digem Verweischarakter. Jeder waagerechte Strich wird bekanntlich aufgrund unserer räumlich determinierten Wahrnehmung ganz unwillkürlich als Horizont gelesen, jede Vertikale erinnert an eine Figur. Jedes ungegenständliche Werk, so hat Gerhard Richter dargelegt und demonstriert, eröffnet somit der Phantasie des Betrachters eine Fülle von Ansätzen eines assoziativen Brückenschlags zur außerkünstlerischen Realität, ohne damit seine Autonomie zu verlieren. Richter hat bekanntlich konsequent, ebenso demonstrativ wie virtuos diese Spannweite des Mediums Malerei thematisiert und ausgelotet. Im Rahmen der documenta 9 in Kassel wurde 1992 das Werk <strong>Brandl</strong>s unmittelbar neben dem Richters gezeigt, was einen aufschlussreichen Vergleich ermöglichte. Einerseits wurde die Ebenbürtigkeit, andererseits die Verschiedenheit deutlich, auch der Unterschied der Generationen. Was Richter in getrennten Werkgruppen nebeneinander stellt, verbindet sich in den Arbeiten <strong>Brandl</strong>s auf unterschiedliche, nie aber in seine einzelnen Komponenten trennbare Weise. Was bei Richter Kalkül ist, entsteht bei <strong>Brandl</strong> spontan. Wenn, wie Fleck ausführt, die erwähnte Grenzlinie im aktuellen Kunstdiskurs heute wieder eine zentrale Rolle spielt, dann nicht wie früher als apodiktisch-ideologische Alternative, sondern als Gegenstand der Reflexion über die uralte Erkenntnis-Frage nach dem Verhältnis von Darstellung der Realität und Realität der Darstellung. Für die derzeit boomende Malerei ergeben sich hieraus eine Fülle attraktiver, komplexer und häufig genug skurriler und manierierter Möglichkeiten collageartiger Cocktails und Mixturen. Bei <strong>Brandl</strong> ist der Umgang mit den erwähnten Gegensätzen subtiler. »<strong>Herbert</strong> <strong>Brandl</strong> hat zweifellos Möglichkeiten gefunden, darzustellen und zugleich auch das Darstellen darzustellen (....). Die interne Eigenwelt der Farbsprache (Rinnen, Tropfen, Wischen ...) wird mit dem externen Erscheinen der Gegenstandswelt in Übereinstimmung gebracht. Ebenso die verschiedenen Skalierungen: das Große bildet sich im Kleinen und der Teil bildet sich im Ganzen ab und umgekehrt. Visuelle Strukturen wiederholen sich in Makro- und Mikrozonen. Ein Kristall kann wie ein Berg und ein Berg wie ein Kristall aussehen, ein Farbwischer wie ein Schneefeld, eine Wiese wie einabstraktes Farbfeld. Figuration und Abstraktion sind eine Frage der Interpretation, der Teilnahme des Beobachters.« 16 8 Den Balanceakt zwischen Gegenstand und Bildautonomie könne man tatsächlich als das eigentliche Thema seiner Malerei bezeichnen, räumt <strong>Brandl</strong> im Gespräch ein, nur habe er dies nie – im Sinne einer Strategie – beabsichtigt. Freilich besagt die theoretische Feststellung wenig über die Fülle, Frische und Schönheit dieser Wanderung zwischen zwei Welten. Hans Gercke geboren 1941 in Kehl/Rhein, studierte europäische und ostasiatische Kunstgeschichte und Musikwissenschaft in Heidelberg und Padua. Seit Mitte der 60er Jahre publizistische Tätigkeit (Kunst- und Musikkritiken, Texte zur Architektur), mehrere Jahre Feuilletonredakteur , von 1979 bis 2006 Direktor des Heidelberger Kunstvereins. Wichtige Ausstellungen: Demonstrative Fotografie, Die Sammlung Prinzhorn, Angebote zur Wahrnehmung, Der Baum, Blau – Farbe der Ferne, Der Berg u.a. – Zahlreiche Veröffentlichungen vorwiegend zur zeitgenössischen Kunst und Architektur (Kataloge, <strong>Zeit</strong>schriftenartikel, Kirchenführer, Kunstreiseführer), Lehrauftrag für zeitgenössische Kunst an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, seit 2003 Honorarprofessor. Anmerkungen 1 Zitiert nach dem Einführungsblatt der 52. Internationalen Kunstausstellung – La Biennale di Venezia 2007 2 A.a.O. 3 Robert Fleck im Einführungstext zum Biennalekatalog, S. 9 4 A.a.O. S. 8 5 <strong>Herbert</strong> <strong>Brandl</strong>, Neue Galerie Graz 2002, S. 15 6 Thomas Kellein, Die Ventile des Gefühls entriegeln. In: <strong>Herbert</strong> <strong>Brandl</strong>, „Grün riecht übernatürlich“, Ausstellungskatalog der Galerie Bärbel Grässlin, Frankfurt am Main, 2007, S.5, 7 und 9 7 Philipp Kaiser, <strong>Herbert</strong> <strong>Brandl</strong> – Sich in Malerei verlieren. Biennale-Katalog S.69 8 A.a.O. 9 Gespräch mit Wolfgang Kos, aus: Alpenblick – Die zeitgenössische Kunst und das Alpine, Kunsthalle Wien 1997, zitiert nach: <strong>Herbert</strong> <strong>Brandl</strong>, Neue Galerie Graz 2002, S. 255 10 Ateliergespräch in der Galerie Elisabeth und Klaus Thoman, Innsbruck, anlässlich der dortigen Ausstellung <strong>Herbert</strong> <strong>Brandl</strong>, Fata Morgana, 24. November 2007, Katalog S. 10 11 Aus: Alpenblick – Die zeitgenössische Kunst und das Alpine, Kunsthalle Wien 1997, zitiert nach: <strong>Herbert</strong> <strong>Brandl</strong>, Neue Galerie Graz 2002, S. 254 12 A.a.O. 13 A.a.O. 14 Ulrich Loock, Die fernen Berge und Malerei wie eine Wand. A.a.O. S. 365 15 Biennalekatalog, S. 8 16 Peter Weibel und Günther Holler-Schuster im Editorial des Katalogs zur Ausstellung Chromophobie I, <strong>Herbert</strong> <strong>Brandl</strong>, Graz 2002, S.8 Fotonachweis Cover, Abb. 13 Piero Codato, Cameraphoto Arte, Venice Abb. 1, 2, 5 Archiv Peter Pakesch Abb. 3, 11, 14–19 Franz Schachinger Abb. 4 Wolfgang Woessner, Archiv Peter Pakesch Abb. 6 Matthias Herrmann, Wiener Secession Abb. 7, 8 Albertina, Wien Abb. 9 Martin Bühler Abb. 10 Kunsthalle Basel Abb. 12 Daniela Stern
6 6 Ohne Titel, 1998 Tusche auf Papier 500 x 1600 cm Courtesy Galerie nächst St. Stephan, Rosemarie Schwarzwälder, Wien 7 Ohne Titel, 2004 Mischtechnik auf Papier 295,5 x 138 cm Albertina, Wien 7 <strong>Herbert</strong> <strong>Brandl</strong> 9