27.09.2023 Aufrufe

CliniCum neuropsy 04/2023

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Foto: SnapVault/stock.adobe.com<br />

me zur Psychosefrüherkennung die gewünschten Effekte<br />

zeigen, beantwortet OÄ Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Katrin<br />

Skala von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie,<br />

Wien, eindeutig mit ja: „Das weiß man sowohl<br />

aus der klinischen Erfahrung als auch aus diversen Langzeitstudien.<br />

Je früher und besser interveniert wird, desto<br />

besser sind die prognostischen Faktoren. Da geht es nicht<br />

so sehr um die direkte Symptomebene, sondern um den<br />

weiteren Lebensverlauf. Wenn ich bei einer frühen psychotischen<br />

Episode, etwa mit 15 Jahren, für vier Monate<br />

aus dem Leben draußen bin, dann ist das Risiko, dass ich<br />

die Schule abbrechen werde, weitaus höher, als wenn ich<br />

relativ zügig Begleitung, Behandlung und Versorgung finde,<br />

die dann auch darauf achtet, dass ich wieder in das<br />

Schulsetting zurückkomme.“<br />

Skala sieht hier nicht nur auf individueller, sondern auch<br />

auf gesellschaftlicher Ebene einen großen Benefit: „Ich erinnere<br />

mich an viele Geschichten, nicht unbedingt bei Psychosen,<br />

aber zum Beispiel bei Traumafolgestörungen, wo<br />

uns das Jugendgericht angerufen und gesagt hat: 13¾ Jahre,<br />

demnächst eine Gefängniskarriere vor sich. Und nach<br />

vielen Jahren intensivster 2:1-Betreuung haben diese Personen<br />

dann irgendwann die Kurve gekriegt. Da ist das Delta,<br />

auch das finanzielle, unendlich groß: zwischen einem<br />

guten Lebensweg, vielleicht sogar am ersten Arbeitsmarkt,<br />

wie bei einigen dieser Kinder, und dem Pendeln zwischen<br />

Psychiatrie und Gefängnis für die nächsten 60 Jahre.“<br />

„Wenn ich nur das Versorgungssystem in die Kosten-Nutzen-Rechnung<br />

hineinnehme, dann wird es sicher teuer“,<br />

ergänzt Schrank. „Aber wenn ich den gesamtgesellschaftlichen<br />

Nutzen betrachte, den Gewinn an Qualität in der<br />

Gesellschaft, an Frieden, den Zusammenhalt usw. miteinbeziehe,<br />

der sicher auch monetär zu beziffern wäre, dann<br />

würde die Rechnung anders ausschauen.“<br />

Hinschauen und Hilfe aktiv anbieten<br />

Ein Problem in der Versorgung ist auch, dass vorhandene<br />

Hilfsangebote oft nicht ankommen. Entweder, weil Kinder<br />

und Jugendliche nichts von den jeweiligen Angeboten<br />

wissen, oder weil einfach weggeschaut oder eine psychische<br />

Erkrankung nicht ernst genommen wird. „Selbst<br />

wenn Schüler:innen merken: ,Ok, mit mir ist etwas falsch‘,<br />

kommt es im familiären Umfeld oft dazu, dass das nicht<br />

ernst genommen wird. Oder es wird sogar abgelehnt, dass<br />

diese Person Hilfe bekommt“, berichtet Frisch. „Und hier<br />

eben nicht wegzuschauen, sondern aktiv auf die Betroffenen<br />

zuzugehen, Hilfe anzubieten, ist enorm wichtig. Weil<br />

sich durch die Stigmatisierung viele einfach nicht trauen,<br />

aktiv Hilfe in Anspruch zu nehmen.“<br />

Je früher und besser interveniert<br />

wird, desto besser ist die Prognose.<br />

„Auf der anderen Seite berichten Lehrer:innen zunehmend<br />

von Jugendlichen, die in der Psychiatrie waren und<br />

dann ohne Scheu ihre Diagnose vor sich hertragen, etwa:<br />

,Ich bin die Borderlinerin‘“, kommentiert Prof. Dr. Thomas<br />

Bock, Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychiatrie,<br />

Hamburg, aus dem Auditorium. „TikTok ist<br />

eine Art Früherkennung, die uns alle überholt. Und an<br />

dieser Stelle müssen wir kritisch werden mit den Diagnosen<br />

und diese Art von Zuordnung hinterfragen.“<br />

Ansprechen und Stigmatisierung durchbrechen<br />

Soll man also überhaupt Diagnosen vergeben? Diese Frage<br />

kommt ebenfalls aus dem Publikum – verbunden mit<br />

der Sorge, Kindern einen Stempel aufzudrücken und damit<br />

die Stigmatisierung zu verstärken. „Seit ich 15 war,<br />

habe ich verschiedene Hilfsangebote in Anspruch genommen,<br />

aber keine Diagnose bekommen“, meldet sich eine<br />

weitere Person aus dem Publikum zu Wort. „Durch soziale<br />

Medien habe ich herausgefunden, was Autismus ist, dass<br />

das auf mich zutrifft, und habe mich diagnostizieren lassen.<br />

Viele sagen: Warum brauchen wir diese Labels? Aber<br />

erst durch das Label Autismus konnte ich die richtigen<br />

Angebote in Anspruch nehmen. Wenn jemand also stolz<br />

die Diagnose ,Ich bin Borderliner‘ vor sich herträgt, dann<br />

hat das vielleicht damit zu tun, dass er damit weiß, was er<br />

hat und wie er damit umgehen kann.“<br />

Eine weitere Person aus dem Publikum plädiert für den<br />

offenen Umgang mit Diagnosen: „Zu sagen, man will Kindern<br />

den Stempel nicht aufdrücken, verstärkt eigentlich<br />

nur die Stigmata! Denn wenn man nicht drüber spricht,<br />

dann ändert man auch nichts.“<br />

Für Schrank hat das Diagnose-vor-sich-Hertragen auch<br />

mit Autonomie und Identitätsfindung zu tun. Sie berichtet<br />

von einer Studie, die ihre Arbeitsgruppe zur Publikation<br />

eingereicht hat: „Menschen zwischen 15 und 25 Jahren,<br />

die mehr Netflix-Serien geschaut haben, in denen Menschen<br />

mit Autismusspektrumstörungen mit positiver Valenz<br />

dargestellt wurden, haben sich selbst signifikant häufiger<br />

als dem Autismusspektrum zugehörig eingeordnet.<br />

Vieles prasselt auf uns ein und es geht um die Suche: Wer<br />

bin ich? Und dann kann ich mal diese Diagnose haben<br />

und mal jene. Wichtig ist, dass die Fluidität gewahrt wird,<br />

also, dass ich vielleicht heuer die Borderlinerin bin und<br />

nächstes Jahr vielleicht ADHS habe. Dass man die Identität<br />

noch ausprobieren darf!“<br />

4 / 23<br />

CC<br />

<strong>neuropsy</strong><br />

27

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!