Ärzt*in für Wien 2023/10
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COVERSTORY AM PULS<br />
Fotos: Stefan Seelig<br />
► Am Vormittag des 30. Juni <strong>2023</strong><br />
kam es in der Zentralen Notaufnahme<br />
der Klinik Ottakring (ZNA) zu<br />
einem Warnstreik des ärztlichen Personals.<br />
Streiksprecher Severin Ehrengruber<br />
damals: „Es geht hier nicht nur um unsere<br />
Arbeitsbedingungen. Personalmangel im<br />
Spital gefährdet auch Menschenleben.“<br />
Ehrengruber wurde auch aufgrund seines<br />
Engagements in der Ärztekammer<br />
<strong>für</strong> <strong>Wien</strong> zur Zielscheibe derer, die lange<br />
nicht wahrhaben wollten, wie es um die<br />
Lage der ZNA wirklich bestellt war. Auf<br />
viele Forderungen im Vorfeld des Streiks<br />
sei einfach nicht eingegangen worden,<br />
sagt Streiksprecherin Aglaia Kotal. Man<br />
habe mehrmals auf die „Missstände, Benachteiligungen<br />
und Hürden“ in der ZNA<br />
hingewiesen. Doch bis auf Kleinreden,<br />
einen mangelhaften „Faktencheck“ des<br />
<strong>Wien</strong>er Gesundheitsverbundes (WiGev)<br />
und leerer Appelle sei nichts passiert.<br />
Was hat sich seither verändert? Was sagen<br />
Streiksprecherin Aglaia Kotal und<br />
Streiksprecher Severin Ehrengruber<br />
zum Vorwurf der Rufschädigung? Wie<br />
ist das Verhältnis zum WiGev jetzt? Und<br />
welche Rolle kam der <strong>Wien</strong>er Ärztekammer<br />
zu? <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong> im großen<br />
Doppelinterview mit Aglaia Kotal und<br />
Severin Ehrengruber.<br />
Aglaia Kotal: „Der Druck, die Dienstposten endlich neu zu berechnen, ist<br />
auf jeden Fall deutlich gestiegen.“<br />
<strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Frau Kotal, Herr<br />
Ehrengruber, der Streik an der Zentralen<br />
Notaufnahme Ottakring (ZNA) im vergangenen<br />
Sommer war medial stark präsent.<br />
Aber was davon ist übriggeblieben?<br />
Welche Ziele haben Sie mit dieser Notmaßnahme<br />
erreicht oder gar erzwungen?<br />
Kotal: Wichtig ist <strong>für</strong> mich vor allem,<br />
dass die Ärztinnen und Ärzte der ZNA<br />
Ottakring als starkes Team wahrgenommen<br />
werden! Wir stehen <strong>für</strong> die Kolleginnen<br />
und Kollegen beziehungsweise<br />
bessere Arbeitsbedingungen ein. Natürlich<br />
haben wir unter erschwerten Bedingungen<br />
zu arbeiten, aber mit einem<br />
solchen Team macht es umso mehr<br />
Spaß. Der Druck, die Dienstposten<br />
endlich neu zu berechnen, ist auf jeden<br />
Fall deutlich gestiegen. Puncto Gehalt<br />
wurde die Messlatte jedenfalls höher gelegt.<br />
Nicht nur da müssen wir weiterhin<br />
wachsam und kritisch bleiben.<br />
Ehrengruber: Dem kann ich nur zustimmen.<br />
Auf kurze Strecke ist bereits<br />
etwas weitergegangen. Nur ein paar Beispiele:<br />
Es wird insgesamt acht neue Pflegedienstposten<br />
geben, die Rettungskontingente<br />
sind wienweit neu berechnet<br />
worden, die EVA-Öffnungszeiten wurden<br />
ausgeweitet. Wir stehen zumindest<br />
am Anfang eines transparenten Systems<br />
zur Überwachung der Rettungszufahrten.<br />
Hier soll es jetzt auch Transparenz<br />
bei den Echtzeitanzeigen ebenjener<br />
Rettungszufahrten und der Patientenströme<br />
geben – ein entsprechendes Online-System<br />
ist in Arbeit. Und: unsere<br />
Infrastruktur soll modernisiert werden,<br />
ein Schockraum <strong>für</strong> kritisch kranke Patientinnen<br />
und Patienten soll spätestens<br />
nächstes Jahr umgesetzt werden. Aber:<br />
Dass es <strong>für</strong> moderne Ultraschallgeräte<br />
einen Streik braucht, ist in einem Land<br />
wie Österreich natürlich ein Wahnsinn.<br />
<strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Rund um den ZNA-<br />
Streik konnte man aber auch Kritik vernehmen,<br />
bis hin zum Vorwurf der „Rufschädigung“.<br />
Warum war der Streik aus<br />
Ihrer Sicht trotzdem wichtig?<br />
Kotal: Den Vorwurf der Rufschädigung<br />
möchte ich auf der Ärzteschaft der ZNA<br />
in Ottakring nicht sitzen lassen! Wir<br />
hatten in den Monaten zuvor alle internen<br />
Vehikel bedient, die uns zur Verfügung<br />
stehen, um auf unsere prekäre<br />
Situation aufmerksam zu machen. Nur<br />
hat der oft zitierte Dienstweg entweder<br />
gar keine Reaktion von ganz oben beziehungsweise<br />
der Personalvertretung<br />
gebracht. Oder aber die Verbesserungsvorschläge<br />
wurden als zu weich oder in<br />
der Praxis nicht umsetzbar abgekanzelt.<br />
„Wir brauchen<br />
eine<br />
starke<br />
Kammer, vor<br />
allem, weil<br />
wir wenig<br />
Unterstützung<br />
seitens der<br />
klassischen<br />
Gewerkschaften<br />
im WiGev<br />
haben.“<br />
Wenn die größte Notaufnahme <strong>Wien</strong>s<br />
sich nicht mehr anders zu helfen weiß<br />
als mit einem Warnstreik, weil die Sorgen<br />
und Ängste um die eigene Sicherheit<br />
und die der Patientinnen und Patienten<br />
nicht ernstgenommen werden, dann ist<br />
das nicht Rufschädigung. Es ist ein Sammeln<br />
und Aufzeigen von Fakten und<br />
Defiziten. So zu tun, als wäre alles in<br />
Ordnung, ist hingegen tatsächlich rufschädigend!<br />
Keine Beteiligte, kein Beteiligter<br />
an dem Streik hätte ein Problem<br />
damit gehabt, wenn sich die Konzernleitung<br />
oder die Stadtregierung eingestanden<br />
hätte, dass etwas getan werden muss<br />
und dass man die Situation unterschätzt<br />
hat. Stattdessen hat man von „alles ist<br />
gut, es gibt keinen Grund zu streiken“,<br />
über „das ist eine Medienkampagne der<br />
Ärztekammer“ und „die beiden Streiksprecher<br />
haben keine Legitimation“ bis<br />
hin zu „Streiken ist ein demokratisches<br />
Recht und natürlich können unsere<br />
Mitarbeiter streiken“ die Meinung geändert<br />
– innerhalb weniger Wochen vor<br />
dem Warnstreik. Das lässt wenig Einsicht<br />
vermuten.<br />
Ich würde übrigens gerne mehr Allgemeinmedizinerinnen<br />
und -mediziner<br />
in der Klinik Ottakring ausbilden. Für<br />
<strong>10</strong>6 gewilligte Ausbildungsstellen stehen<br />
mir aber nur knapp die Hälfte als<br />
Dienstposten zur Verfügung. Mehr Studienabsolventinnen<br />
und -absolventen<br />
lösen das Problem nicht, wenn der Spitalsturnus<br />
jetzt schon ein Flaschenhals<br />
ist. In den Hearings höre ich immer<br />
wieder, dass die jungen Kolleginnen und<br />
Kollegen unbedingt in ein Haus wollen,<br />
wo man aktiv die Defizite anspricht und<br />
zur Not auch da<strong>für</strong> auf die Straße geht<br />
anstatt nichts verbessern zu wollen. Es<br />
gibt natürlich auch Stimmen, die sagen,<br />
dass man aufgrund des Streiks keine Bewerberinnen<br />
und Bewerber mehr findet<br />
oder dass Assistenzärztinnen und -ärzte<br />
nach sechs Monaten wieder kündigen.<br />
Dass es hier unbedingt einen Zusammenhang<br />
mit der Streikbewegung gibt,<br />
kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen.<br />
Ich weiß zumindest nicht von<br />
einem konkreten Fall, wo ein Arzt oder<br />
eine Ärztin als Kündigungsgrund den<br />
Streik der ZNA angeführt hätte.<br />
Ehrengruber: Den Vorwurf der Rufschädigung<br />
kann man nicht so stehen<br />
lassen. Wir haben die Situation nicht<br />
verursacht und sehen es als unsere<br />
Pflicht an, auf Probleme hinzuweisen<br />
und diese nicht zu verschweigen. Es ><br />
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