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Benedikt Hensel | Christian Wetz (Hrsg.): Migration und Theologie (Leseprobe)

Im Kontext wissenschaftlich reflektierter Theologie sind Migration sowie die zugehörigen Themenfelder Flucht und Vertreibung im gesamten Fächerkanon zu einem breit diskutierten und hochaktuellen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden. Ein Desiderat ist allerdings die konsequente Reflexion des Themas in der Theologie des Alten wie auch des Neuen Testaments. Die unterschiedlichen theologischen Prägungen der Bücher und Sammlungen der Bibel lassen das Thema Migration in je anderen, aber zentralen Akzentuierungen zum Vorschein kommen. Der innovative Band schließt diese Lücke, indem die Einzelbeiträge thematisch breit aufgestellt die Geltungsansprüche alt- und neutestamentlicher Migrationsthematik im Okular ihres komplexen Verhältnisses von Historie, Theologie und literarischer Genese der Traditionskomplexe betrachten und hermeneutisch reflektieren.

Im Kontext wissenschaftlich reflektierter Theologie sind Migration sowie die zugehörigen Themenfelder Flucht und Vertreibung im gesamten Fächerkanon zu einem breit diskutierten und hochaktuellen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden. Ein Desiderat ist allerdings die konsequente Reflexion des Themas in der Theologie des Alten wie auch des Neuen Testaments. Die unterschiedlichen theologischen Prägungen der Bücher und Sammlungen der Bibel lassen das Thema Migration in je anderen, aber zentralen Akzentuierungen zum Vorschein kommen. Der innovative Band schließt diese Lücke, indem die Einzelbeiträge thematisch breit aufgestellt die Geltungsansprüche alt- und neutestamentlicher Migrationsthematik im Okular ihres komplexen Verhältnisses von Historie, Theologie und literarischer Genese der Traditionskomplexe betrachten und hermeneutisch reflektieren.

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Fremde Heimat 137<br />

Hunger fliehen. 4 Mit diesem traditionsgeschichtlichen Bezugspunkt deutet sich<br />

an, dass der Aufenthalt zwar gefährlich, doch nur von vorübergehender Natur<br />

sein wird. 5<br />

Das Familienschicksal erscheint auf den ersten Blick allerdings<br />

ungleich schlimmer als das der Erzeltern. Während des zehnjährigen<br />

Aufenthalts in Moab sterben der Ehemann sowie die beiden Söhne Naomis,<br />

sodass sie als kinderlose Witwe zurückbleibt. Gründe für den Tod der Männer<br />

werden nicht genannt. 6 Die Tatsache, dass die Söhne vor ihrem Tod moabitische<br />

Frauen heirateten <strong>und</strong> die Familie mehr als zehn Jahre in der Fremde zubringt<br />

(Rut 1,4), lässt zumindest nicht auf Anfeindungen seitens der Moabiter<br />

schließen. Viel eher scheint es, als sei der »Fremden«-Status der Familie גור)‏ in<br />

Rut 1,4) geachtet worden. 7 Damit bricht das Rutbuch mit der in anderen Texten<br />

verankerten Tradition der negativen Charakterisierung der Moabiter als<br />

ungastliches, ja feindliches Volk (vgl. u.a. Gen 19,37; Num 22,5---6; 24,10; Dtn<br />

23,4---7; Ri 3,28; Neh 13,1---2). Die Familie Naomis scheint in Moab temporär eine<br />

neue Heimat zu finden. Davon abgesehen bleibt das Bild Moabs im Rutbuch<br />

recht blass. 8<br />

Die Ereignisse nach der Rückkehr nach Bethlehem sind für die<br />

Erzählung von weitaus größerem Interesse (s. Kapitel 3).<br />

Weitaus anschaulicher wird das Leben in der Fremde im Tobitbuch geschildert.<br />

Das Gros der Handlung spielt in der assyrischen Diaspora, wo Tobit aus<br />

Naftali <strong>und</strong> seine Verwandten als Kriegsgefangene leben (Tob 1,2.10). In Ninive<br />

besitzt Tobit ein eigenes Haus mit Hof. Andere Deportierte leben in der Nachbarschaft<br />

(Tob 2,1---9). Im Laufe der Erzählung erblindet Tobit, wird aber schließlich<br />

durch die Hilfe des Engels Raphael geheilt. Anders als das Rutbuch berichtet<br />

das Tob von einer endogamen Hochzeit. Tobits Sohn Tobias heiratet eine ferne<br />

Verwandte, Sarra, die Tochter Raguëls, die einige h<strong>und</strong>ert Kilometer entfernt von<br />

Ninive, in Ekbatana lebt (Tob 3,7; 7---8). Wie im Rutbuch gibt es in der Fremde<br />

ausreichend Nahrung bzw. »Brot«, was im Tobitbuch jedoch nicht ganz<br />

unproblematisch ist. Tobit beklagt sich nämlich darüber, dass die Mehrheit seiner<br />

Volksgenossen in Ninive »von den Broten der Völker« (ἐκ τῶν ἄρτων τῶν<br />

ἐθνῶν in Tob 1,10) isst, während er sich von der Gelegenheit zur Verunreinigung<br />

4<br />

Vgl. Köhlmoos, Ruth, 2---3 <strong>und</strong> Mathys, Anmerkungen, 356.<br />

5<br />

Ähnliches legt sich mit Blick auf die Rede von den »Gefilde Moabs« ( מואב ‏(שׂדי in Rut 1,1<br />

nahe, die Erinnerungen an den einstigen Durchzug Israels durch das Gebiet Moabs<br />

während der Wüstenwanderung evoziert (vgl. Num 21,20).<br />

6<br />

Bekanntlich verraten bereits die hebräischen Eigennamen der beiden Söhne Entschei-<br />

‏(כליון)‏ »Kiljon« »krank werden« <strong>und</strong> in ‏,חלה klingt das Verb ‏(מחלון)‏ »Machlon« dendes: In<br />

die Wurzel כלה »am Ende sein« an, vgl. Köhlmoos, Ruth, 5. Es ist deshalb anzunehmen,<br />

dass den beiden auch in Bethlehem kein sonderlich langes Leben beschieden gewesen<br />

wäre.<br />

7<br />

Zu den sozialgeschichtlichen Hintergründen der auch außerhalb Israels bekannten<br />

‏.גור Art. Rechtsinstitution des Fremdenstatus vgl. z.B. Kellermann,<br />

8<br />

Vgl. Mathys, Anmerkungen, 354.

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