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CliniCum neuropsy 04/2023

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Von den drei „Blickrichtungen“ der ZOS – Abstinenz, Reduktion<br />

(weniger und seltener, Punktabstinenz) oder<br />

Schadensminderung (gleiche Konsummenge, aber weniger<br />

schädliche Konsumart) – ist Körkel zufolge die Abstinenz<br />

eine zwar „wertvolle Lebens- und Behandlungsoption“.<br />

Allerdings: Die Inanspruchnahme ist gering, die<br />

Abbruchquoten sind beachtlich.<br />

Benefit auch durch geringe Reduktion<br />

Als „Hammerergebnis“ bezeichnet Körkel, dass mehr unbehandelte<br />

Abhängige eine Drogen- oder Alkoholabhängigkeit<br />

durch Reduktion als durch Abstinenz überwinden,<br />

wie „Natural change“-Studien 2<br />

zeigen. Mehr noch: Die<br />

Reduktion ist Abhängigen nicht nur möglich, sondern sie<br />

bringt auch einen Benefit: 3<br />

Jede 20g-Alkoholreduktion<br />

(=0,5l Bier, 0,2l Wein/Sekt, drei Schnäpse à 2cl) täglich gehe<br />

„linear“ einher mit positiven Entwicklungen im sozialen<br />

Bereich.<br />

Und das auch noch nach drei Jahren sowie analog bei Kokainabhängigen,<br />

fährt Körkel fort. Eine Reduktion verbessere<br />

die psychische und physische Gesundheit, die Lebensqualität<br />

und reduziere Ängste, Depressionen und Drogenkonsum.<br />

Ein beträchtlicher Teil (ca. 10–30%) der Tabak-,<br />

Alkohol- und Drogenabhängigen wechsle während oder<br />

nach einer Reduktionsbehandlung zur Abstinenz.<br />

Bei der Reduktion können drei miteinander kombinierbare<br />

Wege zur Unterstützung angeboten werden: verhaltenstherapeutische<br />

Behandlungen zum (selbst-)kontrollierten<br />

Konsum (Wochenpläne, Programme zum kontrollierten<br />

Trinken, Tagebücher, Einzel- oder Gruppenbehandlungen<br />

etc.), pharmakologische Behandlungen sowie Selbsthilfegruppen.<br />

Reduktion als „Brücke zur Abstinenz“<br />

„Reduktion ist für viele die Brücke zur Abstinenz“, betont<br />

Körkel, „nach dem Motto: Jetzt habe ich einen abstinenten<br />

Tag geschafft, das ging ja viel besser, als ich dachte.“ Die<br />

„Self-efficacy“ – die Selbstwirksamkeitserwartung – wachse<br />

step by step. Wenn jemand in die „Schiene der Veränderung“<br />

gebracht werde, traue er sich plötzlich zu, ganz<br />

aufzuhören.<br />

Körkel zitiert dazu Daten aus der KISS-Studie. Demnach<br />

reduziert das Programm den Drogenkonsum um 30 Prozent<br />

(durch Urinkontrollen bestätigt), steigert die drogenfreien<br />

Tage um 20 Prozent, senkt die Konsumausgaben um<br />

250 Euro/Monat, reduziert die Abhängigkeitsdiagnosen<br />

um 30 Prozent, reduziert stationäre Entzugsbehandlungen<br />

um 50 Prozent, senkt Beschaffungskriminalität und<br />

Prostitution und führt bei einem Teil zur Abstinenz (z.B.<br />

bei 28 Prozent der Benzo-Konsumenten und -Konsumentinnen).<br />

Auch das dritte Behandlungsziel, die Schadensminderung,<br />

bringe Erfolge. So sei die Schädlichkeit der E-Zigarette um<br />

ein Vielfaches geringer als die der Tabakzigarette. Zudem:<br />

„Wenn jemand auf die E-Zigarette umsteigt, dann ist das<br />

häufig ein Anstoß, die Tabakzigaretten erheblich zu reduzieren<br />

oder zum Rauchstopp überzugehen“, sagt Körkel.<br />

Ärztlichen „Rechthaberreflex“ in Schach halten<br />

Die Basis für ZOS ist laut Körkel, eine zieloffene innere<br />

Haltung einzunehmen: „Die Haltung, mit der ich jemandem<br />

begegne, ist das A und O.“ Erst dann folge die Abklärung<br />

der konsumierten Substanzen/Verhaltenssüchte,<br />

zweitens die Abklärung der Zielvorstellungen für jede dieser<br />

Substanzen/Verhaltenssucht und drittens das Vorhalten<br />

konkreter Behandlungsangebote, sei es in Richtung<br />

Abstinenz, Reduktion oder Schadensminderung.<br />

Hilfreich für alle drei Schritte ist das „Motivational Interviewing“<br />

4 , die motivierende Gesprächsführung. „Die<br />

Suchtbehandlung ist wie ein Wiener Walzer“, bringt Körkel<br />

einen Vergleich. Die zieloffene Haltung, mit der alles anfange,<br />

bedeute:<br />

• „Ich bin auf kein Änderungsziel (z.B. Abstinenz)<br />

festgelegt.“<br />

• „Ich traue suchtbelasteten Menschen zu, die für sie<br />

richtigen Entscheidungen treffen zu können.“<br />

• „Ich achte die Autonomie meines Gegenübers –<br />

bezüglich Ziel und Behandlungsweg.“<br />

• „Ich halte meinen Rechthaberreflex in Schach.“<br />

Wenn die eigene Haltung geklärt ist, geht es in die Arbeit<br />

mit dem Patienten bzw. der Patientin. Als Hilfsmittel zur<br />

systematischen Konsumabklärung empfiehlt Körkel einen<br />

Kartensatz, auf dem die Substanzen (Alkohol, Schlafmittel,<br />

Kaffee, Energydrinks, Cannabis, Kokain, Opiate etc.)<br />

und Verhaltenssüchte (Internet, Kaufsucht, Glücksspiel<br />

etc.) dargestellt sind.<br />

Kasuistik: Substitutionspatient Michael<br />

Körkel bringt das Beispiel des 43-jährigen Substitutionspatienten<br />

Michael, der sechs Karten ausgewählt hat: Substitutionsmittel<br />

(Methadon tägliche Vergabe, „gut eingestellt“),<br />

Alkohol (1l Wein täglich, manchmal bis zu 2l plus<br />

0,2l Jägermeister), Tabak (30–35 Zigaretten täglich, mehrere<br />

erfolglose Aufhörversuche), Cannabis (ca. 2 Joints pro<br />

Woche), Opiate (alle 3–4 Wochen 1x „Straßenheroin“ i.v.)<br />

und Beruhigungsmittel (ca. 1x im Monat 3–5 Benzos,<br />

„wenn es mir besonders beschissen geht“).<br />

4/23 CC<br />

<strong>neuropsy</strong><br />

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