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Erziehung zur Moderne - TOBIAS-lib - Universität Tübingen

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weise an sich innewohnen, und so mancher fordert im Grunde die Abschaffung<br />

„dieser Brutstätte von Elend, Hunger und Krankheit“ 31 :<br />

„Wir haben bei diesen Erörterungen stillschweigend vorausgesetzt, daß<br />

die Hausindustrie nach wie vor bestehen bleibt. Es wäre aber nicht ausgeschlossen,<br />

daß es anders käme, daß nämlich der höhere Preis der Arbeit<br />

dem Fabrikanten die ganze hausindustrielle Betriebsform verleidete und<br />

entbehrlich erscheinen ließe. Der Fabrikant würde dann seine Fabrik vergrößern<br />

und der reine Verleger zum Fabrikbetrieb übergehen müssen.<br />

Dann würde der Arbeiter in die Fabrik wandern, in der ihm immerhin bessere<br />

Bedingungen winken, als er in seiner Heimstätte kennt. Er würde den<br />

Bestimmungen der Arbeiterschutzgesetzgebung unterworfen sein, die bisher<br />

einer mechanischen Übertragung auf die Hausindustrie spotteten.“ 32<br />

Allerdings waren viele Heimarbeiter von den positiven Auswirkungen der Arbeit<br />

in der Fabrik nicht überzeugt - auch viele Thüringer Spielwarenmacher empfanden<br />

die Aufgabe dieser „prekären Selbständigkeit“ 33 als sozialen Rückschritt.<br />

„Dennoch sträuben sich die Kleinmeister mit Händen und Füssen gegen<br />

den Eintritt in die Fabrik! Das muss seinen Grund haben. So lange der<br />

Meister selbständig ist, dünkt er sich sein eigener Herr, er hungert, aber er<br />

hungert innerhalb seiner 4 Pfähle, er ist ein Bettler auf eigene Faust; in der<br />

Fabrik wird ihm auch nichts geschenkt, und er verliert die Freiheit seiner<br />

Bewegung. Er mag sich nicht durch ein Glockenzeichen an die Arbeit<br />

commandiren und von ihr wieder abbefehlen lassen, er will seine Kartoffeln<br />

essen, wenn er Hunger hat und nicht, wenn es die Hausordnung verstattet.<br />

Auch hält er noch auf äussere Geltung, und da spielt denn doch<br />

der ‘Meister’ oder ‘Fabrikant’ eine andere Rolle in der Schützengesellschaft<br />

und auf der Kneipe, als wie der ‘Fabrikarbeiter’.“ 34<br />

31<br />

Stillich, Spielwaren-Hausindustrie (1899), S. 87. Da Stillichs Arbeit „stark sozialistisch<br />

gefärbt“ gewesen sei, wird unter der Ägide von Gustav Schmoller eine „Gegenschrift“<br />

veröffentlicht: Ernst Rausch, Die Sonneberger Spielwaren-Industrie und die verwandten<br />

Industrieen der Griffel- und Glasfabrikation unter besonderer Berücksichtigung der<br />

Verhältnisse in der Hausindustrie, Berlin 1901. Aber auch wenn Rausch Stillich in<br />

manchen Punkten widerlegt bzw. widerspricht, klingen seine Ergebnisse am Ende recht<br />

ähnlich. Der Hauptunterschied der beiden Studien liegt weniger in der Sache als in der<br />

politischen Einstellung der Verfasser, darin, daß Rausch „viel selbstverschuldetes<br />

Unglück“ in der Sonneberger Hausindustrieregion sieht, das die betroffenen „mit Fleiß<br />

und Sparsamkeit“ selbst zum Guten wenden könnten.<br />

32<br />

Stillich, Spielwaren-Hausindustrie (1899), S. 86.<br />

33 Ulrich Wengenroth (Hg.), Prekäre Selbständigkeit. Zur Standortbestimmung von Handwerk,<br />

Hausindustrie und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozeß, Stuttgart 1989.<br />

34 Sax, Hausindustrie in Thüringen (1885), S. 54 ff.<br />

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