PDF 31 - Deutsche Sprachwelt
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Seite 6 Sprachgeschichte<br />
Von Dagmar Rosenstock<br />
A<br />
ls sich nach dem Zerfall des<br />
Weströmischen Reiches in<br />
den westlichen und nördlichen ehemaligen<br />
Provinzen neue politische<br />
Gebilde etabliert hatten, vertraten<br />
sie einen Zustand von Organisation<br />
und Staatlichkeit, der sich beträchtlich<br />
vom spätrömischen Verwaltungsstaat<br />
unterschied. Ein wichtiges<br />
Merkmal dieser nicht territorial, sondern<br />
in Personengruppierungen oder<br />
„Stämme“ gegliederten Verbände<br />
war, daß sie, von den unterschiedlichen<br />
und nicht sehr zahlreichen<br />
Runeninschriften abgesehen, keine<br />
entwickelte Schriftlichkeit nutzen<br />
konnten. Schriftlose Gesellschaften<br />
haben natürlich auch kein kodifiziertes<br />
Recht – Recht wird gesprochen<br />
und entsteht nach den mündlich überlieferten<br />
Normen in der Gerichtsversammlung<br />
jeweils wieder aufs neue.<br />
Erst allmählich kam es im Frankenreich<br />
der Merowinger zur Aufzeichnung<br />
der mündlich überlieferten<br />
Volksrechte (zum Beispiel Lex Salica<br />
für die Franken im 6. Jahrhundert,<br />
Lex Baiuvariorum im 7./8. Jahrhundert).<br />
Um Gültigkeit und damit<br />
Verbindlichkeit zu gewährleisten,<br />
müssen in solchen Versammlungen<br />
gewisse Ausübungsstandards in Ritus<br />
und Wortwahl zwingend beachtet<br />
werden, und das gerade, weil dem<br />
gesprochenen Wort weitaus mehr<br />
Gewicht beigemessen wurde als in<br />
Gesellschaften, die über Schrift verfügten.<br />
Das ist in sogenannten traditionalen<br />
Kulturen auch heute noch<br />
so, man denke etwa an die „Loya<br />
Dschirga“ afghanischer Stammesverbände,<br />
die bei uns durch die Berichterstattung<br />
in den Medien zum<br />
Begriff wurde.<br />
Überlieferte Mündlichkeit<br />
Auch bei uns, in hochentwickelten<br />
Ländern mit Verfassung, schriftlich<br />
fixiertem Straf- und Zivilrecht und<br />
entsprechender Rechtsroutine, folgt<br />
die Sprechweise vor Gericht noch<br />
einem anderen Kode als die normale<br />
alltägliche Umgangssprache; man<br />
sagt noch heute „Hohes Gericht“,<br />
spricht im angelsächsischen Kulturraum<br />
den Richter mit „Euer Ehren“<br />
an, und selbst ein beliebter deutscher<br />
Fernsehkommissar wird sehr förmlich,<br />
wenn er jemanden verhaften<br />
muß („Frau/Herr XY, ich nehme Sie<br />
fest wegen …“). Auch heute noch<br />
wird die mündliche Vereidigung<br />
nach feststehenden Formeln durchgeführt<br />
und hat schwerwiegende<br />
rechtliche Konsequenzen.<br />
Der Begriff „theod/thiod“ steht, im<br />
Gegensatz zum allgemeinen „Volk“,<br />
Anzeigen<br />
Damit es alle verstehen konnten<br />
Zur Geschichte des Wortes „deutsch“ (Teil 2)<br />
den Bereichen des Gerichtswesens<br />
und der Rechtsprechung nahe. Von<br />
daher könnte auch die Entwicklung<br />
von „diuten/deuten“ und „deutlich“<br />
kommen, ursprünglich „dem Volk/<br />
diet etwas erklären“. Noch heute<br />
üben sich Politiker ebenso häufig<br />
wie erfolglos in dieser Kunst, wenn<br />
sie wieder etwas „deutlich machen“.<br />
Eine Sprachgrenze entsteht<br />
Die Geschichte des Wortes „deutsch“<br />
führt weit in die europäische Vergangenheit<br />
zurück, in eine Zeit, in der allmählich<br />
die Grundlagen für die späteren<br />
Staatengefüge gebildet wurden,<br />
nämlich in das frühe Mittelalter, das<br />
auf die Völkerwanderungszeit mit ihren<br />
vielfältigen kulturellen Brüchen<br />
folgte. Damals entstand eine Sprachgrenze<br />
im Westen links des Rheines<br />
zwischen der in spätrömischer Tradition<br />
stehenden, romanischsprechenden<br />
und schließlich unter die fränkische<br />
Herrschaft eingegliederten<br />
Bevölkerung des Frankenreiches und<br />
den meist rechtsrheinisch siedelnden<br />
Alemannen, Schwaben, (Ost-)<br />
Franken, Baiern, Thüringern und<br />
Sachsen, die eben nicht dem römischen<br />
Einfluß ausgesetzt waren, und<br />
zweifellos „germanische“ Idiome<br />
sprachen. In diese Zeit fällt ebenso<br />
die allmähliche Wahrnehmung einer<br />
deutlichen Sprachgrenze zu den<br />
slawischsprechenden Volksgruppen<br />
und Stämmen weiter im Osten.<br />
Die historischen Wurzeln unserer föderal<br />
organisierten Verfassung, die uns<br />
heute durchaus noch politische Probleme<br />
bereiten kann, liegen letztlich<br />
in der Völkerwanderungszeit und bei<br />
den später „deutschen“ Stämmen der<br />
Franken, Friesen, Sachsen, Thüringer,<br />
Alemannen, Schwaben und Baiern.<br />
Sprachgeschichtlich gesehen sind das<br />
aber ganz junge Ereignisse, denn die<br />
Entstehung der großen Untergruppen<br />
innerhalb der indoeuropäischen<br />
Sprachfamilie (zum Beispiel italische,<br />
germanische, slawische Sprachen)<br />
oder gar die Entstehung eines<br />
anzunehmenden Ur-Indoeuropäischen<br />
selbst spielten sich sozusagen in „grauer<br />
Vorzeit“ ab, wobei die Datierung<br />
solcher Prozesse in die jüngere Altsteinzeit<br />
nicht weniger spekulativ ist<br />
als die Annahme, der Wortschatz der<br />
ersten Ackerbauern oder Pferdezüchter<br />
spiegele sich im Indoeuropäischen.<br />
Nur moderne interdisziplinäre Forschungsansätze<br />
von Evolutionsbiologie,<br />
Paläoanthropologie, Archäologie,<br />
Paläo-Ethnobotanik und -zoologie,<br />
Ethnologie, Vergleichenden Sprachwissenschaften,<br />
Paläolinguistik, Namenkunde<br />
und anderen haben hier<br />
Chancen auf Erkenntnisfortschritt.<br />
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Ein Leitfaden durch<br />
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Sprache und ihrer Denkweise kann<br />
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SPRACHWELT oder direkt beim<br />
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Gerhard Bach M.A.<br />
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Band 2<br />
Ein Leitfaden durch<br />
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ISBN 3-00-017080-4)<br />
Auf dem Gebiet des spätrömischen<br />
Galliens hatte sich das Reich der<br />
Franken etabliert, in dem das Geschlecht<br />
der Merowinger für Jahrhunderte<br />
die Könige stellte und<br />
erst im achten Jahrhundert durch<br />
den Aufstieg der Karolinger abgelöst<br />
wurde. Das Reich der Franken<br />
bildete in seiner sprachlichen und<br />
kulturellen Verbindung mit Gallien<br />
die Grundlage des späteren Königreiches<br />
Frankreich, ein Staat, der,<br />
als französische Republik, bis auf<br />
den heutigen Tag besteht und sich<br />
„La France“, also „Francia“, nennt.<br />
So zählen die Franken zu Recht zu<br />
den historischen „Wegbereitern<br />
Europas“. Als Sprache hat sich in<br />
Frankreich aber, ungeachtet der langen<br />
Herrschaftstradition der Franken<br />
und der fränkischen Oberschicht, das<br />
romanische „Französisch“ (=„das<br />
in der Francia Übliche“, „nach Art<br />
der Franken“), als Erbin der lingua<br />
rustica romana durchgesetzt. Die<br />
Entwicklung ist hier anders verlaufen<br />
als bei der Anglisierung der Britischen<br />
Inseln, wo sich die Sprache<br />
der angelsächsischen Einwanderer<br />
des 5. Jahrhunderts schon im hohen<br />
Mittelalter fast vollständig durchgesetzt<br />
hat.<br />
Die „volksübliche“ Sprache<br />
Der immer wieder zitierte älteste Beleg<br />
für theodiscus ist der von Gregor<br />
von Ostia verfaßte Bericht von 786<br />
über die Synode von Cealchyd (heute<br />
Chelsea bei London) im angelsächsischen<br />
Königreich Mercien in<br />
Mittelengland, gerichtet an den Papst<br />
Hadrian zur Regierungszeit Karls<br />
des Großen. Hier wird vermerkt, daß<br />
in Cealchyd der Wortlaut der Beschlüsse<br />
der vorhergehenden Synode<br />
von Corbridge in Northumberland<br />
„tam latine quam theodisce“ verlesen<br />
wurden, damit auch jeder Teilnehmer<br />
verstehen konnte, was gemeint<br />
war. Dieses theodisce war selbstverständlich<br />
kein „deutsch“ in unserem<br />
Sinne, sondern am ehesten (angel-)<br />
„sächsisch“, eben die Sprache derer,<br />
die in Cealchyd kein Latein konnten,<br />
sondern nur die „volksmäßige, volksübliche“<br />
Sprache. Im dem Brief steht<br />
aber nicht etwa „saxonice“!<br />
Aus der Textstelle folgt zunächst nur,<br />
daß nicht alle Teilnehmer der Synode<br />
so gut Latein konnten, daß sie<br />
den Text auch ohne Übertragung ins<br />
„theodisce“ verstanden hätten. Aber<br />
die Quelle zeigt auch, wie hoch man<br />
das allgemeine Sprachverständnis bewertete,<br />
denn Rechtsverbindlichkeit<br />
bedarf der vollen Einsicht und des<br />
vollen Verständnisses aller Beteiligten.<br />
– Das ist auch heute noch gültig.<br />
Auch das um nur zwei Jahre jüngere<br />
Beispiel eines Beleges für „theodiscus“,<br />
der Bericht der Reichsannalen<br />
über die Verurteilung des<br />
Bayernherzogs Tassilo in Ingelheim<br />
788, zeigt, welches Gewicht man<br />
dem allgemeinen Wort- und Textverständnis<br />
beimaß. Ausdrücklich<br />
wird das Vergehen Tassilos, die<br />
Spaltung des Heeres, der „Heerschliß“,<br />
beschrieben, „quod in theodisca<br />
lingua harisliz dicitur“. Diese<br />
„Übersetzung“ für den Gebrauch im<br />
Gerichtswesen, eine der sogenannten<br />
„Malbergischen Glossen“, diente<br />
der Rechtsverbindlichkeit durch unmißverständliches<br />
Klarstellen dessen,<br />
was gemeint war, das heißt, das<br />
Wort harisliz mußte auch tatsächlich<br />
ausgesprochen werden, in theodisca<br />
lingua zu hören gewesen sein.<br />
Malbergische Glossen<br />
Mit den „Malbergischen Glossen“<br />
schließt sich der gedankliche Kreis<br />
wieder zu theotmallum/Detmold,<br />
denn diese Randbemerkungen zum<br />
Text der Lex Salica haben ihren Namen<br />
eben vom „mallobergum“, vom<br />
„Malberg“, von der meist erhöht angelegten<br />
Gerichts- oder Thingstätte,<br />
und ermöglichten die Übertragung<br />
lateinischer Rechtsbegriffe in die<br />
theodisca lingua, für den Gebrauch<br />
vor Gericht. Sie überliefern tatsächlich<br />
gesprochene, nicht nur geschriebene<br />
Sprache und haben daher als<br />
historische Quelle einen besonderen<br />
Rang.(1)<br />
Inwieweit das „theodisce“ des ausgehenden<br />
8. Jahrhunderts bereits die<br />
Erkenntnis und den Begriff eines<br />
mehrere stammesgebundene Dialekte<br />
übergreifenden „Germanischen“<br />
durch die damaligen Gelehrten belegt,<br />
mag dahingestellt bleiben;(2) ein<br />
Sinn für Zusammengehörigkeit muß<br />
sich entwickelt haben, sonst wäre die<br />
Stelle aus der Biographie Alfreds<br />
des Großen von England, die von<br />
Bischof Asser, bezeichnenderweise<br />
einem Waliser (einem „Welschen“),<br />
verfaßt wurde und etwa um die Wende<br />
zum 10. Jahrhundert datiert wird,<br />
nicht verständlich. Es geht dabei eigentlich<br />
nur um eine protokollarische<br />
Frage am Königshof: „ultra morem<br />
omnium Theotiscorum“ (entgegen<br />
der Sitte aller „Theodisken“) sitzt die<br />
Königin bei den Westsachsen nicht<br />
neben dem König.<br />
„Furor Teutonicus“<br />
Neben „theodiscus“ erscheint in den<br />
Quellen seit dem 9. Jahrhundert auch<br />
„teutonicus“, das sicher schon bei<br />
den Gelehrten dieser Zeit die Asso-<br />
7000 antiquarische<br />
Bücher<br />
Liste für 1,45 € in Briefmarken<br />
A. Neussner,<br />
D-37284 Waldkappel<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>31</strong>_Frühling 2008<br />
ziation zu den alten Kimbern und<br />
Teutonen und ihren Kriegszügen<br />
erweckte. Man kannte den Begriff<br />
aus der antiken Literatur, nicht zuletzt<br />
aus den Vergilglossen des Servius<br />
über die nach „teutonischer Art<br />
ihre Wurfgeschosse Schleudernden“,<br />
wobei in der Antike noch nicht ganz<br />
klar war, ob es sich bei den Kimbern<br />
und Teutonen eher um Kelten oder<br />
um „Germanen“ handelte. Im Lauf<br />
des 10. und 11. Jahrhunderts kommt<br />
„teutonicus“ recht häufig vor, und<br />
immer mit Bezug auf das nachmalig<br />
„<strong>Deutsche</strong>“. Die Forschung sah<br />
darin sogar ein Sichtbarwerden der<br />
Konsolidierung eines „deutschen“<br />
Reiches gegenüber dem westfränkischen,<br />
„französischen“. Das bekannteste<br />
Beispiel dafür ist der Ausdruck<br />
„regnum Teutonicorum“, mit dem<br />
der Papst das Reich Heinrichs IV.<br />
im Zusammenhang mit dessen Gang<br />
nach Canossa bezeichnete. Dieser<br />
öfter auch abfällig gemeinte Name<br />
hat sich zwar nicht durchgesetzt,<br />
denn selbst im heutigen Italienisch<br />
sind wir die „Tedeschi“ (von „theodisci“)<br />
und nicht etwa „Teutonici“,<br />
aber geblieben ist er den <strong>Deutsche</strong>n<br />
bis heute, wenn auch scherzhaft.<br />
Vom „furor Teutonicus“ abgesehen,<br />
ist der sog. „Teutonengrill“ an südlichen<br />
Gestaden noch recht bekannt;<br />
und im Januar 2006 stand in einer<br />
großen deutschen Tageszeitung ein<br />
Leitartikel zum Problem deutscher<br />
Arbeitskräfte in der Schweiz mit<br />
dem Titel „Völkerwanderung“. Er<br />
schließt: „weil sonst zu viele Teutonen<br />
kommen“.<br />
Zu „<strong>Deutsche</strong>n“ wurden wir durch<br />
die Gemeinsamkeit der theodisca<br />
lingua, die trotz aller Dialektunterschiede<br />
von Dänemark bis ins Langobardenreich<br />
südlich der Alpen<br />
verstanden wurde und damit eine<br />
der wichtigsten geistigen Klammern<br />
zwischen den Stämmen und eine der<br />
Voraussetzungen für eine „deutsche“<br />
Identität bilden konnte.<br />
Fortsetzung folgt.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Vergleiche Ruth Schmidt-Wiegand,<br />
Die Malbergischen Glossen, eine<br />
frühe Überlieferung germanischer<br />
Rechtssprache. In: Heinrich Beck<br />
(Hrsg.), Germanische Rest- und<br />
Trümmersprachen, Ergänzungsbände<br />
zum Reallexikon der Germanischen<br />
Altertumskunde 3, Berlin/New<br />
York 1989, Seite 157-174.<br />
2 Vergleiche Ernst Erich Metzner,<br />
Deutsch-welsch-wendisch. Die Anfänge<br />
des Namens theodiscus/deutsch<br />
in Alt-Europa. Der Sprachdienst 47,<br />
2003, Seite 89-98.<br />
Einem Teil<br />
unserer Auflage<br />
(nur Deutschland)<br />
liegt ein Prospekt<br />
vom Atlas Verlag, Weil<br />
am Rhein, bei.<br />
Wir bitten um<br />
freundliche Beachtung.<br />
Vielen Dank.