CliniCum neuropsy 04/2023
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9. Kongress der<br />
European Academy<br />
of Neurology (EAN),<br />
Budapest &<br />
virtuell, 1.–4.7.23<br />
gemessen als NEDA (No Evidence for Disease Activity),<br />
festgestellt werden. 1<br />
Bislang war allerdings nicht bekannt,<br />
wie sich die aHSCT auf den Endpunkt PIRA (Progression<br />
Independent of Relapse Activity) auswirkt. PIRA<br />
gilt heute als wichtigster Treiber der Behinderungsprogression<br />
bei früher schubförmiger MS und kann durch<br />
DMTs nur wenig beeinflusst werden.<br />
Kein Vorteil von aHSCT bei primärem Endpunkt, jedoch<br />
bei sekundären Endpunkten. Eine italienische Gruppe<br />
untersuchte nun in einer retrospektiven Single-Center-<br />
Studie den Effekt von aHSCT auf PIRA im Vergleich zu Natalizumab.<br />
2<br />
Dazu wurden Patient:innen ausgewertet, die<br />
am Zentrum an einer offenen Studie zur Stammzelltransplantation<br />
bei MS teilgenommen hatten. Die Kontrollgruppe<br />
waren Patient:innen, die am Zentrum während<br />
des Studienzeitraums zwischen 2007 und 2018 eine Behandlung<br />
mit Natalizumab erhalten hatten. Der Therapie<br />
mit Natalizumab oder der aHSCT waren verschiedene<br />
andere DMTs vorausgegangen, wobei Interferone am<br />
häufigsten eingesetzt worden waren. Die Kohorte war mit<br />
bis zu sieben DMTs stark vorbehandelt, die große Mehrheit<br />
hatte zwischen einer und drei DMTs erhalten. In der<br />
aHSCT-Gruppe hatten rund 40 Prozent bereits Natalizumab<br />
erhalten und die Therapie wegen ihres JCV-Titers<br />
oder wegen mangelnder Wirksamkeit abbrechen müssen.<br />
Musste Natalizumab abgesetzt werden, so wurden die<br />
Patient:innen auf andere DMTs umgestellt.<br />
Die Daten wurden neben dem primären Endpunkt PIRA<br />
auch hinsichtlich einer ganzen Reihe sekundärer Endpunkte<br />
wie nach sechs Monaten bestätigter EDSS(Expanded<br />
Disability Status Scale)-Verschlechterung, schubassoziierter<br />
Verschlechterung (Relapse-Associated Worsening<br />
– RAW) und Schüben ausgewertet.<br />
Die aHSCT brachte im Hinblick auf PIRA über vier Jahre<br />
keinen Behandlungsvorteil, wobei die PIRA-Rate in beiden<br />
Studienarmen niedrig war. Allerdings brachen im<br />
Natalizumab(NTZ)-Arm fast alle Patient:innen die Therapie<br />
nach im Median 24 Dosen ab, wofür wiederum mehrheitlich<br />
der JVC-Titer ausschlaggebend war. Nach Umstellung<br />
auf weniger wirksame DMTs kam es auch zu mehr<br />
Behinderung. So wurde nach acht Jahren in der NTZ-<br />
(plus folgende DMTs-)Gruppe zu 64 Prozent Behinderungsprogression<br />
festgestellt, was in der aHSCT-Gruppe<br />
lediglich bei elf Prozent der Kohorte der Fall war.<br />
Ein sehr deutlicher Vorteil zeigte sich für die aHSCT-<br />
Gruppe im Hinblick auf die Schubaktivität: aHSCT-<br />
Patien:tinnen waren über acht Jahre schubfrei, während<br />
es in der NTZ-Gruppe innerhalb von fünf Jahren bei 79<br />
Prozent zu Schüben kam. Hinsichtlich PIRA zeigte sich bei<br />
längerer Beobachtungszeit und damit vielen NTZ-Abbrüchen<br />
ebenfalls ein deutlicher Vorteil für die Stammzelltransplantation<br />
(11% vs. 42% nach acht Jahren), wobei Signifikanz<br />
allerdings knapp verfehlt wurde (p=0,068). Als<br />
therapieunabhängige Prädiktoren von PIRA erwiesen sich<br />
Alter und Behinderung (EDSS) bei Therapiebeginn (HR<br />
1,12 bzw. 1,59).<br />
1 Zhukovsky C et al., J Neurol Neurosurg Psychiatry 2021; 92(2):189–94<br />
2 Mariottini A et al.: Autologous hematopoietic stem cell<br />
transplantation may halt PIRA in early relapsing-remitting<br />
multiple sclerosis. EAN <strong>2023</strong>; Abstract OPR-017<br />
❙<br />
Kranke Gehirne: Verlust an gesunden Lebensjahren und hohe Kosten<br />
Erkrankungen des Gehirns verursachen ebenso<br />
hohen Schaden wie kardiovaskuläre Erkrankungen.<br />
Dies zeigen aktuelle Daten aus der<br />
„Global Burden of Disease (GBD)“-Studie, die<br />
im Rahmen des diesjährigen EAN-Kongress<br />
präsentiert wurden. Daraus ergibt sich eine<br />
gewaltige Belastung, die mit 1,22 Billionen<br />
US-Dollar an Verdienstentgang für die Betroffenen<br />
und 1,14 Billionen US-Dollar an direkten<br />
Behandlungskosten beziffert wird.<br />
Der Verlust an Lebensjahren in voller Gesundheit<br />
(Disability-Adjusted Life Years – DALYs)<br />
wird von den Autor:innen mit 406 Millionen<br />
allein für das Jahr 2021 beziffert. Das entspricht<br />
15 Prozent des gesamten Verlustes an<br />
Gesundheit in diesem Zeitraum und übertrifft<br />
bei Weitem den Verlust durch Krebs, der mit<br />
260 Millionen DALYs angegeben wird.<br />
Ausschlaggebend dafür sind stark steigende<br />
Inzidenzen und Prävalenzen einiger neurologischer<br />
Erkrankungen. So nahmen die Zahlen<br />
der Alzheimer-Patient:innen und der Schlaganfälle<br />
seit 1990 um 178 bzw. 98 Prozent zu.<br />
Weiter starke Zunahme neurologischer<br />
Erkrankungen erwartet. Als wichtigsten Treiber<br />
dieser Entwicklung bezeichnet Studienautorin<br />
Shayla Smith, Epidemiologin am Institute<br />
for Health Metrics and Evaluation (IHME) der<br />
University of Washington, die alternde Bevölkerung.<br />
Das IHME koordiniert die GBD-Studie<br />
seit 2007 und verarbeitet mehr als 200.000<br />
Datenquellen, um populationsbasierte Gesundheitstrends<br />
über die Zeit zu berechnen.<br />
Die aktuelle demografische Entwicklung werde<br />
die Zunahme neurologischer Erkrankungen fördern,<br />
so Smith: „Bis zum Jahr 2050 wird die<br />
Zahl der Menschen zwischen 65 und 79 Jahren<br />
und damit der Menschen mit erhöhtem Risiko<br />
für Schlaganfall und Demenz stark zunehmen.<br />
Darüber hinaus hat die COVID-19-Pandemie zu<br />
einer Zunahme psychischer Erkrankungen geführt,<br />
da die Menschen gezwungen waren, sich<br />
zu isolieren, und die sozialen Netzwerke zusammengebrochen<br />
sind. Weiters untersuchen<br />
wir auch andere potenzielle Treiber von Erkrankungen<br />
des Gehirns wie Bildungsniveau, Übergewicht<br />
und Rauchen. Daten wie diese sind<br />
wichtig, um evidenzbasierte Planung und die<br />
Allokation von Ressourcen zu ermöglichen.“<br />
Dies werde notwendig sein, da man mit einer<br />
Zunahme des Problems und damit mit erheblichen<br />
Herausforderungen für Gesundheitssysteme,<br />
Arbeitgeber, Familien und nicht zuletzt<br />
für die Betroffenen selbst rechne. Das sei umso<br />
besorgniserregender, als man bereits heute<br />
nicht genügend Personal habe, um die alternde<br />
Bevölkerung adäquat zu versorgen. In vielen<br />
Regionen sei auch die neurologische Versorgung<br />
nicht ausreichend gegeben.<br />
Bessere Therapien und präventive Maßnahmen.<br />
Dem stehen positive Entwicklungen in<br />
der Therapie gegenüber. Die Auswirkungen<br />
von Schlaganfällen haben seit 1990 abgenommen,<br />
da bessere Behandlungsmethoden zur<br />
Verfügung stehen. Ähnliche Erfolge wünsche<br />
man sich – in Kombination mit besserer Prävention<br />
– auch für andere Indikationen, so<br />
Smith, die auch darauf hinweist, dass ein globaler<br />
Konsensus, was „Brain Health“ ausmache,<br />
bislang fehlt. Soweit man aus der Literatur<br />
heute ableiten könne, bestehe die beste<br />
Prävention in einem gesunden Lebensstil und<br />
dem Management von Erkrankungen wie<br />
Bluthochdruck und Diabetes. Alkoholkonsum<br />
sollte auf ein vernünftiges Maß begrenzt und<br />
Rauchen vermieden werden. Ausreichender<br />
Schlaf, gesunde Ernährung sowie physische<br />
und mentale Aktivität tragen ebenfalls zu<br />
einem gesunden Gehirn bei, erläutert Smith.<br />
Gillespie K et al.: Understanding brain health around the<br />
world. EAN <strong>2023</strong>; Abstract EPO-236<br />
12 <strong>neuropsy</strong> CC 4/23