menschen zur <strong>Migration</strong> motivieren, jedoch kaum gerecht<br />

werden. Wenn ökonomische Krisen oder politische Verfolgung Menschen zur<br />

<strong>Migration</strong> ›zwingen‹, ist die Rede von einer ›freien‹ Entscheidung nur schwer<br />

nachvollziehbar, selbst wenn diese von den migrierenden Personen selbständig<br />

getroffen worden ist. 7<br />

Es bedarf daher einer differenzierteren Kategorisierung, um die verschiedenen<br />

Aspekte des <strong>Migration</strong>sgeschehens, das sich in die drei Phasen des Aufbruchs,<br />

der Reise <strong>und</strong> der Ankunft untergliedert 8 , präziser zu beschreiben. Im<br />

5<br />

Redpath-Cross/Perruchoud, Glossary on <strong>Migration</strong>, 62f.<br />

6<br />

Vgl. die Übersicht über verschiedene Formen ›erzwungener <strong>Migration</strong>‹ bei Ahn, Exile,<br />

40–66.<br />

7<br />

»Die Grenzen zwischen freiwilliger <strong>Migration</strong>, die man ›Arbeitsmigration‹ nennt, <strong>und</strong><br />

erzwungener <strong>Migration</strong>, die man ›Fluchtmigration‹ nennt, sind fließend. Millionen Menschen<br />

sahen sich früher <strong>und</strong> sehen sich noch heute zu <strong>Migration</strong> gezwungen, selbst wenn<br />

niemand eine Waffe auf sie richtet oder ihr Land überschwemmt wird« (Treibel, Integriert<br />

Euch!, 24).<br />

8<br />

Vgl. Rose, »… denn Fremde seid ihr gewesen im Land Ägypten!«, 119.


64<br />

Michael Pietsch<br />

Anschluss an Ayça Polat lassen sich vier Dimensionen des <strong>Migration</strong>sprozesses<br />

identifizieren 9 :<br />

a) die räumliche Distanz zwischen dem Herkunfts- <strong>und</strong> dem Zielort, d.h. die Unterscheidung<br />

zwischen ›Binnenmigration‹, die den Regelfall beschreibt, <strong>und</strong> ›internationaler‹<br />

oder ›kolonialer‹ <strong>Migration</strong>, die eine räumliche Bewegung über Staatsgrenzen<br />

hinweg umfasst 10 ,<br />

b) die zeitliche Dauer des <strong>Migration</strong>sgeschehens, d.h. die Frage, ob die Ortsveränderung<br />

dauerhaft oder temporär erfolgt 11 ,<br />

c) die Motivation, die den Anlass zur <strong>Migration</strong>sentscheidung gibt (z.B. Flucht- oder<br />

Arbeitsmigration) <strong>und</strong> die von verschiedenen Push- <strong>und</strong> Pull-Faktoren abhängig ist,<br />

<strong>und</strong><br />

d) die Anzahl der migrierenden Personen (individuelle oder kollektive <strong>Migration</strong>).<br />

Eine weitergehende Differenzierung im Sinne einer »Typologie der <strong>Migration</strong>«<br />

hat <strong>Christian</strong> Rose in Aufnahme soziologischer Studien von Dirk Hoerder <strong>und</strong><br />

Jan <strong>und</strong> Leo Lucassen vorgenommen 12 : »Für die Typologisierung von <strong>Migration</strong>en<br />

sind […] sechs Kategorien zu unterscheiden: das Motiv, die Distanz, die<br />

Richtung, die Dauer des Aufenthalts, der sozio-ökonomische Raum <strong>und</strong> der wirtschaftliche<br />

Sektor.« 13<br />

Über die bereits oben genannten Kategorien des Motivs,<br />

der Distanz <strong>und</strong> der Dauer des Aufenthalts hinaus scheint mir mit Blick auf die<br />

alttestamentliche Rede von <strong>Migration</strong> vor allem die Kategorie der Richtung der<br />

<strong>Migration</strong> von besonderem Interesse zu sein. Hierbei lassen sich nach Rose vier<br />

Varianten unterscheiden: »Die […] Richtung kann dadurch bestimmt sein, dass<br />

es (a) nur Hinwanderung gibt, dass die Bewegung (b) zirkulär ist, (c) multipel,<br />

also in mehrere Richtungen geht oder wiederholt an den gleichen Ort, oder dass<br />

es sich um (d) Rückwanderung handelt.« 14<br />

9<br />

Vgl. Polat, <strong>Migration</strong>, 2.1.<br />

10<br />

Damit von <strong>Migration</strong> gesprochen werden kann, muss der neue Wohnsitz in einer anderen<br />

politischen Gemeinde liegen als der bisherige (vgl. Han, Soziologie der <strong>Migration</strong>,<br />

6). – Die Unterscheidung von ›Binnenmigration‹ <strong>und</strong> ›internationaler‹ <strong>Migration</strong> setzt das<br />

Konzept moderner Nationalstaaten voraus, das für die Antike in dieser Form nicht in<br />

Anschlag gebracht werden kann. Hinzu kommt, dass politische oder territorialstaatliche<br />

Grenzen sich verschieben können oder unscharf bleiben, wie dies nicht zuletzt für die<br />

beiden Staaten Israel <strong>und</strong> Juda anzunehmen ist.<br />

11<br />

Die zeitliche Dauer des Wohnortswechsels spielt bei dieser Definition keine Rolle (vgl.<br />

Polat, <strong>Migration</strong>, 2).<br />

12<br />

Vgl. Hoerder/Lucassen/Lucassen, Terminologien, 37.<br />

13<br />

Rose, »… denn Fremde seid ihr gewesen im Land Ägypten!«, 120.<br />

14<br />

Ebd. – Die letzten beiden Kategorien des soziologischen Raumes bzw. des ökonomischen<br />

Faktors orientieren sich dagegen stärker an modernen gesellschaftlichen Strukturen <strong>und</strong>


<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Dislokation in den Königebüchern 65<br />

Sofern das <strong>Migration</strong>sgeschehen auf einen dauerhaften Wohnortswechsel abzielt,<br />

stellt sich ferner die Frage nach der Integration der Migranten in der Aufnahmegesellschaft,<br />

die graduell unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Im Anschluss<br />

an Robert E. Park 15<br />

ist dieser Vorgang als »ethnic-relations-cycle« beschrieben<br />

worden, der sich in die vier Phasen von Kontakt, Wettbewerb/Konflikt,<br />

Akkomodation <strong>und</strong> Assimilation unterteilt. 16 Je stärker die Anpassung der<br />

Herkunfts- an die Zielkultur gelingt, umso höher ist der Grad der Integration der<br />

migrierenden Personen in die Aufnahmegesellschaft. Gleichzeitig verändert der<br />

Eingliederungsprozess stets auch die Aufnahmegesellschaft. Ob der Prozess gelingt,<br />

hängt also nicht nur von der Bereitschaft der Migranten ab, sich an die<br />

kulturellen Praktiken <strong>und</strong> Werte der Aufnahmegesellschaft anzupassen, sondern<br />

mindestens in gleichem Maße von deren Bereitschaft, die Neusiedler in ihre<br />

Gemeinschaft aufzunehmen. Umgekehrt können Diskriminierung <strong>und</strong> ›Othering‹<br />

von Seiten der Aufnahmegesellschaft zu einer ›Re-Ethnisierung‹ unter den<br />

Migranten <strong>und</strong> zur Ausbildung von Parallelgesellschaften (»ethnische Kolonien«)<br />

führen. In der Praxis kommt es nicht selten zu Mischformen ethnischer<br />

Identitätskonstruktionen, in denen Merkmale der Herkunfts- <strong>und</strong> der Zielkultur<br />

miteinander verschmelzen, ohne dass das Bewusstsein der eigenen Herkunft<br />

ganz aufgegeben würde. 17<br />

2. <strong>Migration</strong>sbewegungen im literarischen Horizont<br />

der Königebücher<br />

Das Narrativ der Königebücher enthält eine ganze Reihe von Abschnitten, die<br />

auf <strong>Migration</strong>serfahrungen rekurrieren bzw. von <strong>Migration</strong>sbewegungen berichten.<br />

Neben kurzen Notizen <strong>und</strong> Anekdoten, die das Geschick einzelner Protagonisten<br />

zum Gegenstand haben (vgl. 1 Kön 11,14---22; 2 Kön 8,1---6 u.a.), stehen<br />

breitere Erzählungen <strong>und</strong> hermeneutische Reflexionstexte, in denen das traumatische<br />

Ereignis des Untergangs der beiden Staaten Israel <strong>und</strong> Juda <strong>und</strong> die<br />

dürften für die <strong>Migration</strong>serfahrung des biblischen ›Israel‹ insgesamt von nachrangiger<br />

Bedeutung sein. Diese Einschätzung ist jedoch insofern zu relativieren, als dass das soziale<br />

Herkunftsmilieu <strong>und</strong> die berufliche Qualifikation der Deportierten Israeliten <strong>und</strong><br />

Judäer für deren soziale Stellung <strong>und</strong> Integration in der assyrischen bzw. babylonischen<br />

Aufnahmegesellschaft kaum überschätzt werden können.<br />

15<br />

Vgl. Park, Nature.<br />

16<br />

Vgl. Treibel, <strong>Migration</strong>, 84–96.<br />

17<br />

Dieser Vorgang kann auch zur Ausbildung mehrerer Identitätskonstruktionen führen,<br />

die mit- <strong>und</strong> nebeneinander von derselben Person bzw. Gruppe übernommen werden<br />

(»multiple Identitäten«). Die Berücksichtigung multipler Identitäten könnte zu einer stärkeren<br />

Differenzierung bei der Frage nach dem Selbstverständnis der deportierten Israeliten<br />

<strong>und</strong> Judäer in der Gola verhelfen, die über den plakativen Gegensatz von ›Assimilation‹<br />

<strong>und</strong> ›Isolation‹ hinausführt.


Melanie Köhlmoos<br />

Wo liegt das »Feld Moabs«?<br />

<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Genealogie in Rut <strong>und</strong> 1 Chronik<br />

1. Einleitung<br />

Das Rutbuch erzählt von drei <strong>Migration</strong>svorgängen: Der Emigration Elimelechs<br />

<strong>und</strong> seiner Familie, der Remigration Naomis <strong>und</strong> der Immigration Ruts. Alle drei<br />

Vorgänge haben ihre eigenen Probleme <strong>und</strong> Fragestellungen bei sich. Das Rutbuch<br />

verbindet alle drei zu einer narrativen Einheit. Aus diesem Gr<strong>und</strong> wird die<br />

Differenzierung häufig übersehen <strong>und</strong> das Rutbuch auf die Frage der Legitimität<br />

exogamer Ehen zugespitzt.<br />

An dieser Stelle soll ein etwas anderer Weg beschritten werden. Im Rutbuch<br />

ist die <strong>Migration</strong> nicht nur die Bühne für die Frage nach der Erlaubtheit bestimmter<br />

Ehen, sondern die Gelegenheit zur Frage, wer unter welchen Umständen<br />

Bürgerrecht in <strong>und</strong> an Israel hat. Dabei ist das Rutbuch eindeutig als Gegenentwurf<br />

zu den Büchern Esra <strong>und</strong> Nehemia zu sehen: Nicht die Emigranten haben<br />

Israel rein erhalten, sondern sie sind es, die Israel durch die Emigration<br />

gefährden. Nicht die Daheimgebliebenen lösen die Grenzen zwischen Israel <strong>und</strong><br />

den Völkern auf, sondern sorgen für deren heilvolle Aktualisierung. 1<br />

Die historische Parabel des Rutbuchs erzählt aber nicht einfach eine Geschichte,<br />

die im Unterschied zu Esra <strong>und</strong> Nehemia exogame Ehen befürwortet.<br />

Vielmehr stellt auch das Rutbuch die Frage nach Israels Identität mit denselben<br />

Kategorien wie Esra <strong>und</strong> Nehemia: Ethnizität <strong>und</strong> Tora-Observanz. 2 Ergänzt werden<br />

diese Kriterien im Rutbuch um zwei weitere: Territorium <strong>und</strong> Genealogie.<br />

Sie stehen in enger Verbindung zu 1 Chr 1---9. Die Frage des Rutbuchs ist somit<br />

nicht nur: »Wer gehört zu Israel?«, sondern auch »Wo liegt Israel?«.<br />

Nicht-Israel bestimmt sich im Rutbuch bekanntlich als Moab. Das gilt hauptsächlich<br />

hinsichtlich der Hauptfigur. Rut ist nicht nur einfach eine Fremde<br />

(nākrījjāh: nur Rut 2,10), sondern von Anfang bis Ende eine »moabitische Frau«<br />

(Rut 1,3) bzw. »die Moabiterin« (2,2.6; 4,5.10). Doch auch das Territorium Moab<br />

ist für das Rutbuch signifikant. Welches territoriale Bild Moabs das Rutbuch<br />

1<br />

Dazu ausführlich: <strong>Hensel</strong>, Ethnic Fiction, 134---148.<br />

2<br />

Vgl. Köhlmoos, Buch, 15f u.ö.; <strong>Hensel</strong>, Ethnic Fiction, 136f.


116<br />

Melanie Köhlmoos<br />

entwirft <strong>und</strong> welche Konsequenzen dies für die Erzählung hat, soll in einem ersten<br />

Abschnitt untersucht werden.<br />

Der Aspekt der Genealogie erscheint als Klammer um die Erzählung in deren<br />

Prolog (1,2aβ) <strong>und</strong> im literargeschichtlich umstrittenen Epilog 4,17---22. Es<br />

wird in einem zweiten Abschnitt zu untersuchen sein, welche Perspektiven die<br />

genealogischen Angaben dem Buch geben.<br />

2. Moab als Territorium<br />

2.1 Steppen, Feld, Wüste: Wo liegt das »Feld Moabs«?<br />

Das Rutbuch spricht von Moab konsequent als einer Landschaft. Dabei variiert<br />

allerdings die Schreibweise. In Rut 1,6b; 4,3 findet sich --- wie auch in Gen; Num<br />

<strong>und</strong> 1 Chr --- śedēh mōʼāb, also der cstr. Sg., »Feld Moabs«. Dagegen schreiben Rut<br />

1,1.2.6a.22; 2,6; 4,3 śedēj mōʼāb. Hierbei könnte es sich um den cstr. Pl.<br />

handeln. 3<br />

Es gibt aber keinen ersichtlichen Gr<strong>und</strong>, dieselbe Region mit unterschiedlichen<br />

Begriffen zu bezeichnen. Wahrscheinlich handelt es sich daher um<br />

eine Schreibvariante. Die durchgängige Sg.-Lesart wird auch von der Septuaginta<br />

bezeugt. 4<br />

Moab oder Teile davon mit einem Landschaftsnamen zu bezeichnen, ist vor<br />

allem im Pentateuch belegt, aber nicht nur dort. Unter Einschluss der Rut-Belege<br />

ergibt sich folgende Verteilung:<br />

‘arbōt mōʼāb, »Steppen Moabs«: Num 22,1; 26,3.63; 31,12; 33,48.49.50; 35,1; 36,1.13;<br />

Dtn 34,1.8; Jos 13,32. (14 Belege)<br />

śedēh mōʼāb, »Feld Moabs«: Gen 36,35; Num 21,20; 1 Chr 1,46; 8,8; Rut 1,1.2.6.22;<br />

2,6; 4,3 (10 Belege)<br />

midbar mōʼāb, »Wüste Moabs«: Dtn 2,8 (1 Beleg)<br />

Sowohl ‘arbōt mōʼāb als auch śedēh mōʼāb liegen östlich des Jordan, unmittelbar<br />

nördlich des Toten Meeres. 5<br />

Präziser sind ‘arbōt mōʼāb westlich, śedēh mōʼāb<br />

östlich des Nebo zu lokalisieren. 6<br />

Während das Numeribuch zwischen ‘arbōt<br />

mōʼāb <strong>und</strong> śedēh mōʼāb unterscheidet, fasst das Deuteronomium beide Begriffe<br />

unter der Bezeichnung ʼæræṣ mōʼāb, »Land Moab« zusammen (Dtn 1,5; 32,49;<br />

3<br />

Vgl. Prv 23,10; Neh 12,44; 2 Chr 31,19.<br />

4<br />

Auch die herkömmlichen deutschen Bibelübersetzungen lesen konsequent den Sg, außerdem<br />

z.B. Zenger, Buch.<br />

5<br />

Gass, Ehud-Tradition, 40; Frevel, Shapes, 261---263.<br />

6<br />

Vgl. Frevel, Shapes, 263f; Gass, Ehud-Tradition, 41.


Wo liegt das »Feld Moabs«? 117<br />

34,6). Midbar mōʼāb gehört nicht in dieses Gebiet, sondern liegt südlich des<br />

Arnon, wo auch Ri 11,15.18 das ʼæræṣ mōʼāb verorten. 7<br />

Das Ziel Elimelechs <strong>und</strong> seiner Familie <strong>und</strong> die Heimat Ruts ist somit präzise<br />

in der Gegend von Bamot <strong>und</strong> dem Berg Pisga zu suchen. 8 Es handelt sich nicht<br />

nur um fruchtbares Land, sondern die Bezeichnung ruft auch heilsgeschichtliche<br />

Assoziationen auf: Hier erhält Israel seine Tora-Belehrung, hier wird der B<strong>und</strong><br />

geschlossen, hier finden die entscheidenden Begegnungen mit den Moabitern<br />

<strong>und</strong> Moabiterinnen statt. 9<br />

In der Rut-Exegese gilt die Gr<strong>und</strong>annahme, dass śedēh mōʼāb Teil eines Landes<br />

Moab sein muss, d.h. dass Elimelech <strong>und</strong> seine Familie in ein politisch-kulturelles<br />

»Ausland« gehen. Der Gr<strong>und</strong> liegt darin, dass Ruth (<strong>und</strong> Orpa) konsequent<br />

als Moabiterin bezeichnet werden (Rut 1,4.22; 2,2.6.21; 4,5.10) 10 .<br />

Diese Annahme ist im Folgenden zu überprüfen: Ordnen die alttestamentlichen<br />

Textbelege die besprochenen moabitischen Landschaften tatsächlich immer<br />

einem moabitischen Territorium zu, das man als »Land« bezeichnen könnte?<br />

2.2 Moabiter, Amoriter, Ruben, Gad, Gilead: Wem gehört das »Feld<br />

Moabs«?<br />

Die constructus-Verbindung śedēh mōʼāb drückt eine Zugehörigkeit aus. Zudem<br />

findet sich die Formulierung śedēh + Toponym als Territorialbezeichnung auch<br />

für andere Gebiete (Gen 14,17; 32,4; 1 Sam 6,1; 27,5.7; Hos 12,13). Diese Zugehörigkeit<br />

kann, aber muss nicht zwangsläufig für ein politisch abgegrenztes<br />

Herrschaftsgebiet verwendet werden. 11<br />

D.h., śedēh mōʼāb kann das »Moabiterland«<br />

bezeichnen, ebenso aber auch ein Gebiet, in dem (auch) Moabiter*innen<br />

wohnen. 12 Thomas Willi spricht in solchen Fällen von einem »Habitat«. 13<br />

Tatsächlich erkennen die alttestamentlichen Texte den politischen Anspruch<br />

Moabs auf das Gebiet um den Arnon auf weite Strecken an, vor allem nach dem<br />

7<br />

Die Frage nach der Südausdehnung Moabs soll hier nicht diskutiert werden, vgl. dazu<br />

Hübner/Koenen, Moab/Moabiter, 1f.<br />

8<br />

Gass, Ehud-Tradition, 41.<br />

9<br />

Vgl. ausführlich Köhlmoos, Buch, 4f.<br />

10<br />

Diese Annahme spiegelt sich auch in den herkömmlichen deutschen Bibelübersetzungen<br />

wider. śedēh mōʼāb wird meist mit einem Territorialbegriff wiedergegeben. Lut 2017:<br />

»Land der Moabiter« (bei »Feld der Moabiter« in Gen 36; Num 21; 1 Chr 1. 1 Chr 8: »Land<br />

Moab«). Die BasisBibel: Rut 1,1 »Land Moab«, sonst einfach »Moab« (bei »Gebiet von<br />

Moab« Gen 36; Num 21; 1 Chr 1 <strong>und</strong> »Hochland von Moab« 1 Chr 8). ZüBi: Rut 1,1.2.6.22<br />

»Land von Moab«, Rut 2,6; 4,3 »Gebiet Moabs« (so auch an den anderen Stellen). ELB<br />

übersetzt alle Stellen konsequent mit »Gebiet von Moab«, gibt aber in der Fußnote die<br />

Alternative »Feld«. Nur EIN übersetzt »Grünland von Moab« <strong>und</strong> zwar an allen Stellen.<br />

11<br />

Für letztes steht in der Regel aber ʼæræṣ, vgl. Gass, Ehud-Tradition, 41.<br />

12<br />

Ebd.<br />

13<br />

Willi, Prägung, 388.


118<br />

Melanie Köhlmoos<br />

Aufstand Meschas im 9. Jh. (z.B. Jes 11; 15---16; Jer 27; 48; Ez 25; Am 2). 14<br />

Gleichwohl wird die Region auch mit anderen Gruppen in Verbindung gebracht<br />

--- israelitischen <strong>und</strong> nicht-israelitischen.<br />

Dabei ist die Zuweisung von ‘arbōt mōʼāb bzw. śedēh mōʼāb zu den Amoritern<br />

Teil einer schriftgelehrten Theorie (Num 21; Dtn 1,4; 2,24.26; 31,4). Die Amoriter<br />

--- eigentlich westlich des Jordans ansässig --- werden hier als Herren des Gebiets<br />

deklariert, um das Gebot von Dtn 2,9 einzuhalten. 15 Gen 36,35 (= 1 Chr 1,46)<br />

bringt śedēh mōʼāb in eine unklare Beziehung zu Edom. Auch hier scheint es sich<br />

eher um schriftgelehrte Theorie als um eine verlässliche Erinnerung zu<br />

handeln. 16<br />

Aus israelitischer Perspektive gehört die Region zum Territorium Rubens in<br />

enger Nachbarschaft mit Gad (Num 32,1---37; Jos 13,15---23; 1 Chr 5, 1---26). 17 Gerade<br />

für die Chronik spielt die »Herausbildung der Stämme im ostjordanischen<br />

Bereich <strong>und</strong> ihre Bedeutung für Israel« 18 eine wichtige Rolle. Hier ist das Ostjordanland<br />

gerade nicht Ausland, obwohl die ostjordanischen Stämme ihre Bedeutung<br />

für Israel verloren. 19 In ihrem charakteristischen Bemühen, Israel genealogisch<br />

<strong>und</strong> geographisch zu f<strong>und</strong>ieren, erwähnt 1 Chr 8 darüber hinaus eine Verbindung<br />

Benjamins mit śedēh mōʼāb: Der sonst nicht weiter bekannte Benjaminit<br />

Schaharajim 20 zeugt mit einer Nebenfrau in śedēh mōʼāb sieben Söhne. Es handelt<br />

sich um eine benjaminitische Nebenlinie, die offenbar einer (kurzfristigen?)<br />

Abwanderung von Benjaminiten ins Ostjordanland entstammt. So ist śedēh<br />

mōʼāb zumindest lose auch mit Benjamin affiliiert. 21<br />

Schließlich erwähnt 1 Chr<br />

4,22 eine Verbindung Judas mit Moab. Der chronistische Juda-Abschnitt 1 Chr<br />

2,3---4,43 wird mit den Nachkommen Schelas abgeschlossen. 22 Hier werden in<br />

der zweiten Generation Männer genannt, die »nach Moab geheiratet« 23 <strong>und</strong> dann<br />

»nach Lehem zurückgekehrt« seien. Die Nähe zum Rutbuch ist unübersehbar,<br />

andererseits bleibt die Notiz dunkel. Es handelt sich aber wohl nicht um Ehen<br />

mit Moabiterinnen.<br />

Landschaftlich gesprochen, ist śedēh mōʼāb ein Teil Gileads. Es bildet den<br />

äußersten Südrand jener Region, die vom Arnon im Süden bis zum Jarmuk im<br />

14<br />

Vgl. Frevel, Shapes, 268---276; Weippert, Ar <strong>und</strong> Kir; 547---555; Vieweger, Raum, 225---<br />

238.<br />

15<br />

Vgl. Gass, Ehud-Tradition, 41. Ausführlich: Frevel, Shapes, 261f; 267f; 278---281.<br />

16<br />

Vgl. zuletzt Nash, Edom, 111---128.<br />

17<br />

Zu den literarischen Verhältnissen ausführlich <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legend Schorn, Ruben 137---<br />

223.<br />

18<br />

Willi, Chronik, 160.<br />

19<br />

Vgl. a.a.O., 162---164.<br />

20<br />

Er wird genealogisch nicht eindeutig in die Benjamin-Liste integriert, vgl. A.a.O., 270.<br />

21<br />

Ebd.<br />

22<br />

Zur Komposition vgl. a.a.O., 135f.<br />

23<br />

Baʻal bedeutet überwiegend «eine (rechtskonforme) Ehe schließen« (Dtn 21,13; 24,1;<br />

Mal 2,11; Prv 30,23), zur Diskussion s. a.a.O., 137.


Wo liegt das »Feld Moabs«? 119<br />

Norden verläuft. 24<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> des bisherigen Bef<strong>und</strong>es ist es nicht<br />

weiter verw<strong>und</strong>erlich, dass die Zuweisungen <strong>und</strong> Ansprüche variabel sind.<br />

Außer den Moabitern sind hier auch Aramäer <strong>und</strong> Ammoniter präsent. Dem<br />

Deuteronomium zufolge teilen sich Ruben, Gad <strong>und</strong> Manasse Gilead, wobei sich<br />

die Angaben teilweise widersprechen. 25<br />

1 Chr 7,14---19 affiliiert Gilead mit<br />

Manasse, 1 Chr 2 via Hezron mit Juda. 26<br />

Ob śedēh mōʼāb daher von Juda/Israel aus gesehen, wirklich Ausland ist,<br />

steht daher in Frage. 27<br />

2.3 Beanspruchter <strong>und</strong> beherrschter Raum: Schlussfolgerungen <strong>und</strong><br />

historische Verortung<br />

Es ist signifikant, dass das Rutbuch von śedēh mōʼāb spricht <strong>und</strong> nicht vom<br />

»Land Moab« oder einfach von »Moab«. Zum einen gibt es textpragmatische<br />

Gründe: Für seinen Plot braucht das Buch die heilsgeschichtliche Konnotation,<br />

die der Begriff aufruft. 28 Dazu gibt es eine Korrelation zwischen dem »Feld Moabs«<br />

<strong>und</strong> dem »Feld«, auf dem Rut <strong>und</strong> Boas sich begegnen 29 . Zum zweiten aber<br />

braucht es das Rutbuch für seine Konstellation, in dem die Begegnung zwischen<br />

Judäern <strong>und</strong> Moabitern plausibel ist, der aber nicht durch politische Grenzen<br />

bestimmt wird. Die Geschichte muss zumindest noch an der Peripherie Judas<br />

spielen, aber gleichzeitig auch Heimat der Moabiterinnen sein können. Die<br />

nächsten Parallelen für diese Idee finden sich in Hos 12,13; 1 Chr 8,8.<br />

Zweifellos bildet śedēh mōʼāb ab dem 9. Jh. einen Teil des Königreiches<br />

Moab, wie die Mescha-Stele hinreichend belegt. 30 Nach anfänglichen Konflikten<br />

haben Israel <strong>und</strong> Juda diese Herrschaft offenbar anerkannt. Auch die assyri-<br />

24<br />

Vgl. Koenen, Gilead. 3.<br />

25<br />

Vgl. a.a.O., 2.<br />

26<br />

S. dazu unten.<br />

27<br />

Als neuzeitliche Analogie in Deutschland mag die Lüneburger Heide dienen. Diese Region<br />

wird nach einer Landschaftsform benannt (Heide), obwohl sie nicht nur Heidelandschaften<br />

umfasst. Das Naturschutzgebiet Lüneburger Heide ist nur ein kleiner Teil des<br />

größeren Natur- <strong>und</strong> Kulturraums. Dieser ist nach dem Fürstentum Lüneburg benannt<br />

(<strong>und</strong> mit dessen Territorium etwa deckungsgleich), dessen Residenzort indes nicht Lüneburg<br />

ist, sondern Celle. Nach Eingliederung in Hannover war das Fürstentum Lüneburg<br />

von 1814 bis 1837 ein Teil des britischen Herrschaftsgebiets. Die Ortsnamen »Wendisch-<br />

Evern« <strong>und</strong> »Deutsch-Evern« weisen anscheinend auf verschiedene ethnische Gruppen in<br />

der Region hin, deren Anwesenheit aber bis vor das 8. Jh. zurückgeht. Indes bezeichnet<br />

»Wenden« sowohl allgemein die Slawen im deutschsprachigen Raum als auch spezieller<br />

Slawen im Elbraum. Überdies kann »wendisch« in Ortsnamen von Mecklenburg-<br />

Vorpommern bis Baden-Württemberg auch einfach »östlich« bedeuten.<br />

28<br />

S. oben.<br />

29<br />

Ausführlich: Fischer, Rut, 170---172.<br />

30<br />

Neueste Publikation: Niehr/Römer, Nouvelles Recherches.


Helge Bezold<br />

Fremde Heimat<br />

Narrative Reflexionen über <strong>Migration</strong>, Diaspora <strong>und</strong> den<br />

Umgang mit Fremden in den Büchern Rut, Tobit <strong>und</strong> Ester<br />

1. Fremde Heimat in Rut, Tobit <strong>und</strong> Ester<br />

<strong>Migration</strong> ist ein zentrales Thema der Bücher Rut, Tobit <strong>und</strong> Ester. Alle drei Erzählungen<br />

richten ihren Fokus auf das Schicksal von Menschen, die fliehen<br />

mussten bzw. die als Kriegsgefangene deportiert wurden. Trotz diverser Gefahren<br />

<strong>und</strong> Anfeindungen gelingt es ihnen jedoch, in der Fremde eine neue Heimat<br />

zu finden. Dabei konstituiert sich Heimat nicht primär räumlich, sondern sie<br />

entsteht in einem dynamischen Prozess, der u.a. von einem Streben nach ökonomischer<br />

<strong>und</strong> sozialer Sicherheit, nach Zugehörigkeit <strong>und</strong> Zusammenhalt, aber<br />

auch nach Abgrenzung nach außen geprägt ist. 1 Die drei Erzählungen entwerfen<br />

ganz unterschiedliche, geradezu kaleidoskopartige Perspektiven auf diesen Prozess.<br />

Je nach Erzählperspektive fällt die Beurteilung von <strong>Migration</strong> <strong>und</strong><br />

Diasporaexistenz anders aus. Auch das Verhältnis zur alten Heimat sowie das zu<br />

Fremden wird in den drei Texten kontrovers diskutiert.<br />

Mit ihrem Fokus auf ein Leben in der Fremde heben sich die Bücher Rut,<br />

Tobit <strong>und</strong> Ester vom Gros der alttestamentlichen Überlieferung ab, nach der das<br />

Leben in dem von Gott geschenkten Land einen wesentlichen Teil von Heimat<br />

ausmacht. 2<br />

Die drei Erzählungen bieten damit einen Einblick in die narrative<br />

Reflexion der Erfahrungen von Krieg, Flucht <strong>und</strong> Vertreibung in Folge der assyrischen<br />

<strong>und</strong> babylonischen Eroberungen Israels <strong>und</strong> Judas. Obwohl ihre historischen<br />

Bezugspunkte das zunächst nicht unbedingt verraten, dürften die Bücher<br />

Rut, Tobit <strong>und</strong> Ester erst in nachexilischer Zeit entstanden sein (s. Kapitel 5).<br />

Das Buch Rut ist jedenfalls in vorstaatlicher Zeit angesetzt, das Tobitbuch spielt<br />

1<br />

Für einen sozialwissenschaftlichen Überblick zum Heimat-Begriff vgl. Weber/Kühne/<br />

Hülz, Aktualität. Jüngere Arbeiten zum Begriff der »Zugehörigkeit/en« (engl. »belonging«)<br />

zeigen, wie vielschichtig <strong>und</strong> komplex Prozesse der sozialen Verortung im Zusammenhang<br />

mit <strong>Migration</strong>serfahrungen verlaufen, vgl. z.B. Röttger-Rössler, Zugehörigkeiten<br />

oder Mattes/Kasmani/Acker/Heyken, Belonging.<br />

2<br />

Vgl. Kreß, Heimat, 778, der betont, dass die »Verwurzelung des Menschen im Sinne des<br />

Heimatbegriffs […] für das Alte Testament in der Bindung des Volkes Israel an das ›Land‹<br />

Kanaan als Erbgut <strong>und</strong> das Land der Verheißung (Ex 3,7f) gegeben« sei.


136<br />

Helge Bezold<br />

zur Zeit der assyrischen Kriegsgefangenschaft. Nur das Esterbuch erzählt aus<br />

Sicht des in Persien verbliebenen jüdischen Volkes zur Zeit von Xerxes I. (486---<br />

465 v.Chr.), also Jahrzehnte nachdem die Rückkehr aus dem Exil möglich geworden<br />

war. Somit umspannen die Erzählungen die drei Epochen der Geschichte<br />

Israels <strong>und</strong> Judas: die vorexilische, die exilische <strong>und</strong> die nachexilische Zeit. Aus<br />

dieser Verteilung spricht eine wichtige Überzeugung: In allen Epochen erlebte<br />

das Gottesvolk Flucht <strong>und</strong> Vertreibung. Zu jeder Zeit war man darauf angewiesen,<br />

ein Leben in der Fremde zu gestalten <strong>und</strong> sich zu Mitgliedern anderer<br />

Volksgruppen zu verhalten.<br />

In verschiedenem Maße nehmen die Bücher Rut, Tobit <strong>und</strong> Ester auf ältere<br />

biblische Traditionen, allen voran auf die Tora, Bezug. Dies geschieht nicht theoretisch<br />

<strong>und</strong> abstrakt, sondern auf anschauliche Art <strong>und</strong> Weise. Die unterhaltsamen<br />

<strong>und</strong> bisweilen hochdramatischen Erzählungen wollen nicht als historische<br />

Tatsachenberichte, sondern als Beispielerzählungen verstanden werden.<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> älterer Überlieferungen <strong>und</strong> angesichts der nachexilischen<br />

Realität von Diaspora <strong>und</strong> <strong>Migration</strong> loten sie Möglichkeiten einer »fremden<br />

Heimat« aus. Der vorliegende Beitrag bringt die unterschiedlichen Konzeptionen<br />

der fremden Heimat in den Büchern Tobit, Rut <strong>und</strong> Ester miteinander ins<br />

Gespräch <strong>und</strong> zeigt so auf, wie vielfältig die narrative Reflexion über die Themenfelder<br />

<strong>Migration</strong>, Leben in der Fremde <strong>und</strong> Umgang mit Fremden in nachexilischer<br />

Zeit ausfiel. Ein abschließender historischer Ausblick richtet den Blick<br />

auf die historischen bzw. soziopolitischen Hintergründe der Erzählungen.<br />

Im Folgenden kommen zunächst die drei Gebiete Moab (Rut), Assyrien<br />

(Tobit) <strong>und</strong> Persien (Ester) als geographische <strong>und</strong> soziale Räume in den Blick, in<br />

denen sich die israelitischen bzw. jüdischen Figuren als Fremde aufhalten.<br />

2. Die Fremde<br />

Das Rutbuch verhandelt die Frage nach dem Leben in der Fremde von zwei<br />

Blickrichtungen her: Die ersten sechs Verse spielen im östlich des Jordans<br />

gelegenen Land Moab, wohin die Familie Naomis aus Bethlehem vor einer<br />

Hungersnot flüchtet. 3 Der Fokus der Erzählung liegt jedoch auf Bethlehem, das<br />

sich wiederum für die Moabiterin Rut als Fremde präsentiert. Diese<br />

Verschränkung der Erzählperspektiven prägt die Rutgeschichte entscheidend. In<br />

Bethlehem beginnt die Handlung: Naomis Familie muss ihre Heimatstadt ---<br />

eigentlich ein »Haus des Brotes« לחם)‏ ‏(בית --- aufgr<strong>und</strong> einer Hungersnot<br />

verlassen. Die so nur in Gen 12,10 <strong>und</strong> 26,1 belegte Wendung<br />

(»<strong>und</strong> es geschah eine Hungersnot im Land«) verbindet das Rutbuch mit der<br />

Erzelterntradition: Auch die Familien von Abraham <strong>und</strong> Isaak mussten einst vor<br />

ויהי רעב בארץ<br />

3<br />

Vgl. zum Rutbuch auch den Beitrag von Melanie Köhlmoos in diesem Band.


Fremde Heimat 137<br />

Hunger fliehen. 4 Mit diesem traditionsgeschichtlichen Bezugspunkt deutet sich<br />

an, dass der Aufenthalt zwar gefährlich, doch nur von vorübergehender Natur<br />

sein wird. 5<br />

Das Familienschicksal erscheint auf den ersten Blick allerdings<br />

ungleich schlimmer als das der Erzeltern. Während des zehnjährigen<br />

Aufenthalts in Moab sterben der Ehemann sowie die beiden Söhne Naomis,<br />

sodass sie als kinderlose Witwe zurückbleibt. Gründe für den Tod der Männer<br />

werden nicht genannt. 6 Die Tatsache, dass die Söhne vor ihrem Tod moabitische<br />

Frauen heirateten <strong>und</strong> die Familie mehr als zehn Jahre in der Fremde zubringt<br />

(Rut 1,4), lässt zumindest nicht auf Anfeindungen seitens der Moabiter<br />

schließen. Viel eher scheint es, als sei der »Fremden«-Status der Familie גור)‏ in<br />

Rut 1,4) geachtet worden. 7 Damit bricht das Rutbuch mit der in anderen Texten<br />

verankerten Tradition der negativen Charakterisierung der Moabiter als<br />

ungastliches, ja feindliches Volk (vgl. u.a. Gen 19,37; Num 22,5---6; 24,10; Dtn<br />

23,4---7; Ri 3,28; Neh 13,1---2). Die Familie Naomis scheint in Moab temporär eine<br />

neue Heimat zu finden. Davon abgesehen bleibt das Bild Moabs im Rutbuch<br />

recht blass. 8<br />

Die Ereignisse nach der Rückkehr nach Bethlehem sind für die<br />

Erzählung von weitaus größerem Interesse (s. Kapitel 3).<br />

Weitaus anschaulicher wird das Leben in der Fremde im Tobitbuch geschildert.<br />

Das Gros der Handlung spielt in der assyrischen Diaspora, wo Tobit aus<br />

Naftali <strong>und</strong> seine Verwandten als Kriegsgefangene leben (Tob 1,2.10). In Ninive<br />

besitzt Tobit ein eigenes Haus mit Hof. Andere Deportierte leben in der Nachbarschaft<br />

(Tob 2,1---9). Im Laufe der Erzählung erblindet Tobit, wird aber schließlich<br />

durch die Hilfe des Engels Raphael geheilt. Anders als das Rutbuch berichtet<br />

das Tob von einer endogamen Hochzeit. Tobits Sohn Tobias heiratet eine ferne<br />

Verwandte, Sarra, die Tochter Raguëls, die einige h<strong>und</strong>ert Kilometer entfernt von<br />

Ninive, in Ekbatana lebt (Tob 3,7; 7---8). Wie im Rutbuch gibt es in der Fremde<br />

ausreichend Nahrung bzw. »Brot«, was im Tobitbuch jedoch nicht ganz<br />

unproblematisch ist. Tobit beklagt sich nämlich darüber, dass die Mehrheit seiner<br />

Volksgenossen in Ninive »von den Broten der Völker« (ἐκ τῶν ἄρτων τῶν<br />

ἐθνῶν in Tob 1,10) isst, während er sich von der Gelegenheit zur Verunreinigung<br />

4<br />

Vgl. Köhlmoos, Ruth, 2---3 <strong>und</strong> Mathys, Anmerkungen, 356.<br />

5<br />

Ähnliches legt sich mit Blick auf die Rede von den »Gefilde Moabs« ( מואב ‏(שׂדי in Rut 1,1<br />

nahe, die Erinnerungen an den einstigen Durchzug Israels durch das Gebiet Moabs<br />

während der Wüstenwanderung evoziert (vgl. Num 21,20).<br />

6<br />

Bekanntlich verraten bereits die hebräischen Eigennamen der beiden Söhne Entschei-<br />

‏(כליון)‏ »Kiljon« »krank werden« <strong>und</strong> in ‏,חלה klingt das Verb ‏(מחלון)‏ »Machlon« dendes: In<br />

die Wurzel כלה »am Ende sein« an, vgl. Köhlmoos, Ruth, 5. Es ist deshalb anzunehmen,<br />

dass den beiden auch in Bethlehem kein sonderlich langes Leben beschieden gewesen<br />

wäre.<br />

7<br />

Zu den sozialgeschichtlichen Hintergründen der auch außerhalb Israels bekannten<br />

‏.גור Art. Rechtsinstitution des Fremdenstatus vgl. z.B. Kellermann,<br />

8<br />

Vgl. Mathys, Anmerkungen, 354.


138<br />

Helge Bezold<br />

fernhält. 9 Zunächst scheint sich Tobits Frömmigkeit auszuzahlen, da Gott es ihm<br />

in der Fremde gutgehen lässt. Durch himmlische Fügung wird Tobit zum Beamten<br />

am Hof des assyrischen Königs Salamnassar, für den er Jahr für Jahr nach<br />

Medien reisen <strong>und</strong> dort wichtige Einkäufe erledigen darf (Tob 1,13---14). Trotz<br />

seiner Gefangenschaft genießt Tobit demnach große Bewegungsfreiheit. Ferner<br />

verweist die Tatsache, dass er bei einem Volksgenossen zehn Talente Silber deponieren<br />

kann (Tob 1,14) <strong>und</strong> er in der Lage ist, die Armen zu speisen (Tob 1,17;<br />

2,2), darauf, dass Tobit durch seine Anstellung am Hof zu einem gewissen Wohlstand<br />

gekommen ist. 10<br />

Ähnliche Rückschlüsse legen sich mit Blick auf die Besitzverhältnisse<br />

Raguëls sowie die Stellung von Tobits Neffen Achikar nahe, der<br />

»der oberste M<strong>und</strong>schenk, Siegelbewahrer, Verwalter <strong>und</strong> Schatzmeister« des<br />

Assyrerkönigs gewesen sein soll (Tob 1,22). 11 Doch das Tobitbuch weiß auch darum,<br />

dass das Leben in der Diaspora Gefahren mit sich bringt. Nach einem Herrschaftswechsel<br />

ändert sich die Situation: Die Reisewege werden unsicher (Tob<br />

1,15), es gibt plötzlich Hunger <strong>und</strong> Armut unter Tobits Volksgenossen (Tob<br />

1,16---17), <strong>und</strong> der neue König soll im Zorn über die göttliche Strafe, die ihn beim<br />

Versuch der Eroberung Jerusalems ereilt hat (vgl. 2 Kön 19,35---37), »viele der<br />

Kinder Israels« getötet haben (πολλοὺς γὰρ ἀπέκτεινεν ἐν τῷ θυμῷ αὐτοῦ ἐκ τῶν<br />

υἱῶν Ἰσραήλ in Tob 1,18, vgl. 2,3). Tobit setzt sich deshalb unentwegt für die<br />

heimliche Bestattung der Leichen ein (Tob 1,18;2,4---8), doch er wird angezeigt<br />

<strong>und</strong> verfolgt. 12 Krieg <strong>und</strong> Gewalt, einst Auslöser für Tobits Deportation, holen ihn<br />

nun in der Fremde ein. Damit deutet sich eine Einsicht an, die für das Tobitbuch<br />

insgesamt gilt. Das Leben in der Heimat <strong>und</strong> das Leben in der Fremde unterscheiden<br />

sich nicht wesentlich voneinander. Die Fremde im Tobitbuch lässt<br />

sich deshalb auch als Metapher für die gr<strong>und</strong>sätzliche Frage nach dem Gelingen<br />

eines gottgefälligen Lebens verstehen, die sich überall <strong>und</strong> für alle stellt. 13 Das<br />

Fazit der Erzählung lautet, dass Heil (<strong>und</strong> Heilung) überall möglich sind. Gottes<br />

Zuwendung ist --- anders als Tobit in jungen Jahren dachte (Tob 1,6---8) --- nicht<br />

auf Jerusalem beschränkt. Gott wirkt überall, wobei im Tobitbuch ein Engel als<br />

göttlicher Bote dafür Sorge trägt, die himmlische Hilfe an allen Orten zu gewährleisten.<br />

Die Erzählung endet mit Tobias’ Freude über die Zerstörung Ninives <strong>und</strong><br />

9<br />

Zum Motiv vgl. Ego, Heimat, 275---276. Sofern nicht anders angegeben, sind die Zitate<br />

aus dem Tob eigene Übersetzungen des vermutlich älteren Langtextes G II .<br />

10<br />

Vgl. Ego, Tobit, 29. Zumindest der Langtext weiß zu berichten, dass Tobit am Lebensende<br />

»in Wohlstand lebte« (ἔζησεν ἐν ἀγαθοῖς in Tob 14,2) <strong>und</strong> ihm eine ehrenvolle Bestattung<br />

in Ninive zuteilwurde (ἐτάφη ἐνδόξως ἐν Νινευή in Tob 14,1).<br />

11<br />

Zur Figur Achiqars vgl. Schüngel-Straumann, Tobit, 64---66. Auch Tobits Frau, Sarra,<br />

ist in der Lage, ihren vorübergehend arbeitsunfähig gewordenen Mann durch eigene Arbeit<br />

zu versorgen (Tob 2,11---12).<br />

12<br />

Zur Bewertung von Tobits Einsatz für die Bestattung seiner Volksgenossen vgl. Bolyki,<br />

Burial, 89---91.<br />

13<br />

Vgl. Ego, Tobit, 15: »Das individuelle Schicksal der Protagonisten dient als Paradigma<br />

für das Geschick des Volkes […].«


Fremde Heimat 139<br />

das Ende der Assyrerherrschaft (Tob 14,15). Ein Zeitpunkt zur Heimkehr liegt<br />

damit jedoch noch nicht im Blick. Wie sein Vater wird Tobias in Ninive begraben.<br />

In der Estererzählung ist der Diasporafokus am stärksten ausgeprägt. In den<br />

das Buch eröffnenden Szenen treten zunächst ausschließlich persische Figuren<br />

auf. Der Perserhof in Susa wird in schillernden Farben ausgemalt (Est 1,1---2,4).<br />

Die Verwendung persischer Lehnwörter <strong>und</strong> Namen sowie zahlreiche detaillierte<br />

Angaben über den Palastschmuck <strong>und</strong> über die innenpolitischen Vorgänge am<br />

Königshof führen der Leserschaft des Esterbuches den Achämenidenhof als<br />

exotische, eindeutig fremde Lebenswirklichkeit vor Augen. 14<br />

In Bezug auf die<br />

geographische Anlage der Erzählung fällt ferner auf, dass entweder der Hof bzw.<br />

die Hauptstadt Susa oder gleich das gesamte Perserreich in den Blick gerät.<br />

Beide Dimensionen sind im Esterbuch eng aufeinander bezogen: Die Ereignisse<br />

im politischen Machtzentrum haben stets reichsweite, universale Auswirkungen.<br />

Dies verstärkt den paradigmatischen Charakter der Erzählung. Es geht um<br />

das Überleben des einen Volkes, das überall im persischen Groß-/ Weltreich lebt.<br />

Wie im Tobitbuch fällt die Bewertung des Lebens fernab der Heimat dabei<br />

ambivalent aus. Auf der einen Seite stehen die Karrierechancen, die das Leben in<br />

der Fremde bietet, auf der anderen Seite Bedrohung <strong>und</strong> Anfeindung, die durch<br />

den genozidalen Plan Hamans innerhalb des Alten Testaments ihre wohl<br />

drastischste Form annehmen. Zunächst wird Mordechai vorgestellt. Unter viermaliger<br />

Verwendung der Wurzel גלה (»Kriegsgefangenschaft/Deportation«) betont<br />

Est 2,6, dass Mordechais Aufenthalt in Persien aus erzwungener <strong>Migration</strong><br />

resultiert. Dennoch kann er --- die Ähnlichkeiten zu Josef, Mose <strong>und</strong> Daniel (bzw.<br />

Tobit) sind augenfällig --- am Hof des persischen Königs arbeiten. 15 Er setzt sich<br />

sogar gegen den Hofbeamten Haman durch <strong>und</strong> steigt zum zweithöchsten Mann<br />

im Staat auf (Est 8,1---2; 10,2---3). Wie im Rutbuch gerät zudem eine Waise in den<br />

Blick, die eine exogame Ehe eingeht. Da die Eltern Esters gestorben sind, nimmt<br />

sie ihr Cousin Mordechai als Tochter an (Est 2,7). Nach ihrer Aufnahme in den<br />

königlichen Harem wird Ester sogar die neue Ehefrau des persischen Königs (Est<br />

2,8---18). Gemeinsam können Ester <strong>und</strong> Mordechai auf den Regenten einwirken<br />

<strong>und</strong> dadurch das Überleben ihres Volkes sichern. Dieses sieht sich dem<br />

grausamen Plan eines Einzelnen ausgeliefert: Haman hatte per Edikt die Vernichtung<br />

aller Juden angeordnet (Est 3,13). Ester <strong>und</strong> Mordechai verbreiten jedoch<br />

ein Gegenschreiben, das es den Mitgliedern ihres Volkes erlaubt, sich mit<br />

Waffengewalt gegen Hamans Plan zu wehren (Est 8,3---14). In einem großen<br />

Kampf töten sie mehr als 75.000 Gegner (Est 9,1---16). Mit diesem großen Sieg<br />

wandelt sich die Position des jüdischen Volkes nachhaltig: Es wird nun im gesamten<br />

Perserreich von den Völkern gefürchtet <strong>und</strong> unterstützt (Est 8,17; 9,2.3).<br />

In der Hauptstadt Susa bejubelt man den Auftritt Mordechais in königlicher Kleidung<br />

(Est 8,17).<br />

14<br />

Vgl. Mathys, Achämenidenhof.<br />

15<br />

Vgl. dazu Macchi, Esther, 62---65 mit weiterer Literatur.


140<br />

Helge Bezold<br />

Im vergleichenden Blick auf die Darstellung der Fremde zeigt sich, dass die<br />

Bücher Rut, Tobit <strong>und</strong> Ester das Leben fernab der Heimat differenziert bewerten.<br />

Zwar werden die israelitischen bzw. jüdischen Hauptfiguren allesamt durch äußeres<br />

Einwirken zur <strong>Migration</strong> gezwungen, <strong>und</strong> der Aufenthalt in der Fremde<br />

birgt große Gefahren. Die Fremdexistenz wird jedoch nicht als gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ausweglos, trist oder hoffnungslos dargestellt. Sie eröffnet gleichermaßen Problemfelder<br />

wie neue Handlungsspielräume. Dabei entstehen die verhandelten<br />

Fragen wie die nach dem Umgang mit dem vorzeitigen Tod von Familienangehörigen,<br />

nach der Abwehr von Anfeindungen <strong>und</strong> Angriffen durch fremde Herrscher<br />

oder nach der Einhaltung der Tora nicht erst durch <strong>Migration</strong>serfahrungen,<br />

sie werden jedoch durch diese verstärkt. Der Beispielcharakter der Erzählungen<br />

tritt dadurch deutlich hervor. Ihre Botschaften können somit prinzipiell<br />

auch von denjenigen verstanden werden, die selbst keine Erfahrungen mit <strong>Migration</strong><br />

bzw. dem Leben in der Fremde gemacht haben.<br />

3. Die (alte) Heimat<br />

Mit dem Interesse an der alten Heimat verhält es sich genau umgekehrt wie mit<br />

der Fremde: Der Fokus des Rutbuches liegt auf Naomis einstigem Heimatort<br />

Bethlehem <strong>und</strong> seinen Äckern, während der Estererzählung ein »international<br />

flavor« 16 zu eigen ist, der sich nicht für das Leben in Brothausen, sondern für die<br />

Vorgänge im Machtzentrum des persischen Weltreichs interessiert. Dazwischen<br />

steht das Buch Tobit, dessen Hauptfigur für den assyrischen Großkönig auf diversen<br />

Geschäftsreisen ist, der sich jedoch zumindest in Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft<br />

um seine Jerusalemer Heimat sorgt.<br />

Im Esterbuch lässt sich die Bedeutung der judäischen Heimat recht kurz<br />

zusammenfassen: sie spielt für den Handlungsverlauf keine unmittelbare Rolle. 17<br />

In der Welt der Erzählung sind die Juden überall im persischen Reich zuhause.<br />

Die Fremde scheint wie selbstverständlich zu ihrer neuen Heimat geworden zu<br />

sein. Jerusalem wird allerdings einmal, bei der Einführung der Hauptfiguren in<br />

16<br />

Hagedorn, Presence, 55.<br />

17<br />

Das ändert sich in der Septuagintafassung der Estererzählung, auf der auch der »Alpha-<br />

Text« genannte, griechische Kurztext basieren dürfte. In beiden Texten finden sich an<br />

zentraler Position Gebete Esters <strong>und</strong> Mordechais (Zusatz C), die nicht nur eine theologische<br />

Dimension in die Erzählung eintragen, sondern auch Jerusalem auf die Karte der<br />

Erzählung setzen. U.a. bittet Ester Gott in C 20 darum, er möge »den Glanz deines Hauses<br />

<strong>und</strong> deinen Brandopferaltar« (δόξαν οἴκου σου καὶ θυσιαστήριόν σου) nicht vergehen lassen,<br />

womit eindeutig auf den Jerusalemer Tempel angespielt wird. Nur in der Langfassung<br />

findet sich ferner ein Kolophon, der besagt, das Esterbuch sei mit Jerusalemer Autorität<br />

übersetzt worden (vgl. Zusatz F 11).


Martin Meiser<br />

Der Auszug Abrahams --<br />

Vertreibung, Flucht, <strong>Migration</strong>?<br />

Gen 12,1 in der Rezeption in außerbiblischen Schriften des<br />

frühen Judentums <strong>und</strong> des frühen Christentums<br />

Freiwillige <strong>und</strong> unfreiwillige Ortswechsel sind seit Gen 3,23f ein Thema der Urgeschichte<br />

<strong>und</strong> der Erzelternerzählungen. Während bei Texten wie Gen 3,23f;<br />

4,14; 27,43---45 die Interpretation durch gewisse Textsignale nicht allzu vieles an<br />

Varianten übriglässt, 1<br />

legt sich Gen 12,1 durch die Multiperspektivität seiner<br />

Rezeption als Thema eines wirkungs- <strong>und</strong> rezeptionsgeschichtlich 2<br />

angelegten<br />

Beitrages nahe. Abrahams Auszug nach Kanaan kann sowohl als Flucht als auch<br />

als <strong>Migration</strong> zu stehen kommen.<br />

Die Begriffe in der Überschrift des Beitrages können wie folgt differenziert<br />

werden. »Vertreibung« hat den erzwungenen, »Flucht« den konfliktbasierten,<br />

negativ bewerteten eigenmotivierten, »<strong>Migration</strong>« den positiv bewerteten eigenmotivierten<br />

Ortswechsel im Auge.<br />

Die genannte Multiperspektivität der Rezeption von Gen 12,1 ist durch Leerstellen<br />

im Gesamtzusammenhang Gen 11,24---12,1 bedingt 3 : Die Aufforderung<br />

zum Auszug ergeht in Gen 12,1 reichlich unvermittelt, ohne eindeutige Motivation,<br />

<strong>und</strong> über die religiösen Verhältnisse bei Abraham <strong>und</strong> bei seinen Vorfahren<br />

gibt es in Gen 11,24---32 keine Angaben.<br />

Mehrere Fragen sind beim Durchgang durch die Texte zu bedenken: 1. Welche<br />

Vorstellungen hatte der Autor hinsichtlich der religiösen Verhältnisse in<br />

Abrahams Vaterhaus? 2. Wie wird die Gotteserkenntnis Abrahams näher beschrieben,<br />

<strong>und</strong> in welchen Zusammenhang wird sie mit seinem Auszug aus Mesopotamien<br />

gestellt? 3. Wie wird der Ruf Gottes nach Gen 12,1 motiviert, welche<br />

Implikationen ergeben sich auf literaler <strong>und</strong> auf allegorischer Ebene? 4. Wie<br />

1<br />

Eine durch Hungersnot bedingte <strong>Migration</strong> ist in Gen 12,10 erwähnt. Mindestens in der<br />

heutigen öffentlichen Diskussion spielt Gen 12,10, wenn ich es recht sehe, kaum eine<br />

Rolle, um <strong>Migration</strong> aus ähnlicher Notlage heraus zu rechtfertigen.<br />

2<br />

Der Begriff »Rezeptionsgeschichte« erfasst intendierte Rezeptionsvorgänge, der Begriff<br />

»Wirkungsgeschichte« auch faktische Rezeptionen, bei denen das Interesse nicht speziell<br />

auf deren Gegenstand gerichtet ist.<br />

3<br />

Zwischen MT <strong>und</strong> LXX bestehen in den hier einschlägigen Fragen keine Differenzen.


160<br />

Martin Meiser<br />

wird das Motiv des in Gen 12,1 nur unbestimmt genannten Zieles aufgenommen?<br />

5. Wie wird Abrahams Reaktion kommentiert? Daraus ergibt sich auch der<br />

Aufbau dieses Beitrages.<br />

1. Die religiösen Verhältnisse in Abrahams Vaterhaus<br />

<strong>und</strong> in Ur<br />

1.1 Jüdische Tradition<br />

Zu notieren ist eine gewisse Spannung in Texten außerhalb von Gen 11,24---12,1:<br />

In Jos 24,1 heißt es, die Vorväter inkl. Terach, der Vater Abrahams, hätten anderen<br />

Göttern gedient. 4 In Jdt 5,8 wird der Ortswechsel der Israeliten (sic!) von<br />

Chaldäa nach Mesopotamien (Abraham wird nicht explizit genannt) als Flucht<br />

aufgr<strong>und</strong> ihrer Verweigerung, den Göttern ihrer Umgebung zu dienen, gewertet,<br />

der Zug nach Kanaan auf den Befehl Gottes zurückgeführt. Implizit ist damit<br />

auch ein positives Bild des Vaters Abrahams, Terach, gegeben. Wichtiger aber<br />

ist, dass hier generell die Notlage Israels unter der Bedrohung nichtjüdischer<br />

Mächte, wie sie den Handlungsgang des Buches Judit insgesamt bestimmt, schon<br />

in die Geschichte Israels zurückprojiziert wird.<br />

Auch in Jub 12,6f ist das Bild Terachs nicht völlig negativ: Abrahams Vater<br />

sieht die Unsinnigkeit der bisherigen Götterverehrung ein, traut sich jedoch aus<br />

Angst um sein Leben nicht, dem Volk die Wahrheit k<strong>und</strong>zutun. Der Hintergr<strong>und</strong><br />

dieses anderen Bildes des Vaters mag in Gen 11,31 liegen, der Erwägung, dass<br />

auch der Vater den Zug nach Kanaan beabsichtigt hatte, aber vielleicht auch in<br />

der Erwägung, dass sich der Autor des Jubiläenbuches eine religiöse Fehlhaltung<br />

Terachs nicht vorstellen konnte, umgekehrt Abraham nicht einen ungebührlichen<br />

Ungehorsam gegenüber seinem Vater unterstellen wollte.<br />

4<br />

Der Vollständigkeit halber seien auch die Stellen erwähnt, in denen der Konflikt um die<br />

Gottesverehrung, aber nicht das Auszugsmotiv anklingt. In SapSal 10,5 heißt es nur, Abraham<br />

sei inmitten der »Verwirrung der Völker in allgemeiner Bosheit« bewahrt worden.<br />

Im Targum Ps.-Jonathan Gen 11,28 (Übersetzung: Maher, 51) ist ebenfalls das aus Gen<br />

15,7 entwickelte Motiv »Ur = Feuer« mit einem Konflikt um Abrahams Gottesverehrung<br />

verknüpft, dient aber hier dazu, den frühen Tod Harans zu erklären. Verkürzt begegnet<br />

das Motiv des Feuerofens auch in Targum Neofiti I Gen 11,28.31 (Übersetzung:<br />

McNamara, 85f). Die Theorie ist als Theorie von Hebraei auch (Ps.-)Beda, Comm. Gen., PL<br />

91, 229 D (dort auf Haran bezogen) <strong>und</strong> Walafrid Strabo, Gloss., PL 113, 115 CD, bekannt.<br />

In 1QGenApocr ist die Wiedergabe von Gen 11,24---12,1 nicht erhalten geblieben;<br />

aus einem Fragment in Kol. XIX 7f kann man erschließen, dass der Text eine initiale<br />

Gotteserkenntnis Abrahams, vergleichbar Jub 12,19; 13,8.16, enthalten hat. Ob Abrahams<br />

Auszug aber als Vertreibung, Flucht oder <strong>Migration</strong> zu werten ist, lässt sich 1QGenApocr<br />

nicht entnehmen.


Der Auszug Abrahams 161<br />

Ps.-Hekataios II. beschreibt die Weisheit Abrahams so, dass er ihn in Babylon<br />

als Professor der Philosophie auftreten --- <strong>und</strong> wegen seiner philosophischen<br />

Meinungen zum Auszug gezwungen sein lässt. 5 Auch Josephus zufolge gerät Abraham<br />

durch seine Gottesverehrung in einen Konflikt mit den Mitbewohnern des<br />

Landes. Die in Ant. 1,157 gewählte Terminologie für deren Verhalten<br />

(στασιαστέντων) stellt dieses Verhalten dem Aufruhr der Korachiten gegen Mose,<br />

dem Aufstand Schebas gegen David <strong>und</strong> dem Aufstand der Zeloten gleich. 6 Was<br />

Terach betrifft, ist nur aus den Singularformen in Ant. 1,154.157 indirekt zu<br />

erschließen, dass Terach Josephus zufolge noch nicht zur Erkenntnis des einen<br />

Gottes gekommen war.<br />

Im Liber Antiquitatum Biblicarum wird die Tatsache, dass Abraham nach Kanaan<br />

zieht, unmittelbar mit der Zerstreuung der Völker nach Gen 11,8 verknüpft<br />

7 ; zuvor ist ebenfalls von einem Konflikt die Rede 8 , aus dem Abraham, auf<br />

den Scheiterhaufen geführt, nur durch ein göttlich veranlasstes Erdbeben gerettet<br />

wurde. 9 Auch in der im 2. Jh. n. Chr. entstandenen Apokalypse Abrahams ist<br />

das Terach-Bild negativ. Er gilt als weiterhin der Verehrung der aus Holz gemachten<br />

Götter zugetan. 10<br />

In rabbinischer Literatur führt Gen 11 zur Theorie der zehnjährigen Gefangenschaft<br />

Abrahams 11 , die in die Reihe der zehn Prüfungen Abrahams eingeordnet<br />

wird. 12 Dabei verschlechtert sich gelegentlich das Bild Terachs noch einmal. 13<br />

5<br />

»(Abramos hatte) ein erstaunliches Verständnis für alle Dinge, wußte seine Zuhörer zu<br />

überzeugen <strong>und</strong> irrte nie bei den Schlußfolgerungen, die er zog. Deshalb, nachdem er<br />

begonnen hatte, sich bessere Vorstellungen von der Tugend zu bilden als die anderen,<br />

erkannte er (die Notwendigkeit), auch die Meinung über Gott, wie sie allgemein<br />

herrschte, zu erneuern <strong>und</strong> durch eine richtigere zu ersetzen.« (Übersetzung Walter,<br />

JSHRZ, 158). Der Verweis auf die Überzeugungskraft zielt auf die rhetorischen Fähigkeiten<br />

des Erzvaters, der Verweis auf die Irrtumslosigkeit bei den Schlussfolgerungen auf die<br />

Logik, der Verweis auf die Tugenden auf die Ethik, der Verweis auf die Erneuerung der<br />

Gottesvorstellung auf die Physik. Die antisophistische Polemik Platons (vgl. den Dialog<br />

Gorgias) steht hier nicht im Blick.<br />

6<br />

Ant. 4,12.59 in der Wiedergabe von Num 16; Ant. 7,278 in der Wiedergabe von 2 Kön 20;<br />

Ant. 20,131.<br />

7<br />

LAB 7,5---8,1.<br />

8<br />

Abraham <strong>und</strong> 11 andere wollten sich nicht am Turmbau zu Babel beteiligen, weil sie nur<br />

den einen Gott verehren (LAB 6,4). Vgl. Mühling, Abraham, 288f.<br />

9<br />

LAB 6,16---18.<br />

10<br />

ApkAbr 1,1---8,7.<br />

11<br />

Nach bBB 91a; PRE 26,1 (Börner-Klein, 284) war Abraham zehn Jahre gefangen, sieben<br />

Jahre in Kutha (vgl. 2 Kön 7,24), drei Jahre in Kardu (in welcher Reihenfolge, ist nach bBB<br />

91a zwischen den Rabbinen umstritten); Klein-Kutha wird gelegentlich mit Ur in Chaldäa<br />

(R. Hisda) identifiziert.<br />

12<br />

mAb 5,3 bietet die Tradition ohne detaillierte Auflistung. PRE 26,2 (Börner-Klein, 284)<br />

rechnet das Unglück Abrahams in Ur (Gefangenschaft <strong>und</strong> Feuerofen) als zweite, PRE<br />

26,3 (Börner-Klein, 284) Abrahams Auszug als dritte Prüfung.


162<br />

Martin Meiser<br />

1.2 Christliche Tradition<br />

In der Zeit vor 380 n.Chr. 14 ist die Abgrenzung des entstehenden Christentums<br />

vom griechisch-römischen Polytheismus in der Apologetik allgegenwärtig <strong>und</strong><br />

wird manchmal auch an Abraham exemplifiziert 15 , häufiger jedoch mit dem Gedanken,<br />

Mose sei älter als die griechischen Schriftsteller. Dabei wird zumeist<br />

vermutet, dass Terach nicht den wahren Gott verehrt. 16 Aber auch nach 380<br />

n.Chr. gilt die Verwandtschaft Abrahams nicht selten als ungläubig 17 , sodass gelegentlich<br />

Abrahams Trennung von seinem ungläubigen Vater als Verwirklichung<br />

des Wortes Jesu Mk 10,28 aufgefasst werden kann. 18 Eine Ausnahme ist<br />

Augustinus, der schon in Terach den Glauben an den einen Gott bewahrt sieht,<br />

sodass in Abraham die civitas Dei im Unterschied zur civitas terrena deutlicher<br />

hervortreten kann. 19<br />

13<br />

Nach BerR 38,13 schreckt Terach nicht davor zurück, seinen andersdenkenden Sohn<br />

Abraham an Nimrod (sic!) auszuliefern, der schon von seinem Namen in rabbinischer<br />

Deutung her als Aufrührer gegen den Gott Israels gedacht ist (Oberhänsli-Widmer, Biblische<br />

Figuren, 267). In dem Gegensatz zwischen dem die Fremdgötter verehrenden Vater<br />

<strong>und</strong> dem Sohn spiegelt sich zugleich »das Machtgefälle zwischen dem mächtigen Götzendiener<br />

<strong>und</strong> dem zwar an Kräften, jedoch nicht an Argumenten unterlegenen jüdischen<br />

Gottesstreiter in einem politischen Umfeld von Diaspora oder zumindest von Okkupation.«<br />

(OBERHÄNSLI-WIDMER, Biblische Figuren, 268). Zu dem Motiv der Vorkommnisse<br />

in Ur als Prüfung Abrahams vgl. insgesamt OBERHÄNSLI-WIDMER, Biblische Figuren, 262---<br />

276.<br />

14<br />

Vgl. Heither/Reemts, Abraham, 8f.<br />

15<br />

Vgl. immerhin Justin, Dial. 119,5 Bobichon I 504; Origenes, Hom. Luc. 22,5 (nur in der<br />

lateinischen Überlieferung), FC 4/1, 244; Origenes, In Matt. X,23, GCS 10,32 (Abwendung<br />

von abergläubischen Gebräuchen). Auch bei Gregor von Nyssa, Bas. 2, GNO 10/1, 111f<br />

geht es m.E. darum, dass Abraham aus der Erkenntnis der Bewegung der Gestirne den<br />

Schluss vom Geschöpflichen auf den Schöpfer vollzieht <strong>und</strong> deshalb den väterlichen Trug<br />

hinter sich lässt. Der Gedanke wird dann wieder aufgegriffen im Sudae Lexicon I 69, Adler<br />

9: Aus der Beobachtung der Gestirne mit ihren sich wandelnden Erscheinungsbildern<br />

erschloss Abraham, dass diese nicht Gott sein können.<br />

16<br />

Irenaeus, Haer. I5,5,3, FC 8/4, 40; Eusebius von Caesarea, Dem. I 2,15, GCS 23, 10<br />

(Abraham habe sich von der πατρική δεισιδαιμονία abgewandt); (Ps.-)Origenes, Sel. Ex. 126,<br />

PG 12, 292 C; Origenes, Hom. Gen. 15,5, GCS NF 17, 212 (es ergibt sich dort aus dem<br />

Kontext: Complacet [scil. Deus] in Abel, corripit Cain; inuocatus adest Enoch. Noe mandat in<br />

diluuio arcam salutis exstruere [»Gott hatte Wohlgefallen an Abel, stürzte Kain in den<br />

Untergang; er stand Henoch bei, als er von ihm im Gebet angerufen worden war. Noah<br />

befiehlt er, in der Flut die Arche zur Rettung zu erbauen«]).<br />

17<br />

Gregor von Nazianz, Or. 8, 4, SC 405, 252; Johannes Chrysostomus, Hom. Gen. 31,3, PG<br />

53, 286; Hom. Hebr. 23,1, PG 63, 161 (Ἕλληνα καὶ εἰδωλάτρην); Theophylakt, In Hebr., PG<br />

125, 345 C; Rhabanus Maurus, In Hebr., PL 112, 792 D.<br />

18<br />

Didymus, In Gen. 209, SC 244, 136---138.<br />

19<br />

Augustinus, Civ. 16,13, CSEL 40/2, 153, <strong>und</strong> dazu Köckert, Augustinus, 399f.


Der Auszug Abrahams 163<br />

2. Die Gotteserkenntnis Abrahams<br />

2.1 Jüdische Tradition<br />

Die unvermittelte Anrede Gottes an Abraham, der dem Befehl Gen 12,1 auch<br />

folgt, gibt immer wieder Anlass zum Nachdenken über das zeitliche <strong>und</strong> sachliche<br />

Verhältnis der <strong>Migration</strong> Abrahams <strong>und</strong> seiner Gotteserkenntnis.<br />

Im Jubiläenbuch ist ein Erkenntnisfortschritt schon vor der <strong>Migration</strong> gegeben:<br />

Abraham erkennt »aufgr<strong>und</strong> der vernunftgeleiteten Deutung seiner Naturbeobachtungen«<br />

20 , dass die von seinem Vater verfertigten Götterbilder nur<br />

stumme <strong>und</strong> tote Gegenstände sind. Als er sie dann verbrennt, versucht u.a. sein<br />

Bruder Haran, diese aus dem Feuer zu retten; von Gewaltmaßnahmen gegen Abraham<br />

ist jedoch nicht die Rede (Jub 12,12---14). So ist Abraham durchaus unter<br />

dem Siglum eines »philosophischen Aufklärers« 21<br />

zu verstehen, der dadurch<br />

auch von der Macht böser Geister frei wird 22 , sein Auszug ist aber im migrationstheoretisch<br />

strengen Sinne nicht Vertreibung oder Flucht, sondern <strong>Migration</strong>.<br />

Versteht man das Jubiläenbuch als Beitrag zur jüdischen Identitätskonstruktion<br />

angesichts der Herausforderung des umgebenden Hellenismus 23 , hat<br />

dieses Abrahambild eine mahnende Seite an die jüdischen Rezipientinnen <strong>und</strong><br />

Rezipienten, eine Mahnung zum Bekenntnis zu dem einen Gott Israels <strong>und</strong> zum<br />

Tun seines Willens. Das Jubiläenbuch ist kein Kommentar zur Bibel, sondern hat<br />

zumindest in manchen anderen jüdischen Texten als legitime Quelle eigener<br />

Traditionsbildung gedient 24 , hat m .E. selbst den Anspruch auf unmittelbare Geltung<br />

<strong>und</strong> wurde von manchen Gruppen im Judentum vielleicht sogar ebenfalls<br />

als Heilige Schrift angesehen. 25<br />

Bei Philon von Alexandria ist Gen 12,1 in der Expositio Legis erst einmal im<br />

literalen Verständnis von Bedeutung. Hier wird der Auszug Abrahams mit Abrahams<br />

Abwendung von der Astronomie <strong>und</strong> der chaldäischen »bloßen Meinung«<br />

gekoppelt. 26 Abraham wird zum Vorbild des konversionswilligen Nichtju-<br />

20<br />

Tilly, Gotteserkenntnis, 65. Das gilt auch für Midrasch-haggadol Gen 12,1.<br />

21<br />

Krochmalnik, Abraham-Formel, 61. Von diesem Abrahambild weicht das bei Irenaeus,<br />

Epid. 24, FC 8/1, 48, gezeichnete Abrahambild ab (s.u.).<br />

22<br />

Van Ruiten, Abraham and the Nations in the Book of Jubilees, 112.<br />

23<br />

Berger, Buch der Jubiläen, 298; Sandmel, Philo’s Place, 49; Bechmann, Abraham, 25;<br />

Ego, Abraham, 30.<br />

24<br />

Dochhorn, Apokalypse des Mose, 122, 148.<br />

25<br />

Cf. Bernstein, »Rewritten Bible«, 175: »One group’s rewritten Bible could very well be<br />

another’s biblical text!« In den Qumranschriften neben dem Jubiläenbuch wird auf Gen<br />

12,1 offenbar nicht Bezug genommen, vgl. Mühling, Abraham, 211---248.<br />

26<br />

Philo, Abr. 77f. 84. In Philo, Abr. 77 hat δόξα den auch bei Platon begegnenden Sinn der<br />

bloßen Meinung im Gegensatz zu gesichertem Wissen. --- Die Tradition, Abraham als<br />

Ahnherr oder Vermittler astronomischer <strong>und</strong> astrologischer Erkenntnis zu benennen, hat


164<br />

Martin Meiser<br />

den; diesem wird klargemacht, dass einerseits das jüdische Bekenntnis zum Monotheismus<br />

mit der Vernunft in Einklang steht, dass andererseits Konversion<br />

zum Judentum auch deutliche soziale Konsequenzen haben muss, nämlich die<br />

Loslösung vom bisherigen nichtjüdischen Sozialkontext <strong>und</strong> des in ihm geltenden<br />

Denkhorizontes. 27<br />

Josephus zufolge schließt Abraham schon während seines Aufenthaltes in<br />

Chaldäa auf den Schöpfergott von der Erwägung aus, dass es der Schöpfung<br />

nicht selbst gelinge, die Wohlordnung aufrechtzuerhalten. 28 Auch in der im 2. Jh.<br />

n.Chr. entstandenen Apokalypse Abrahams geht es um die »rational interpretierten<br />

Naturbeobachtungen Abrahams«, die den Boden für seinen Offenbarungsempfang<br />

bereiten. 29<br />

In rabbinischer Tradition kann Ps 45[44],11 auf das Verlassen der Verehrung<br />

fremder Götter bezogen werden, Ps 47[46],10 auf Abrahams Status als des<br />

ersten der Proselyten: Es heißt »des Gottes Abrahams«, nicht »des Gottes Abrahams<br />

<strong>und</strong> Isaaks <strong>und</strong> Jakobs«. 30<br />

2.2 Christliche Tradition<br />

Die Frage, wie sich der innere Wandlungsprozess in Abraham <strong>und</strong> der Ruf Gottes<br />

an ihn sachlich zueinander verhalten, wird verschieden beantwortet.<br />

Irenaeus betont innerhalb eines Durchgangs durch die biblische Geschichte,<br />

dass der Gott suchende Abraham anfänglich schwach gewesen sei; Gottes Ruf<br />

nach Gen 12,1 ist Zeichen des göttlichen Erbarmens. 31 Origenes zufolge wurde<br />

Abraham, anders als Jeremia, erst später geheiligt (nicht schon bei seiner Geburt),<br />

als er nämlich das Land, seine Verwandtschaft <strong>und</strong> sein Vaterhaus verließ.<br />

32<br />

Ambrosiaster betrachtet den Ruf Gottes nach Gen 12,1 als Aufforderung<br />

zur Konversion, der Abraham unverzüglich gefolgt sei. 33 Hingegen findet Kyrill<br />

auch in griechisch-römischer Literatur weitergewirkt: Firmicus Maternus hat in seiner<br />

vorchristlichen Zeit aus einer dem Abraham zugeschriebenen astrologischen Schrift geschöpft<br />

(Klauser, Abraham, 19f, mit Verweis auf Firmicus Maternus, Mathesis 4,17,5;<br />

4,18,1).<br />

27<br />

Böhm, Rezeption, 154.<br />

28<br />

Vgl. Goodman, Josephus, 180.<br />

29<br />

Tilly, Gotteserkenntnis, 69, mit Verweis auf ApkAbr 7,6; 8,1.<br />

30<br />

Ersteres Midr. Tanhuma Lek 3 (Weinberg, Abraham, 239), mit Verweis auf Jer 2,27<br />

zum Thema des Götzendienstes, Letzteres bHag 3a.<br />

31<br />

Irenaeus, Epid. 24, FC 8/1, 48: »Und da er nach dem inneren Antrieb seiner Seele durch<br />

die ganze Welt herumzog, indem er forschte, wo Gott sei, <strong>und</strong> da er sich schwach erwies<br />

<strong>und</strong> das Ziel nicht fand, so erbarmte sich Gott seiner, der allein ihn in der Stille suchte,<br />

<strong>und</strong> erschien dem Abraham <strong>und</strong> gab sich durch das Wort <strong>und</strong> einen Lichtstrahl zu erkennen«<br />

(es folgt das Zitat von Gen 12,1).<br />

32<br />

Origenes, Hom. Jer. 1,5, OW 11, 114.<br />

33<br />

Ambrosiaster, Qu.V.N.T. 109,4, CSEL 50, 259. Ambrosius bietet in seiner zweibändigen<br />

Schrift über Abraham ein moralisches <strong>und</strong> ein allegorisches Traktat, kommt daher nicht


Der Auszug Abrahams 165<br />

von Alexandria zu der Aussage, Abraham sei aufgr<strong>und</strong> seiner inneren Loslösung<br />

vom Irrglauben seiner Umgebung von Gott angenommen worden, weswegen an<br />

ihn der Ruf Gen 12,1 erging. 34<br />

3. Die Frage nach der Motivation des Auszugs<br />

Abrahams<br />

3.1 Jüdische Tradition<br />

Der Autor des Jubiläenbuches schließt die narrative Lücke der mangelnden Begründung<br />

von Gen 12,1, indem die Aufforderung Gottes als Antwort auf die im<br />

Gebet in Haran geäußerte Frage Abrahams ergeht, ob er wieder nach Ur in<br />

Chaldäa gehen oder »hier« in Haran bleiben solle (Jub 12,21f). 35 Jub 12,28 spricht<br />

in auktorialer Perspektive von der Rückkehr Abrahams zu seinem Vater; in Jub<br />

12,31 wird dies als Erwägung dem Vater in den M<strong>und</strong> gelegt. Dieses Motiv ist<br />

aus Gen 11,31 genommen, wo diese Absicht dem Vater auktorial in den M<strong>und</strong><br />

gelegt wird. 36 Von einer Verwirklichung dieser Rückkehr Abrahams wird im Jubiläenbuch<br />

nichts berichtet, ebenso wenig vom Tod Terachs. <strong>Migration</strong>stheoretisch<br />

betrachtet wird im Jubiläenbuch Abrahams Auszug am wenigsten im Sinne<br />

einer durch bedrohliche äußere Umstände nahegelegten <strong>Migration</strong> Abrahams<br />

interpretiert.<br />

Josephus zufolge vollzieht Abraham die Flucht; er entzieht sich dem Konflikt,<br />

indem er freiwillig das Land verlässt. 37<br />

Im Liber Antiquitatum Biblicarum<br />

wird die Tatsache, dass Abraham nach Kanaan zieht, unmittelbar mit der Zerstreuung<br />

der Völker nach Gen 11,8 verknüpft. 38<br />

In der Abrahams-Apokalypse<br />

wird Gen 12,1 mit dem Konflikt zwischen Terach <strong>und</strong> Abraham begründet: Abraham<br />

soll das Vaterhaus verlassen, damit nicht auch er in den Sünden seines<br />

auf die äußeren Umstände des Auszugs Abrahams zu sprechen. Aus der kurzen Formel<br />

propria derelinquens cognoscens Deum in Ambrosius, In Luc. 3,7, CC.SL 14, 79, geht nicht<br />

hervor, wie sich Ambrosius das Verhältnis von Gotteserkenntnis <strong>und</strong> Auszug Abrahams<br />

gedacht hat.<br />

34<br />

Kyrill von Alexandria, C. Iul. I 10, GCS NF 20, 20f.<br />

35<br />

Abraham wird, so Müller, Abrahamgestalt, im Jubiläenbuch zum Prototyp der Essener<br />

gemacht. Gen 12,1 wird in den Texten, die für das Selbstverständnis der Gruppe basal<br />

sind, jedoch m.W. nicht rezipiert.<br />

36<br />

Dem biblischen Bericht nach wird diese Absicht aufgr<strong>und</strong> des Todes des Vaters (Gen<br />

11,32) nicht verwirklicht. Das Jubiläenbuch erwähnt den Tod des Vaters nicht.<br />

37<br />

Ant. I 154---157. --- In der griechisch-römischen antijüdischen Schriftstellerei, wie sie<br />

Josephus in Contra Apionem vorführt, hat Gen 11,24---12,1 keine Rolle gespielt.<br />

38<br />

LAB 7,5---8,1.


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Satz: <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong>, Oldenburg & text.doc Mirjam Becker, Leipzig<br />

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ISBN 978-3-374-07444-0 // eISBN (PDF) 978-3-374-07445-7<br />

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