Internationale Institutionen und nichtstaatliche Akteure
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erfüllung seine gesellschaftliche Identität bestätigen.<br />
Diese idealtypische Mentalität fehlt<br />
dem vergleichbaren nigerianischen oder pakistanischen<br />
Post- oder Schalterbeamten; im<br />
Militär lässt sich diese nicht dem Staat, sondern<br />
der Familie oder dem Clan geschuldete<br />
Loyalität an der hohen Desertionsrate wie in<br />
Afghanistan festmachen.<br />
Um Missverständnisse zu vermeiden: Nicht<br />
die empirische Wirklichkeit europäischer<br />
Staatengeschichte ist hier zu thematisieren –<br />
die ist über weite Strecken so grauenvoll <strong>und</strong><br />
de struk tiv, dass man sich fragen muss, wie es<br />
kam <strong>und</strong> kommt, dass ihre Idee überhaupt<br />
überlebt hat. Der Schlüssel zu einer möglichen<br />
Antwort liegt im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert: So<br />
weltweit überwältigend war der Erfolg europäischer<br />
Staatlichkeit gewesen, dass ihre<br />
Theoretiker <strong>und</strong> handelnden Protagonisten<br />
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
als sie mit der ordnungspolitischen Aufgabe<br />
konfrontiert wurden, den militärisch <strong>und</strong><br />
ökonomisch relativ leicht unterworfenen außereuropäischen<br />
Gesellschaften den Weg in<br />
die politische Selbstständigkeit zu öffnen <strong>und</strong><br />
ihnen ihre Freiheit zur Selbstbestimmung ihres<br />
politischen Schicksals zurückzugeben,<br />
sich diese gar nicht anders vorstellen konnten<br />
als im Gehäuse wiederum europäisch modellierter<br />
Staaten.<br />
Den Entkolonisierten den europäischen<br />
Staat als Bedingung für die Souveränität zu<br />
oktroyieren, war nicht, oder jedenfalls nicht<br />
ausschließlich, ein zynisch-machiavellistisches<br />
Manöver zur Fortsetzung der Kolonialherrschaft<br />
mit anderen Mitteln. Diese institutionelle<br />
Strategie entsprang vielmehr einer<br />
nachvollziehbaren kulturellen Blindheit der<br />
europäischen außenpolitischen Eliten, ideologisch<br />
unterstützt von Sozialwissenschaftlern<br />
ohne differenzierte ethnologische <strong>und</strong><br />
präkoloniale historische Kenntnisse. Staat<br />
musste sein, weil er vernünftig war <strong>und</strong> sich<br />
in Europa bewährt hatte. Unterschlagen, vergessen<br />
<strong>und</strong> verdrängt wurde dabei, dass der<br />
europäische, sogenannte Nationalstaat sich<br />
seine Nation – die kulturelle, sprachliche, religiöse<br />
Homogenität – erst im Laufe von mehr<br />
als drei Jahrh<strong>und</strong>erten in blutigen, bisweilen<br />
massenmörderischen Kriegen hatte erkämpfen<br />
müssen: Man erinnere sich an den organisierten<br />
Massenmord <strong>und</strong> die Vertreibung der<br />
französischen Hugenotten oder an Zwangstaufe<br />
<strong>und</strong> Vertreibung der spanischen Juden<br />
nach der Reconquista. Dem jüngsten europäischen<br />
Nationalstaat galt der erleichterte <strong>und</strong><br />
besorgte Stoßseufzer: „L’Italia è fatta, ora<br />
facciamo gli Italiani“ – Italien ist gemacht,<br />
jetzt müssen die dazugehörigen Italiener gemacht<br />
werden. Für die neuen Staaten waren<br />
darum „Bürgerkriege“ absehbar <strong>und</strong> vorprogrammiert<br />
– dreißig Jahre lang zusätzlich instrumentalisiert<br />
vom sowjetisch-amerikanischen<br />
Hahnenkampf im Kalten Krieg. Mehr<br />
als andere taten sich da die USA hervor, die<br />
heute den Sturm ernten, den sie damals als<br />
Wind säten (al-Qaida, Taliban). Aber dieses<br />
Kapitel ist weit davon entfernt, im historischen<br />
Bewusstsein des Westens angekommen<br />
zu sein, <strong>und</strong> die Regierenden haben mit Erfolg<br />
alles getan, um es vergessen zu machen.<br />
Ganz anders allerdings steht es um die historische<br />
Erinnerung daran bei den Betroffenen,<br />
den Opfern dieser machiavellistischen Herrschaftsstrategien<br />
– sie haben nicht vergessen.<br />
Das heute zu beobachtende <strong>und</strong> analytisch<br />
zu entschlüsselnde Phänomen des Staatenzerfalls,<br />
eben der failed states, hat hier seinen<br />
Ursprung. Die von Hegel auf den Begriff<br />
gebrachte Idee der Staatlichkeit konnte<br />
in den überwiegend ethnisch <strong>und</strong> tribal organisierten<br />
Gesellschaften Afrikas, der arabischen<br />
Völker oder Südostasiens keine Anknüpfungspunkte<br />
finden. Wer dort vom Staat<br />
als Wirklichkeit der sittlichen Idee spräche,<br />
würde bestenfalls auf Unverständnis stoßen,<br />
vermutlich aber politisch nicht ernst genommen<br />
bzw. ausgelacht werden. Kaum einem<br />
der jungen Staaten ist es gelungen, ein identitätsstiftendes<br />
Dach für seine Bevölkerung<br />
zu konstruieren, aus einem machtpolitisch<br />
auf Landkarten konstruierten Staatsvolk<br />
von vielfältigen Stämmen <strong>und</strong> Religionsgemeinschaften<br />
einen funktionierenden Nationalstaat<br />
zu bilden oder wenigstens ein<br />
übergreifendes Staatsbewusstsein zu stiften.<br />
Afghanistans Stammesgesellschaft ist da wiederum<br />
nur das aktuellste <strong>und</strong> dramatischste<br />
Beispiel. Der amerikanische Botschafter<br />
Karl W. Eikenberry resümierte seine Erfahrungen<br />
in Afghanistan nüchtern: „Abgesehen<br />
von [dem Präsidenten Hamid] Karsai gibt es<br />
keine politische Elite, die aus den lokalen Loyalitäten<br />
eine nationale Identität formen <strong>und</strong><br />
ein zuverlässiger Partner sein könnte.“ Über<br />
die afghanischen warlords schreibt ein gut informierter<br />
Journalist: „Sie sind Menschenschlächter,<br />
die ganze Bevölkerungsgruppen<br />
vertreten: Ich zahle, Du kämpfst <strong>und</strong> stimmst<br />
APuZ 34–35/2010 43