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Benedikt Hensel | Christian Wetz (Hrsg.): Migration und Theologie (Leseprobe)

Im Kontext wissenschaftlich reflektierter Theologie sind Migration sowie die zugehörigen Themenfelder Flucht und Vertreibung im gesamten Fächerkanon zu einem breit diskutierten und hochaktuellen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden. Ein Desiderat ist allerdings die konsequente Reflexion des Themas in der Theologie des Alten wie auch des Neuen Testaments. Die unterschiedlichen theologischen Prägungen der Bücher und Sammlungen der Bibel lassen das Thema Migration in je anderen, aber zentralen Akzentuierungen zum Vorschein kommen. Der innovative Band schließt diese Lücke, indem die Einzelbeiträge thematisch breit aufgestellt die Geltungsansprüche alt- und neutestamentlicher Migrationsthematik im Okular ihres komplexen Verhältnisses von Historie, Theologie und literarischer Genese der Traditionskomplexe betrachten und hermeneutisch reflektieren.

Im Kontext wissenschaftlich reflektierter Theologie sind Migration sowie die zugehörigen Themenfelder Flucht und Vertreibung im gesamten Fächerkanon zu einem breit diskutierten und hochaktuellen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden. Ein Desiderat ist allerdings die konsequente Reflexion des Themas in der Theologie des Alten wie auch des Neuen Testaments. Die unterschiedlichen theologischen Prägungen der Bücher und Sammlungen der Bibel lassen das Thema Migration in je anderen, aber zentralen Akzentuierungen zum Vorschein kommen. Der innovative Band schließt diese Lücke, indem die Einzelbeiträge thematisch breit aufgestellt die Geltungsansprüche alt- und neutestamentlicher Migrationsthematik im Okular ihres komplexen Verhältnisses von Historie, Theologie und literarischer Genese der Traditionskomplexe betrachten und hermeneutisch reflektieren.

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Helge Bezold<br />

zur Zeit der assyrischen Kriegsgefangenschaft. Nur das Esterbuch erzählt aus<br />

Sicht des in Persien verbliebenen jüdischen Volkes zur Zeit von Xerxes I. (486---<br />

465 v.Chr.), also Jahrzehnte nachdem die Rückkehr aus dem Exil möglich geworden<br />

war. Somit umspannen die Erzählungen die drei Epochen der Geschichte<br />

Israels <strong>und</strong> Judas: die vorexilische, die exilische <strong>und</strong> die nachexilische Zeit. Aus<br />

dieser Verteilung spricht eine wichtige Überzeugung: In allen Epochen erlebte<br />

das Gottesvolk Flucht <strong>und</strong> Vertreibung. Zu jeder Zeit war man darauf angewiesen,<br />

ein Leben in der Fremde zu gestalten <strong>und</strong> sich zu Mitgliedern anderer<br />

Volksgruppen zu verhalten.<br />

In verschiedenem Maße nehmen die Bücher Rut, Tobit <strong>und</strong> Ester auf ältere<br />

biblische Traditionen, allen voran auf die Tora, Bezug. Dies geschieht nicht theoretisch<br />

<strong>und</strong> abstrakt, sondern auf anschauliche Art <strong>und</strong> Weise. Die unterhaltsamen<br />

<strong>und</strong> bisweilen hochdramatischen Erzählungen wollen nicht als historische<br />

Tatsachenberichte, sondern als Beispielerzählungen verstanden werden.<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> älterer Überlieferungen <strong>und</strong> angesichts der nachexilischen<br />

Realität von Diaspora <strong>und</strong> <strong>Migration</strong> loten sie Möglichkeiten einer »fremden<br />

Heimat« aus. Der vorliegende Beitrag bringt die unterschiedlichen Konzeptionen<br />

der fremden Heimat in den Büchern Tobit, Rut <strong>und</strong> Ester miteinander ins<br />

Gespräch <strong>und</strong> zeigt so auf, wie vielfältig die narrative Reflexion über die Themenfelder<br />

<strong>Migration</strong>, Leben in der Fremde <strong>und</strong> Umgang mit Fremden in nachexilischer<br />

Zeit ausfiel. Ein abschließender historischer Ausblick richtet den Blick<br />

auf die historischen bzw. soziopolitischen Hintergründe der Erzählungen.<br />

Im Folgenden kommen zunächst die drei Gebiete Moab (Rut), Assyrien<br />

(Tobit) <strong>und</strong> Persien (Ester) als geographische <strong>und</strong> soziale Räume in den Blick, in<br />

denen sich die israelitischen bzw. jüdischen Figuren als Fremde aufhalten.<br />

2. Die Fremde<br />

Das Rutbuch verhandelt die Frage nach dem Leben in der Fremde von zwei<br />

Blickrichtungen her: Die ersten sechs Verse spielen im östlich des Jordans<br />

gelegenen Land Moab, wohin die Familie Naomis aus Bethlehem vor einer<br />

Hungersnot flüchtet. 3 Der Fokus der Erzählung liegt jedoch auf Bethlehem, das<br />

sich wiederum für die Moabiterin Rut als Fremde präsentiert. Diese<br />

Verschränkung der Erzählperspektiven prägt die Rutgeschichte entscheidend. In<br />

Bethlehem beginnt die Handlung: Naomis Familie muss ihre Heimatstadt ---<br />

eigentlich ein »Haus des Brotes« לחם)‏ ‏(בית --- aufgr<strong>und</strong> einer Hungersnot<br />

verlassen. Die so nur in Gen 12,10 <strong>und</strong> 26,1 belegte Wendung<br />

(»<strong>und</strong> es geschah eine Hungersnot im Land«) verbindet das Rutbuch mit der<br />

Erzelterntradition: Auch die Familien von Abraham <strong>und</strong> Isaak mussten einst vor<br />

ויהי רעב בארץ<br />

3<br />

Vgl. zum Rutbuch auch den Beitrag von Melanie Köhlmoos in diesem Band.

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