Solothurn - Kirchenblatt
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André Kolly<br />
1949<br />
Theologe und Journalist<br />
François Gross<br />
1931<br />
Journalist, Chronist und<br />
Ex-Chefredaktor von<br />
«La Liberté»<br />
heit geraten. Zum anderen habe es sich<br />
dabei um «die vollständigsten Texte un -<br />
serer Kirche in der Schweiz» gehandelt.<br />
Diese könnten noch heute in mancherlei<br />
Hinsicht als Inspirationsquelle dienen.<br />
Priesterehe, Weihe von verheirateten Männern<br />
zu Priestern, Zulassung von Frauen<br />
zu Weiheämtern, Zulassung der wiederverheirateten<br />
Geschiedenen zu den Sakramenten,<br />
diese aktuell diskutierten Fra -<br />
gen waren bereits 1972 Gegenstand von<br />
Debatten. In vierzig Jahren scheinen sich<br />
die Antworten kaum verändert zu haben.<br />
Fehlt es der Kirche an Inspiration?<br />
Nein, der Geist weht nach wie vor.<br />
François Gross: «Die Angst vor dem Fundamentalismus<br />
und der vom Traditionalismus<br />
ausgeübte Druck lähmen das<br />
Nachdenken über diese Fragen. Demzufolge<br />
bastelt sich jeder eine Moral, die<br />
ihm entspricht.»<br />
Der Bischof von Lugano spricht eher von<br />
einer «Veränderung in der Kirchendisziplin.<br />
Sie ist durch das Schisma der katholischen<br />
Lefebvristen gebremst worden<br />
und durch die Unvorsichtigkeit jener, die<br />
mit einer individualistischen Vision sich<br />
an der katholischen und damit an der universalen<br />
Dimension der Kirche desinteressierten.»<br />
Der Irrtum habe darin bestanden,<br />
«sehr unterschiedliche Problemati-<br />
Amedée Grab<br />
1930<br />
1987–1995<br />
Bischof von<br />
Lausanne, Genf, Fribourg<br />
1995–1998<br />
Bischof von Chur<br />
Henry Schwery<br />
1932<br />
1977–1995<br />
Bischof von Sitten<br />
1991 Kardinal<br />
Ivo Fürer<br />
1930<br />
1995–2005<br />
Bischof von St. Gallen<br />
ken zu vermischen – wie etwa die Pries -<br />
terweihe für verheiratete Männer und das<br />
Weiheamt für Frauen», meint Grampa.<br />
Neue Synode als Lösung?<br />
Muss in der Schweiz eine neue Synode<br />
einberufen werden, um auf die Fragen<br />
des heutigen Menschen zu antworten<br />
und die Impulse von 1972 wiederzufinden?<br />
Darüber gehen die Meinungen auseinander.<br />
Doch alle Befragten stimmen<br />
darin überein, dass eher Zurückhaltung<br />
angezeigt ist. Die meisten Akteure der Synode<br />
72 gestehen zu, dass diese rasch der<br />
Vergessenheit anheimgefallen ist.<br />
«Eine Synode ins Auge fassen ist zwar<br />
möglich, aber diese Synode müsste nicht<br />
den ‹Anstoss von 1972› wiederfinden<br />
wollen», meint Bischof Amédée Grab zu -<br />
rück haltend. «Wir brauchen kein ‹Remake›,<br />
sondern einen neuen Atem. Und der<br />
kann nur vom Heiligen Geist kommen,<br />
empfangen in der Gemeinschaft der Universalkirche,<br />
für die der Papst der sichtbare<br />
Garant ist. Diese neue Synode müss -<br />
te die Priester und auch die Laien inte -<br />
grieren, und letztere sollten «nicht nur<br />
über beratende, sondern auch über beschliessende<br />
Stimmen verfügen», unterstreicht<br />
Ivo Fürer.<br />
«Heute ist die Kirche in der Schweiz nicht<br />
reif für eine neue Synode», räumt Pier<br />
Giacomo Grampa ein. André Kolly sieht<br />
das ähnlich. Er schlägt hingegen pragmatisch<br />
vor, neue Formen kirchlichen Lebens<br />
zu erproben: «Heute muss man möglicherweise<br />
andere Formen der Intensivierung<br />
des kirchlichen Lebens suchen. Auf<br />
institutioneller Ebene verfügen wir über<br />
alles, was es braucht und vielleicht sogar<br />
Pier Giacomo Grampa<br />
1936<br />
2003<br />
Bischof von Lugano<br />
Georges Cottier<br />
1922<br />
Dominikaner<br />
2003 Kardinal<br />
zu viel. Es fehlen hingegen die Qualitäten<br />
des Herzens. Wenn man in der Kirche so<br />
predigt, dass die Menschen nicht angesprochen<br />
werden, dann haben die ja<br />
auch keinen Grund zum Wiederkommen.»<br />
Das Potenzial des Konzils entdecken<br />
Die Zeit eilt. Die institutionellen Kirchen<br />
verlieren Mitglieder, und die Kirchen leeren<br />
sich. «Die Anstösse der Synode 72<br />
müssen unbedingt der Vergessenheit ent -<br />
rissen werden», sagt Grampa. Wie soll<br />
das geschehen? «Indem man den einzigen<br />
möglichen Weg geht: denjenigen der<br />
Bekehrung. Der Weg der vollen Zustimmung<br />
zur Frohen Botschaft sowie der<br />
kohärenten und konsequenten Anwendung<br />
des Zweiten Vatikanischen Konzils.»<br />
Ist die Synode 72 nicht deshalb in Vergessenheit<br />
geraten, weil die Lehren des<br />
Konzils ungenügend aufgenommen und<br />
verarbeitet worden sind? Dieser Ansicht<br />
ist Kardinal Georges Cottier, ehemaliger<br />
päpstlicher Haustheologe in Rom und<br />
einst Mitglied der diözesanen Synode im<br />
Bistum Lausanne-Genf-Freiburg sowie<br />
Delegierter an der überdiözesanen Versammlung.<br />
Während die Synode 72 unter<br />
den Katholiken weitgehend vergessen<br />
gegangen sei, kehre das Konzil kraftvoll<br />
zurück, und es würden darin immer noch<br />
neue Potenzialitäten entdeckt, meint Cottier.<br />
Wer das Konzil nicht annehme, der<br />
verweigere sich dem erneuernden Atem<br />
des Geistes – mit der Gefahr, die Kirche in<br />
eine Vergangenheit ohne Zukunft einzusperren,<br />
warnt Bischof Grampa.<br />
KIRCHENBLATT 20•21 2012 5<br />
Thema