und st.Gallen die - Saiten
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thema R<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong>flug<br />
2003, marianne Koller (FdP, 2005) <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> matthias<br />
Weishaupt (SP, 2006), <strong>die</strong> alle 2019 nicht<br />
mehr antreten dürften. das bedeutete fürs Er<strong>st</strong>e<br />
also keine durchrüttlung. Fürs Er<strong>st</strong>e keine<br />
neuen Köpfe.<br />
heidi eisenhut, 1976, hi<strong>st</strong>orikerin <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> leiterin<br />
der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden.<br />
winterthur<br />
haben Sie fünf<br />
minuten?<br />
Flash crash – unter <strong>die</strong>sem Namen wurde der<br />
plötzliche Einbruch der uSbörse am 6. mai<br />
2010 bekannt. Einzelne Aktientitel verloren<br />
zeitweise mehr als 99 Prozent ihres Werts. In<br />
wenigen minuten sank der Index S&P 500 um<br />
sechs, der Indu<strong>st</strong>rieIndex dow Jones um über<br />
neun Prozent. <strong>die</strong> Intensität des handels schoss<br />
zugleich um ein Sechsfaches in <strong>die</strong> höhe. doch<br />
<strong>st</strong>iegen <strong>die</strong> Kurse rasch wieder an. der Flash<br />
crash blieb Episode: ein zucken, ein Flackern<br />
auf den bildschirmen, wenn man so will. Allerdings<br />
blieb unklar, warum es zu <strong>die</strong>sem blackout<br />
kam. Als Erklärungen werden der Tippfehler<br />
eines händlers aber auch sy<strong>st</strong>emische Effekte<br />
des automatisierten handels genannt: menschliches<br />
oder technisches versagen?<br />
über <strong>die</strong>se <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> andere Fragen kann am 10.<br />
November in der Architekturhalle der zhAW<br />
diskutiert werden, <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> zwar mit einem banker,<br />
einem buchhalter, einem Kün<strong>st</strong>ler oder<br />
einem Punk. So verspricht es <strong>die</strong> Ankündigung<br />
der veran<strong>st</strong>altung «Speed dating the Future» –<br />
<strong>die</strong> Affinität von Finanzbranche <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> Prekariat<br />
scheint nicht ganz zufällig. das rasche Kennenlernen<br />
<strong>st</strong>eht im zeichen der grossen Frage nach<br />
der zukunft des Kapitalismus <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> i<strong>st</strong> Teil des<br />
rahmenprogramms der Kurzfilmtage. veran<strong>st</strong>alter<br />
sind jedoch nicht <strong>die</strong> Kurzfilmtage selber,<br />
sondern ein Think Tank namens «Web for In<br />
Führte menschliches Versagen zum Flash<br />
Crash der Börse 2010? bild: pd<br />
terdisciplinary research & Expertise» (W.I.r.E.).<br />
<strong>die</strong>ser wiederum i<strong>st</strong> eine Kooperation des collegium<br />
helveticum mit der bank Sarasin. das<br />
collegium helveticum i<strong>st</strong> seinerseits eine interdisziplinäre<br />
Initiative von universität <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> ETh<br />
zürich, <strong>die</strong> bank Sarasin gehört seit kurzem der<br />
brasilianischen Safragruppe. «Speed dating the<br />
Future» i<strong>st</strong> also gewissermassen ein <strong>st</strong>rukturiertes<br />
Produkt der gattung public private partnership.<br />
Komplementär zur «<strong>st</strong>rukturierten verantwortungslosigkeit»<br />
(claudia honegger) <strong>st</strong>eht es für<br />
<strong>die</strong> Aufteilung der zivilgesellschaftlichen Sorge.<br />
Wo klemmt es, wer hat versagt, wie geht es weiter?<br />
So lauten <strong>die</strong> Fragen – <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> wie auch immer<br />
<strong>die</strong> Antworten ausfallen: sie werden kurz sein.<br />
<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> noch etwas i<strong>st</strong> sicher: «Speed dating<br />
the Future» verwei<strong>st</strong> darauf, dass das Selb<strong>st</strong>ver<strong>st</strong>ändnis,<br />
mit dem sich <strong>die</strong> leute im 21. Jahrh<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong>ert<br />
von finanzwirtschaftlichen Prozessen<br />
begleiten lassen, nachhaltiger ge<strong>st</strong>ört i<strong>st</strong>, als es<br />
<strong>die</strong> Kursbewegungen an den börsen abbilden<br />
könnten. <strong>die</strong> Teilnahme i<strong>st</strong> also empfehlenswert<br />
<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> verspricht kleine Störungen der Selb<strong>st</strong> <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong><br />
Weltwahrnehmung; einen ganz persönlichen<br />
Flash crash, sozusagen. Ein Totalab<strong>st</strong>urz der<br />
Weltbilder i<strong>st</strong> eher unwahrscheinlich.<br />
wendelin brühwiler, 1982, i<strong>st</strong> freier Journali<strong>st</strong><br />
<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> arbeitet an der Forschungs<strong>st</strong>elle für Sozial<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong><br />
Wirtschaftsgeschichte der uni zürich.<br />
Vorarlberg<br />
der dinkel <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> <strong>die</strong><br />
Kirchenlehrerin<br />
Wenn man wie ich <strong>die</strong> schlechte Angewohnheit<br />
hatte, morgens den lokalsender am radio<br />
aufzudrehen <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> ihn den vormittag über im<br />
hintergr<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> laufen zu lassen, penetrierte einem<br />
lange zeit eine besonders dumme Sendungdas<br />
dem Apparat zugewandte ohr: Kochen mit<br />
hildegard, manchmal auch: hildegardmedizin.<br />
mittlerweile hat das vielleicht etwas nachgelassen,<br />
<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> ich mus<strong>st</strong>e auch fe<strong>st</strong><strong>st</strong>ellen, dass<br />
vorarlberg zwar ein besonderes Ne<strong>st</strong> von hildegardAnhängerinnen<br />
sein mag, der unsinnige<br />
Kult um <strong>die</strong> hildegardmedizin aber durchaus<br />
auch in Süddeutschland <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> in der o<strong>st</strong>schweiz<br />
fröhliche ur<strong>st</strong>änd feiert.<br />
hildegard von bingen (10981179) i<strong>st</strong> am 7.<br />
oktober 2012 von benedikt xvI. zur Kirchenlehrerin<br />
erklärt worden. das i<strong>st</strong> im Katholizismus<br />
eine Person, <strong>die</strong> den menschen <strong>die</strong> lehre<br />
des eigentlichen Kirchenlehrers Jesus chri<strong>st</strong>us<br />
besonders nahe bringt, zum beispiel Albertus<br />
magnus, Anselm von canterbury, Johannes vom<br />
Kreuz oder Teresa von Ávila. Einevoraussetzung<br />
war hildegards heiligsprechung, <strong>die</strong> er<strong>st</strong>mals<br />
1227 <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> in den folgenden Jahrh<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong>erten noch<br />
mehrmals gescheitert war, bis zu einer «gleichwertigen<br />
Kanonisierung» durch den Pap<strong>st</strong> am<br />
10. mai 2012. benedikt wird dabei weniger an<br />
32<br />
dinkelrezepte <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> gutelauneKekse als vielmehr<br />
an Aussagen hildegards wie <strong>die</strong> folgenden<br />
gedacht haben: «So dürfen auch keine Frauen<br />
zu <strong>die</strong>sem meinem Altar<strong>die</strong>n<strong>st</strong> hinzutreten, weil<br />
sie ein schwaches <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> gebrechliches gefäss sind.<br />
Sie sind dazu be<strong>st</strong>ellt, Kinder zu gebären <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> <strong>die</strong><br />
sie gebären, sorgfältig aufzuziehen.» oder: «<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong><br />
so i<strong>st</strong> das Weib schwach <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> blickt zum manne<br />
auf, um von ihm umsorgt zu werden, ähnlich<br />
wie der mond seine Stärke von der Sonne empfängt.<br />
deshalb i<strong>st</strong> <strong>die</strong> Frau auch dem manne<br />
unterworfen <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> muss jederzeit zum <strong>die</strong>nen<br />
bereit sein.»<br />
hildegard hatte visionen (<strong>die</strong> bei agno<strong>st</strong>ischen<br />
Psychiatern als bilderbuchbeispiele von<br />
Anfällen auratischer migräne gelten), schrieb<br />
«freche» briefe an hohe gei<strong>st</strong>liche <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> an weltliche<br />
herrscher (von denen es teilweise zwei<br />
versionen gibt, eine deutliche in ihrem Klo<strong>st</strong>er<br />
<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> eine gemässigte beim Empfänger), war<br />
als Äbtissin sicher eine gute managerin (<strong>die</strong> nur<br />
adelige Nonnen in ihr Klo<strong>st</strong>er aufnahm) <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong><br />
eine interessante Person. Alle bücher, <strong>die</strong> ihr zugeschrieben<br />
werden, wurden von ihrem Schreiber<br />
aufgezeichnet <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> kamen nur in wesentlich<br />
später angefertigten Kopien auf <strong>die</strong> Nachwelt,<br />
wobei auch <strong>die</strong> seriöse, katholische Prohildegardliteratur<br />
seit fünfzig Jahren bei den naturwissenschaftlichen<br />
Schriften einräumt, dass<br />
sie nicht wirklich auf hildegard zurückgehen,<br />
sondern es sich wohl um Kompilationen aus<br />
älteren Schriften anderer, teils antiker Autoren<br />
handelt. <strong>die</strong> naheliegende Frage, wann denn <strong>die</strong><br />
viel beschäftigte Äbtissin zeit <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> musse gehabt<br />
haben könnte, naturwissenschaftliche Stu<strong>die</strong>n zu<br />
betreiben <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> beispielsweise Tiere zu beobachten,<br />
wird trotzdem nie ge<strong>st</strong>ellt, dafür wird <strong>die</strong><br />
angebliche genauigkeit mancher Passagen hoch<br />
gelobt, während man auf behauptungen wie <strong>die</strong>,<br />
der Aal gehe aus der Kopulation eines Aalmännchens<br />
mit einer Schlange hervor, nie eingeht.<br />
bei den rezepten i<strong>st</strong> es ähnlich, jeder kennt<br />
hildegardrezepte mit dinkel oder mit muskatnuss,<br />
aber natürlich <strong>st</strong>eht in keinem der<br />
Kochbücher ihre Empfehlung, vom maulwurf<br />
nur <strong>die</strong> leber, nicht aber das herz oder <strong>die</strong> lunge<br />
zu essen, oder ihr rezept für <strong>die</strong> zubereitung<br />
des Schweinsigels: in Wasser kochen, mit zimt,<br />
bertram <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> Pimpernell würzen. dafür wissen<br />
<strong>die</strong> verfasserinnen, was hildegard von den er<strong>st</strong><br />
drei Jahrh<<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong>erte nach ihrem Tod aus Amerika<br />
importierten Pflanzen wie Tomaten, Kartoffeln<br />
oder mais gehalten hätte. beim dinkel habe ich<br />
den verdacht, dass man für den von den Nationalsoziali<strong>st</strong>en<br />
<strong>st</strong>ark geförderten Anbau nach<br />
1945 eine bessere Patenschaft für <strong>die</strong>ses getreide<br />
brauchte, <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> hildegard da gerade recht kam.<br />
Aber nochmals: Alle seriösen Publikationen<br />
zu hildegard lehnen <strong>die</strong>se Koch, Kräuter <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong><br />
heil<strong>st</strong>einbücher ab, <strong>die</strong> mit der hi<strong>st</strong>orischen<br />
Person hildegard von bingen definitiv nichts<br />
zu tun haben.<br />
kurt bracharz, 1947, arbeitet als Schrift<strong>st</strong>eller,<br />
Kolumni<strong>st</strong> <<strong>st</strong>rong>und</<strong>st</strong>rong> übersetzer in bregenz.<br />
SAITEN 11.12