JD aktuell_7-8-23
JD aktuell-Ausgabe Juli-August 2023
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Menschen<br />
Engagiert für den Nationalsozialismus<br />
Richard Lallathin forschte zum ehemaligen Johannes-Diakonie-Vorstand Kurt Rother<br />
Menschen<br />
Mosbach. Kurt Rother hat sich in<br />
die Geschichte der Johannes-Diakonie<br />
eingeschrieben. Der Vorstandsvorsitzende<br />
der damaligen<br />
Johannes-Anstalten stabilisierte<br />
ab Mitte der sechziger Jahre die<br />
Einrichtung wirtschaftlich, trieb<br />
deren Ausbau voran und stand<br />
für eine moderne Ausbildung von<br />
Fachkräften der Behindertenhilfe.<br />
So weit, so bekannt. Dass Rother<br />
ein engagierter Nationalsozialist<br />
war und hohe Ränge in SA und<br />
NS-Studentenschaft bekleidete,<br />
ergaben nun Nachforschungen<br />
des Pfarrers der Johannes-Diakonie,<br />
Richard Lallathin, die dieser<br />
rund 70 Zuhörerinnen und Zuhörern<br />
bei einem Vortrag im fideljo<br />
vorstellte.<br />
Der Vorstandsvorsitzende der<br />
Johannes-Diakonie, Martin Adel,<br />
wies eingangs auf die Verantwortung<br />
hin, kritisch und offen der eigenen<br />
Vergangenheit gegenüber<br />
zu sein: „Wir müssen zu unserer<br />
Geschichte in ihrer Differenziertheit<br />
stehen.“ Dekan Folkhard Krall<br />
betonte die Freiheit und Verpflichtung<br />
der Nachkriegsgeneration,<br />
sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus<br />
zu beschäftigen.<br />
Adel und Krall dankten Lallathin<br />
für seine Forschungsarbeit.<br />
Auf Suche in Internet und Archiven<br />
Seine akribischen Recherchen<br />
führten Richard Lallathin zu bisher<br />
unbekannten Quellen im Internet<br />
und in mehrere Archive, sogar bis<br />
ins frühere Ostpreußen. In diesem<br />
Teil des damaligen Deutschen Reiches<br />
verbrachte der 1912 geborene<br />
Rother Kindheit, Jugend und frühes<br />
Erwachsenenalter. Er studierte<br />
in Königsberg Theologie, dann<br />
Jura – und engagierte sich ab den<br />
dreißiger Jahren für den Nationalsozialismus.<br />
Er war Mitglied der<br />
Hitlerjugend, des Nationalsozialistischen<br />
Deutschen Studentenbundes<br />
und der SA. Jedoch ging<br />
Kurt Rothers Engagement weit<br />
über bloße Mitgliedschaften hinaus.<br />
Der angehende Jurist kletterte<br />
in der SA die Rangleiter empor<br />
und brachte es bis zum Standartenführer.<br />
In seiner Heimat Ostpreußen<br />
wurde er Gaustudentenführer<br />
und bewegte sich fortan<br />
auf der zweithöchsten Führungsebene<br />
der NS-Studentenschaft.<br />
Offenbar genoss Rother so viel<br />
Vertrauen in der Nazi-Führung,<br />
dass er 1943 nach Kriegseinsätzen<br />
als Soldat in Polen, Frankreich und<br />
Russland als Inspekteur der Studentenschaft<br />
in München eingesetzt<br />
wurde, um an der dortigen<br />
Universität auf Linientreue zu achten.<br />
Ein Schriftstücke aus Rothers<br />
Leben vor 1945 stellte Richard<br />
Lallathin bei seinem Vortrag ausführlich<br />
vor. In dem Aufsatz „An<br />
die Gebildeten unserer Zeit“ rief<br />
Rother darin 1944 angesichts der<br />
drohenden Niederlage im Krieg<br />
zu Gefolgschaft auf und hetzte<br />
gegen den „ewigen Juden“ – ein<br />
leidenschaftliches Plädoyer für<br />
den im Untergang befindlichen<br />
Nationalsozialismus, wie Lallathin<br />
in seinem Vortrag darlegte.<br />
Sein Engagement für den Nationalsozialismus<br />
verleugnete Rother<br />
nach dem Krieg. Der mehrfach beförderte<br />
SA- und Studentenführer<br />
machte falsche Angaben, wurde<br />
als minderbelastet eingestuft und<br />
konnte sich ohne weitere Verfahren<br />
ein neues Leben aufbauen.<br />
Kurt Rother brachte es zum charismatischen<br />
und weithin anerkannten<br />
Unternehmensvorstand,<br />
wurde Schwarzacher Ehrenbürger<br />
und bekam die Verdienstmedaille<br />
des Landes Baden-Württemberg.<br />
Was bewegte Rother?<br />
Handelte es sich beim Einsatz<br />
Rothers für die Diakonie um eine<br />
innere Bekehrung? Diese Frage bewegte<br />
nicht nur Lallathin, sondern<br />
auch sein Publikum. Klären lässt<br />
sie sich jedoch nicht. Denn zumindest<br />
nach außen und öffentlich<br />
vermied Rother später jede Äußerung<br />
zum Dritten Reich. Folgerichtig<br />
wurden drängende Fragen,<br />
etwa nach dem Schicksal der ermordeten<br />
NS-„Euthanasie“-Opfer<br />
aus der Johannes-Diakonie, erst<br />
nach seinem Abschied aufgearbeitet.<br />
Stattdessen beschrieb sich<br />
Rother in seinen Erinnerungen als<br />
überzeugten Diakoniker. „Seine<br />
diakonische Grundhaltung und<br />
seine NS-Verstrickung erscheinen<br />
uns heute widersprüchlich“, erklärt<br />
dazu Lallathin. „Er war klug<br />
genug, nach außen mit dem Nationalsozialismus<br />
abzuschließen.“<br />
Was den Leiter der Johannes-Anstalten<br />
in seinem Leben vor 1945<br />
bewegte und antrieb und wie er<br />
sich nach 1945 innerlich dazu stellte,<br />
wird wohl größtenteils ein Rätsel<br />
bleiben. Und trotzdem ist es<br />
wichtig, dass dieses Kapitel seiner<br />
Geschichte und damit der Johannes-Diakonie<br />
beleuchtet wurde.<br />
Darin war sich das Publikum nach<br />
Lallathins Vortrag einig. AL<br />
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