17.07.2023 Aufrufe

JD aktuell_7-8-23

JD aktuell-Ausgabe Juli-August 2023

JD aktuell-Ausgabe Juli-August 2023

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Menschen<br />

Engagiert für den Nationalsozialismus<br />

Richard Lallathin forschte zum ehemaligen Johannes-Diakonie-Vorstand Kurt Rother<br />

Menschen<br />

Mosbach. Kurt Rother hat sich in<br />

die Geschichte der Johannes-Diakonie<br />

eingeschrieben. Der Vorstandsvorsitzende<br />

der damaligen<br />

Johannes-Anstalten stabilisierte<br />

ab Mitte der sechziger Jahre die<br />

Einrichtung wirtschaftlich, trieb<br />

deren Ausbau voran und stand<br />

für eine moderne Ausbildung von<br />

Fachkräften der Behindertenhilfe.<br />

So weit, so bekannt. Dass Rother<br />

ein engagierter Nationalsozialist<br />

war und hohe Ränge in SA und<br />

NS-Studentenschaft bekleidete,<br />

ergaben nun Nachforschungen<br />

des Pfarrers der Johannes-Diakonie,<br />

Richard Lallathin, die dieser<br />

rund 70 Zuhörerinnen und Zuhörern<br />

bei einem Vortrag im fideljo<br />

vorstellte.<br />

Der Vorstandsvorsitzende der<br />

Johannes-Diakonie, Martin Adel,<br />

wies eingangs auf die Verantwortung<br />

hin, kritisch und offen der eigenen<br />

Vergangenheit gegenüber<br />

zu sein: „Wir müssen zu unserer<br />

Geschichte in ihrer Differenziertheit<br />

stehen.“ Dekan Folkhard Krall<br />

betonte die Freiheit und Verpflichtung<br />

der Nachkriegsgeneration,<br />

sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus<br />

zu beschäftigen.<br />

Adel und Krall dankten Lallathin<br />

für seine Forschungsarbeit.<br />

Auf Suche in Internet und Archiven<br />

Seine akribischen Recherchen<br />

führten Richard Lallathin zu bisher<br />

unbekannten Quellen im Internet<br />

und in mehrere Archive, sogar bis<br />

ins frühere Ostpreußen. In diesem<br />

Teil des damaligen Deutschen Reiches<br />

verbrachte der 1912 geborene<br />

Rother Kindheit, Jugend und frühes<br />

Erwachsenenalter. Er studierte<br />

in Königsberg Theologie, dann<br />

Jura – und engagierte sich ab den<br />

dreißiger Jahren für den Nationalsozialismus.<br />

Er war Mitglied der<br />

Hitlerjugend, des Nationalsozialistischen<br />

Deutschen Studentenbundes<br />

und der SA. Jedoch ging<br />

Kurt Rothers Engagement weit<br />

über bloße Mitgliedschaften hinaus.<br />

Der angehende Jurist kletterte<br />

in der SA die Rangleiter empor<br />

und brachte es bis zum Standartenführer.<br />

In seiner Heimat Ostpreußen<br />

wurde er Gaustudentenführer<br />

und bewegte sich fortan<br />

auf der zweithöchsten Führungsebene<br />

der NS-Studentenschaft.<br />

Offenbar genoss Rother so viel<br />

Vertrauen in der Nazi-Führung,<br />

dass er 1943 nach Kriegseinsätzen<br />

als Soldat in Polen, Frankreich und<br />

Russland als Inspekteur der Studentenschaft<br />

in München eingesetzt<br />

wurde, um an der dortigen<br />

Universität auf Linientreue zu achten.<br />

Ein Schriftstücke aus Rothers<br />

Leben vor 1945 stellte Richard<br />

Lallathin bei seinem Vortrag ausführlich<br />

vor. In dem Aufsatz „An<br />

die Gebildeten unserer Zeit“ rief<br />

Rother darin 1944 angesichts der<br />

drohenden Niederlage im Krieg<br />

zu Gefolgschaft auf und hetzte<br />

gegen den „ewigen Juden“ – ein<br />

leidenschaftliches Plädoyer für<br />

den im Untergang befindlichen<br />

Nationalsozialismus, wie Lallathin<br />

in seinem Vortrag darlegte.<br />

Sein Engagement für den Nationalsozialismus<br />

verleugnete Rother<br />

nach dem Krieg. Der mehrfach beförderte<br />

SA- und Studentenführer<br />

machte falsche Angaben, wurde<br />

als minderbelastet eingestuft und<br />

konnte sich ohne weitere Verfahren<br />

ein neues Leben aufbauen.<br />

Kurt Rother brachte es zum charismatischen<br />

und weithin anerkannten<br />

Unternehmensvorstand,<br />

wurde Schwarzacher Ehrenbürger<br />

und bekam die Verdienstmedaille<br />

des Landes Baden-Württemberg.<br />

Was bewegte Rother?<br />

Handelte es sich beim Einsatz<br />

Rothers für die Diakonie um eine<br />

innere Bekehrung? Diese Frage bewegte<br />

nicht nur Lallathin, sondern<br />

auch sein Publikum. Klären lässt<br />

sie sich jedoch nicht. Denn zumindest<br />

nach außen und öffentlich<br />

vermied Rother später jede Äußerung<br />

zum Dritten Reich. Folgerichtig<br />

wurden drängende Fragen,<br />

etwa nach dem Schicksal der ermordeten<br />

NS-„Euthanasie“-Opfer<br />

aus der Johannes-Diakonie, erst<br />

nach seinem Abschied aufgearbeitet.<br />

Stattdessen beschrieb sich<br />

Rother in seinen Erinnerungen als<br />

überzeugten Diakoniker. „Seine<br />

diakonische Grundhaltung und<br />

seine NS-Verstrickung erscheinen<br />

uns heute widersprüchlich“, erklärt<br />

dazu Lallathin. „Er war klug<br />

genug, nach außen mit dem Nationalsozialismus<br />

abzuschließen.“<br />

Was den Leiter der Johannes-Anstalten<br />

in seinem Leben vor 1945<br />

bewegte und antrieb und wie er<br />

sich nach 1945 innerlich dazu stellte,<br />

wird wohl größtenteils ein Rätsel<br />

bleiben. Und trotzdem ist es<br />

wichtig, dass dieses Kapitel seiner<br />

Geschichte und damit der Johannes-Diakonie<br />

beleuchtet wurde.<br />

Darin war sich das Publikum nach<br />

Lallathins Vortrag einig. AL<br />

34<br />

<strong>JD</strong> <strong>aktuell</strong> 7-8/<strong>23</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!