CliniCum neuropsy 04/2023
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European Academy of Neurology (EAN) III<br />
KI bei seltenen<br />
neurologischen<br />
Erkrankungen<br />
Betroffene seltener Erkrankungen haben es oftmals<br />
nicht leicht. Auch im Bereich der Neurologie<br />
erhalten sie oft nicht dasselbe Maß an Behandlung<br />
wie Patient:innen mit häufigeren neurologischen<br />
Erkrankungen. Künstliche Intelligenz (KI)<br />
soll dem ein Ende setzen. Obwohl die Entwicklungen<br />
stetig voranschreiten, gilt es dennoch einige<br />
Hürden zu überwinden.<br />
Von Johanna Wolfsberger, PhD<br />
❙ Aufgrund der geringen Häufigkeit<br />
bestimmter Krankheiten sind das<br />
Fachwissen und die Kenntnis über diese<br />
nicht so umfassend wie bei häufiger<br />
auftretenden Erkrankungen. Dr. Maria<br />
J. Molnar, Professorin für Neurologie<br />
und Direktorin des Instituts für Genomische<br />
Medizin und Seltene Krankheiten<br />
der Semmelweis-Universität in<br />
Budapest, erklärt, dass Patient:innen<br />
mit seltenen neurolo gischen Erkrankungen<br />
oft nicht das gleiche Maß an<br />
Behandlung erhalten wie Personen<br />
mit häufigeren neurologischen Erkrankungen.<br />
„Es kommt immer wieder zu<br />
fehlenden oder falschen Diagnosen.<br />
Aufgrund der Seltenheit dieser Krankheiten<br />
ist es besonders wichtig, sich auf<br />
datenbasierte Erkenntnisse zu stützen“,<br />
erklärt die Expertin.<br />
„Data Sharing“ essenziell für<br />
seltene Erkrankungen<br />
Das menschliche Gehirn ist in der Lage,<br />
zeitgleich fünf bis sieben verschiedene<br />
Hypothesen zu evaluieren.<br />
Künstliche Intelligenz (KI) kann hier<br />
Abhilfe leisten. Bei seltenen Erkrankungen<br />
besteht allerdings der Nachteil,<br />
dass oft nicht sehr viele Daten<br />
vorhanden sind, was die Qualität ei-<br />
„Developing and<br />
implementing<br />
decision support<br />
systems for the<br />
diagnosis and<br />
treatment of rare<br />
neurological<br />
disorders?“, Session<br />
im Rahmen des<br />
9. Kongresses der<br />
European Association<br />
of Neurology<br />
(EAN), Budapest &<br />
virtuell, 1.7.23<br />
nes KI-basierten Algorithmus verringert.<br />
„Data Sharing“ zwischen Organisationen<br />
ist daher essenziell für<br />
diesen Bereich.<br />
Mediziner:innen haben heute zunehmend<br />
Zugang zu KI-basierten Tools,<br />
die sie bei der Vorhersage, Diagnose,<br />
Therapie und Nachuntersuchung<br />
unterstützen können. Es sei jedoch<br />
wichtig, vorsichtig zu sein und sich<br />
nicht auf unsichere Tools zu verlassen,<br />
warnt die Expertin. Sie betont,<br />
dass Chatbots wie z.B. ChatGPT nicht<br />
für die Unterstützung klinischer Entscheidungen<br />
entwickelt wurden und<br />
dass man sich nicht auf ihre Ergebnisse<br />
verlassen könne. Es bestehe hier<br />
ein hohes Risiko.<br />
Es gibt jedoch auch andere Tools, die<br />
speziell für die Unterstützung klinischer<br />
Entscheidungen entwickelt<br />
wurden. So können zum Beispiel<br />
Sprachanalyse-Tools zur Vorhersage<br />
von kognitiven Veränderungen oder<br />
zur frühzeitigen Erkennung von Depressionen<br />
eingesetzt werden. Wenn<br />
es um die Diagnose seltener Erkrankungen<br />
geht, stehen Tools wie PHE-<br />
NOTIPS TM<br />
und Symptoma zur Verfügung.<br />
Darüber hinaus können auch<br />
Gesichtserkennungs-Tools wie FACE-<br />
2GENE genutzt werden. Wenn es um<br />
die Suche nach geeigneten Therapien<br />
geht, erwähnt die Expertin die Plattform<br />
HealNet, die speziell für seltene<br />
Erkrankungen entwickelt wurde.<br />
KI revolutioniert die Behandlung<br />
seltener Erkrankungen<br />
Der Einsatz von KI zur Überwachung<br />
des Krankheitsverlaufs findet beispielsweise<br />
bei der Muskeldystrophie<br />
An wendung. Dank Wearables und KI<br />
wird die Vorhersage des Krankheitsverlaufs<br />
verbessert. Durch den Einsatz<br />
von tragbaren Geräten, die die gesamte<br />
Körperbewegung erfassen, können<br />
Aktivitäten des täglichen Lebens analysiert<br />
werden, um den Krankheitsverlauf<br />
bei Kindern mit Duchenne-<br />
Muskeldystrophie vorherzusagen. Ein<br />
ähnliches System wird auch zur Vorhersage<br />
des Krankheitsverlaufs bei<br />
Friedreichs-Ataxie eingesetzt.<br />
Die Expertin sieht noch einige Herausforderungen<br />
im Zusammenhang<br />
mit KI-basierten Diagnosetools:<br />
• Mangelnde Transparenz: Es ist<br />
nicht immer klar, wie ein KI-basiertes<br />
Diagnosetool zu seinen Schlussfolgerungen<br />
gelangt.<br />
• Mangel an standardisierten Prozessen:<br />
Es fehlen einheitliche und<br />
standardisierte Verfahren für den<br />
Einsatz von KI in der Diagnostik.<br />
• Diagnosegenauigkeit: Die aktuelle<br />
Genauigkeit der KI-basierten Diagnosetools<br />
ist nicht immer besser<br />
als die erfahrener Expert:innen auf<br />
dem entsprechenden Gebiet.<br />
• Fehlende behördliche Zulassung:<br />
Viele der verwendeten Tools haben<br />
noch keine offizielle Genehmigung<br />
oder Zulassung von Behörden erhalten.<br />
• Mangelnde ethische und rechtliche<br />
Kontrolle: Es besteht eine Lücke in<br />
Bezug auf ethische und rechtliche<br />
Kontrollen bei der Anwendung von<br />
KI-basierten Diagnosetools, was<br />
potenzielle Risiken für Patient:innen<br />
sowie Datenschutzfragen aufwerfen<br />
kann.<br />
KI künftig Teil des klinischen<br />
Alltags?<br />
Intelligente Systeme haben heute bereits<br />
die Fähigkeit, menschliche Aufgaben<br />
wie Sprachverständnis, Objekterkennung<br />
und komplexe Entscheidungsfindung<br />
zu übernehmen.<br />
„Innerhalb der nächs ten 20 Jahre<br />
wird KI ein unverzichtbarer Bestandteil<br />
des täglichen Lebens sein. Viele<br />
Patient:innen werden durch KI-gesteuerte<br />
Telemedizin und virtuelle<br />
Assistenten bequem von zu Hause<br />
aus betreut werden können“, ist Molnar<br />
überzeugt.<br />
Derzeit kann KI jedoch nur eine Ergänzung<br />
für Ärzt:innen sein und diese<br />
nicht vollständig ersetzen. „Die erfolgreiche<br />
Integration von KI in die Praxis<br />
erfordert eine enge Interaktion zwischen<br />
menschlichen Erfahrungen und<br />
Fähigkeiten sowie algorithmischen<br />
Prozessen“, erklärt die Expertin. ❙<br />
Foto: Ирина Батюк/stock.adobe.com<br />
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