Christkatholisch_2023-17
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4 Thema<br />
<strong>Christkatholisch</strong> <strong>17</strong>/<strong>2023</strong><br />
Ukraine 13. 7. 2020: Historische<br />
Gebäude in der<br />
Hauptfussgängerzone<br />
von Poltawa, Ukraine,<br />
an einem sonnigen Sommertag.<br />
Foto: Shutterstock<br />
noch einmal solch ein Krieg beginnen<br />
würde.<br />
Andrej Kurkow, sie leben in der<br />
ukrainischen Hauptstadt, wie<br />
muss man sich das Leben in Kiew<br />
vorstellen?<br />
Bei allem, was zur Zeit geschieht, haben<br />
meine ganze Familie und ich gemerkt:<br />
Wir gehören hierher, wir werden,<br />
was auch immer alles passiert, in<br />
der Ukraine bleiben. Wir müssen<br />
sehen, was geschieht und hören, was<br />
die Leute tun und denken. Ich frage<br />
mich, ob ich mich einbringen kann.<br />
Wir sind zusammen ein Volk. Wenn<br />
ich im Land, an all den neuralgischen<br />
Orten bleibe, verstehe ich viele Situationen<br />
besser und kann darauf reagieren.<br />
Manchmal sieht in Kiew alles<br />
ganz normal aus, solange man keine<br />
beschädigten Häuser sieht. Die Kaffees<br />
und Bars sind voll, es gibt viele<br />
Leute auf der Strasse. Bis man Sirenen<br />
hört. Das ist sehr stressig. Wenn man<br />
bei sich in der Wohnung ist, wartet<br />
man ab. Meine Kinder gehen nicht<br />
mehr in den Keller, sondern in den<br />
Flur und bleiben dort. Eine neue Normalität.<br />
Ausserhalb von Kiew, wenn<br />
wir zu unserem Landhaus fahren, das<br />
etwa 80 Kilometer westlich von Kiew<br />
entfernt liegt, fahren wir vorbei an<br />
vielen ruinierten Häusern, zerstörten<br />
Fabriken und einer Unzahl zerstossener<br />
Autos vom Anfang des Krieges.<br />
Man sieht die ganze Zeit den Krieg.<br />
Sie sind ja in Leningrad, dem späteren<br />
St. Petersburg, geboren. Können<br />
Sie uns sagen, wie Sie später<br />
nach Kiew gekommen sind?<br />
Dank Nikita Chruschtschow (1894-<br />
1971) bin ich ein Ukrainer geworden.<br />
Ich schätze Chruschtschow und schrieb<br />
auch ein Buch über ihn. Was war passiert?<br />
Mein Vater ist Militärpilot gewesen.<br />
Nach dem Krieg in Kuba, wollte<br />
Chruschtschow der Welt zeigen, dass<br />
die Sowjetunion ein friedliches Land<br />
ist. Die erste Entwaffnung der sowjetischen<br />
Armee wollte er machtvoll demonstrieren,<br />
indem er 100 000 Offiziere<br />
aus der Armee entlassen hatte, worunter<br />
auch mein Vater war. Meine Grossmutter<br />
wohnte in Kiew und so ist die<br />
ganze Familie nach Kiew umgezogen,<br />
wo mein Vater eine Anstellung als Testpilot<br />
bekam. Damals war ich zwei Jahre<br />
alt.<br />
Da kommen wir zur Frage nach<br />
der Bedeutung der Sprache in der<br />
Zeit des Krieges. Sie schreiben auf<br />
Russisch. Was heisst das jetzt in der<br />
Zeit des Krieges – oder provokativ<br />
formuliert: Kann man noch auf Russisch<br />
schreiben?<br />
Schreiben kann man auch auf Japanisch<br />
… Als Kind habe ich mit Gedichten<br />
begonnen. Ich schrieb Gedichte auf<br />
Russisch, Ukrainisch und Englisch.<br />
Heute schreibe ich meine Bücher auf<br />
Russisch. Man kann natürlich auf Russisch<br />
schreiben, wie ich das mache, aber<br />
man muss akzeptieren, dass hier die<br />
russische Sprache als Feindsprache<br />
wahrgenommen wird. Für viele Leute<br />
ist dies eine Tragödie. Meine Bücher<br />
erscheinen auf Ukrainisch. Ich muss<br />
das annehmen. Leider. Wenn ich für<br />
mich in meinem Herzen auch russisch<br />
schreibe, ich denke ukrainisch. Man<br />
muss dazu aber unbedingt anmerken,<br />
dass die Ukraine ein Land mit vielen<br />
Sprache ist – so etwa Ungarisch in<br />
Transkarpatien. Ausserdem haben wir<br />
verschiedene ukrainische Dialekte. Was<br />
ist passiert? Vor dem Krieg gab es 40%<br />
russischsprechende Leute, doch heute<br />
sind es weniger, weil die Leute dort<br />
nicht mehr russisch sprechen oder<br />
schreiben wollen. Der bekannteste<br />
Schriftsteller aus Donezk, im Osten der<br />
Ukraine, Wolodymyr Rafejenko, will<br />
nie mehr auch nur ein Wort auf Russisch<br />
schreiben. Dies sagte er mir, obwohl<br />
Wolodymyr dort geboren und<br />
aufgewachsen ist und wie die meisten<br />
Leute in dieser Gegend auch russisch<br />
sprach. Russisch ist auch noch seine<br />
Muttersprache, dennoch ist diese Sprache<br />
für ihn untrennbar mit den Untaten<br />
der Russen in der Ukraine verbunden.<br />
Es gibt eine ganze Reihe anderer<br />
Schriftsteller, die jetzt nur noch auf Ukrainisch<br />
weiterschreiben.<br />
Verändert der Krieg die Sprache?<br />
Die Sprache ist wie ein Gedächtnis von<br />
uns Menschen. Jetzt ist die Sprache mit<br />
viel Hass aufgeladen. Das wird jeder<br />
verstehen, der schon erschütternde<br />
Dinge erlebt hat. Wir alle haben die Bilder<br />
vom Massaker in Butscha gesehen,<br />
mit Hunderten brutal ermordeter Zivilisten.<br />
Dass das auch die Sprache verändert,<br />
liegt auf der Hand.<br />
Ihre Bücher sind in Russland seit<br />
2005 verboten. Ist Putins Krieg<br />
gegen die Ukraine auch ein Krieg<br />
gegen die ukrainische Kultur?<br />
Das kann man so sagen. Ich habe kein<br />
russisches Publikum, wenigstens nicht<br />
direkt. Russland hat immer wieder