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Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...

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Nr. 1 | 31. Januar 2010<br />

<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> <strong>Hommage</strong> <strong>von</strong> <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> | Sigmund <strong>Freud</strong> – Karl<br />

Abraham Korrespondenz | Siegfried Unseld – Thomas Bernhard Briefe |<br />

Sheilah Graham Memoiren | Nikolaus Harnoncourt/Hans Werner Henze<br />

Zwei Biografien |Weitere Rezensionen zu Thomas Mann, Arthur Koestler,<br />

Zoë Ferraris und den Brüdern Grimm | Charles Lewinsky Zitatenlese


«Man bemerkt sein Alt- und Älterwerden daran, dass Leute<br />

<strong>von</strong> immer höheren Jahren einem jung vorkommen.»<br />

Die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit kommen<br />

ins Rentenalter. Damit ist ein demografischer Wandel verbun-<br />

den, der bisher noch nicht erforscht worden ist. Diese soge-<br />

nannten Babyboomer gehören zueiner Generation, die wegen<br />

ihrer grossen Zahl injeder Lebensphase die Gesellschaft mit-<br />

bestimmt hat und die auch das Bild des Alters fundamental<br />

verändern wird. Die Autoren zeichnen anhand zentraler The-<br />

men, wie Pensionierung, Wohnen, Partnerschaft, sozialem<br />

Engagement und Gesundheit, ein differenziertes soziopsy-<br />

chologisches Porträt dieser Generation und zeigen Muster,<br />

Hintergründe und Lösungen auf. Illustriert ist das Buch mit<br />

aussagestarken Fotos <strong>von</strong> Lucia Degonda.<br />

Pasqualina Perrig-Chiello, François Höpflinger<br />

Die Babyboomer<br />

Eine Generation revolutioniert das Alter<br />

160 Seiten, 30 Fotos <strong>von</strong> Lucia Degonda, gebunden, Fr. 48.–<br />

NZZ Libro<br />

Buchverlag Neue Zürcher Zeitung<br />

Postfach, CH-8021 Zürich<br />

Telefon +41 44 258 15 05, Fax +41 44 258 13 99<br />

nzz.libro@nzz.ch<br />

Erhältlich auch in jeder Buchhandlung und im NZZ-Shop<br />

Falkenstrasse/Ecke Schillerstrasse, Zürich<br />

Arthur Schopenhauer<br />

10CEXLOQ6AMAwF0RPF-nZsBeMySxUhBIj7HwVBQzGvmznDCF-1b1c_ggG19AoNc6PMlmMRoaLqOcDCAsaKYmBzePxDqi2dwABuMO1tPPBA42pgAAAA<br />

10CAsNsjY0MDAx1QWRBiYAEzgr0A8AAAA=<br />

4.<br />

Auflage<br />

Das mittlere Erwachsenenalter – bis Mitte des 20. Jahrhun-<br />

derts ein undifferenzierter Lebensabschnitt –entwickelt sich<br />

aufgrund der längeren Lebenserwartung zunehmend zu einer<br />

eigenständigen Lebensphase mit spezifischen Lebensvorstel-<br />

lungen, kulturellen Ausdrucksformen, Entwicklungsaufgaben<br />

und Handlungsmöglichkeiten. Erstaunlicherweise ist diese Le-<br />

bensphase sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich<br />

äusserst definitionsbedürftig. Sowird das mittlere Lebensalter<br />

einerseits als ein ereignisloses Entwicklungsplateau angese-<br />

hen, andererseits mit dramatischen Ereignissen assoziiert wie<br />

Midlife-Crisis, Burn-out, mit endlosen Konflikten in Familie<br />

und Partnerschaft. Was trifft nun zu? Was ist «normal»?<br />

Pasqualina Perrig-Chiello<br />

In der Lebensmitte<br />

Die Entdeckung des mittleren Lebensalters<br />

160 Seiten, 40 Fotos <strong>von</strong> Fridolin Walcher, gebunden, Fr. 48.–<br />

www.nzz-libro.ch


Inhalt<br />

Männer?Sehen<br />

ohne Zweihänder<br />

besser aus<br />

Nr. 1 | 31. Januar 2010<br />

<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> <strong>Hommage</strong> <strong>von</strong> <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> | Sigmund <strong>Freud</strong> – Karl<br />

Abraham Korrespondenz | Siegfried Unseld – Thomas Bernhard Briefe |<br />

Sheilah Graham Memoiren | Nikolaus Harnoncourt/Hans Werner Henze<br />

Zwei Biografien |Weitere Rezensionen zu Thomas Mann, Arthur Koestler,<br />

Zoë Ferraris und den Brüdern Grimm | Charles Lewinsky Zitatenlese<br />

<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong><br />

(Seite 12).<br />

Illustration <strong>von</strong><br />

André Carrilho<br />

Belletristik<br />

4 Der Briefwechsel Thomas Bernhard<br />

–Siegfried Unseld<br />

VonBruno Steiger<br />

6 SheilahGraham, Gerold Frank: Die<br />

furchtlosen Memoiren der Sheilah Graham<br />

VonSacha Verna<br />

7 Kristof Magnusson: Daswar ich nicht<br />

VonSimone <strong>von</strong>Büren<br />

Jean Echenoz: Laufen<br />

VonSandraLeis<br />

8 ZoëFerraris: Totenverse<br />

VonPia Horlacher<br />

Martin Roemers, Fotograf: Relics<br />

of the Cold War<br />

VonGerhardMack<br />

9 Thomas Mann: Betrachtungen eines<br />

Unpolitischen<br />

VonManfred Papst<br />

10 Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des<br />

Lebens<br />

VonAngelikaOverath<br />

11 Linus Reichlin: Der Assistent der Sterne<br />

VonChristine Brand<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

11 Michael Herzig: Die Stunde der Töchter<br />

VonRegula Freuler<br />

EudoraWelty: Ein Vorhang aus Grün<br />

VonRegula Freuler<br />

JuanCarlos Onetti: Der Schacht.<br />

Niemandsland. Für diese Nacht<br />

VonManfred Papst<br />

Lioba Happel: Land ohne Land<br />

VonManfred Papst<br />

Essay<br />

12 <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>, Schriftsteller<br />

Ansichteneines stubenhockerischen<br />

<strong>Proust</strong>ianers<br />

Von<strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong><br />

Dieses Heft, liebe Leserin, wird dominiert <strong>von</strong> Männerthemen. Im<br />

Zentrum steht das sinnenfreudige Werk des französischen Romanciers<br />

<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong>, besprochen <strong>von</strong> einem passionierten Leser (Seite 12).<br />

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit stellen wir Ihnen sodann den<br />

Briefwechsel des Dramatikers Thomas Bernhard mit dem Verleger<br />

Siegfried Unseld vor. 500 Briefe, die den schriftstellerischen Erfolg<br />

ebenso nachzeichnen wie das Wachsen einer verstörenden Geschäfts–<br />

beziehung (S. 4). Kein «Zweipersonendrama» – wie bei Bernhard und<br />

Unseld –, doch echte Männerfreundschaft entwickelte sich zwischen<br />

Sigmund <strong>Freud</strong> und Karl Abraham. Produktiv für die Entwicklung der<br />

Psychoanalyse und das Zürcher Burghölzli (S. 16).<br />

Für das Thema Maskulinismus könnten auch weitere Namen aus dieser<br />

Nummer stehen: Thomas Mann, Emil Zátopek, Hans Werner Henze,<br />

Arthur Koestler . . . Aber natürlich, geschätzter Leser, darf auch das<br />

weibliche Element nicht fehlen. Angefangen <strong>von</strong> den Memoiren der<br />

Hollywood-Klatschkolumnistin Sheilah Graham über Zoë Ferraris’<br />

neuen Krimi, die Erfolgsstory <strong>von</strong> Sozialunternehmerin Daniela Merz<br />

bis zum Bildband «Frauen ohne Maske», der die Feminisierung der<br />

Berufswelt zum Inhalt hat. Männernummern? Frauenthemen? Ja, klar,<br />

wenn nicht gleich reflexartig der Gender-Zweihänder bemüht wird.<br />

Also, viel Spass – unabhängig vom Geschlecht. UrsRauber<br />

Der neue Krimi <strong>von</strong> Zoë Ferraris (hier aufgenommen in<br />

Saudiarabien) spielt im Milieu der Scharia.<br />

Kolumne<br />

15 Charles Lewinsky<br />

Das Zitat <strong>von</strong>Henry James<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

15 Giorgio Vasari: DasLeben des<br />

Michelangelo<br />

VonGerhardMack<br />

Hans-Peter Bärtschi: Industriekultur im<br />

Kanton Zürich<br />

VonGenevièveLüscher<br />

Christine Kopp: Schlüsselstellen<br />

VonCharlotte Jacquemart<br />

GerhardJelinek: Reden, die die Welt<br />

veränderten<br />

VonKathrin Meier-Rust<br />

Sachbuch<br />

16 ErnstFalzeder,Ludger M. Hermanns (Hrsg.):<br />

Sigmund <strong>Freud</strong>/Karl Abraham<br />

VonSabine Richebächer<br />

18 Lynn Blattmann, Daniela Merz: Sozialfirmen<br />

VonCharlotte Jacquemart<br />

Janick Marina Schaufelbuehl: 1968–1978<br />

VonUrs Rauber<br />

19 JürgSchoch (Hrsg.): In den Hinterzimmern<br />

des Kalten Krieges<br />

VonPeter Studer<br />

20 PeterJ.Grob: Zürcher «Needle-Park»<br />

VonWilli Wottreng<br />

Julia Whitty: Riff<br />

VonGeorgSütterlin<br />

21 JohannaFürstauer,Anna Mika: Oper sinnlich<br />

Jens Rosteck: Hans Werner Henze<br />

VonCorinne Holtz<br />

22 SteffenMartus: Die Brüder Grimm<br />

Von<strong>Andreas</strong> Tobler<br />

23 UrsAltermatt:Konfession, Nation und Rom<br />

VonKlaraObermüller<br />

J. Riegger,R.Staempfli: Frauen ohne Maske<br />

VonGenevièveLüscher<br />

24 Alexander Waugh: DasHaus Wittgenstein<br />

VonIna Boesch<br />

NorbertMiller: UngeheureGewalt der Musik<br />

VonManfred Koch<br />

25 GeorgBrunold: Nichts als die Welt<br />

VonDaniel Puntas Bernet<br />

26 Romy Günthart(Hrsg.): Vonden vier Ketzern<br />

VonGenevièveLüscher<br />

Dasamerikanische Buch: Michael Scammell<br />

Von<strong>Andreas</strong> Mink<br />

Agenda<br />

27 Michael Petzel: Album der Karl-May-Filme<br />

VonManfred Papst<br />

Bestseller Januar 2010<br />

Belletristik und Sachbuch<br />

Agenda Februar 2010<br />

Veranstaltungshinweise<br />

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)<br />

StändigeMitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong>, Manfred Koch, Judith Kuckart, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Klara Obermüller, Angelika Overath,<br />

Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Stephanie Iseli (Layout), Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat)<br />

Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 0442581111, Fax 04426170 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />

31. Januar w2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3


Belletristik<br />

Briefwechsel Der Österreicher Thomas Bernhardgehörtezujener<br />

Handvoll Autoren, mit denen Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld<br />

unermüdlich korrespondierte<br />

Gegenseitige<br />

Erpressung<br />

Der Briefwechsel Thomas Bernhard–<br />

Siegfried Unseld. Hrsg. Raimund<br />

Fellinger,Martin Huber und Julia<br />

Ketterer. Suhrkamp,Frankfurt a. M.<br />

2009. 869 Seiten, Fr.64.50.<br />

Von Bruno Steiger<br />

1957 debütierte der damals 26-jährige<br />

Thomas Bernhard mit dem Gedichtband<br />

«Auf der Erde und in der Hölle». Das<br />

Buch erschien im Salzburger Otto-Müller-Verlag.<br />

Es fand ebenso geringe Resonanz<br />

wie die darauf folgenden vier Titel,<br />

die der ehrgeizige junge Dichter in<br />

rascher Folge bei wechselnden Verlagshäusern<br />

herausbrachte.<br />

Nach einem wenig ergiebigen Zwischenspiel<br />

bei S.Fischer suchte Bernhard<br />

im September 1961 den Kontakt zu<br />

Suhrkamp. Sein Manuskript mit dem<br />

Titel «Der Wald auf der Strasse» wurde<br />

abgelehnt; die Prosa ist in der geplanten<br />

Form nie erschienen. Seinem langjährigen<br />

Freund Wieland Schmied, 1962 kurzzeitig<br />

Lektor des zu Suhrkamp gehörenden<br />

Insel-Verlags, gelang es jedoch, bei<br />

Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld das<br />

Interesse für Bernhard zu wecken. 1963<br />

Bernhardund Unseld<br />

Der Verleger Siegfried Unseld (1924–<br />

2002)und der Schriftsteller Thomas<br />

Bernhard(1931–1989) warenfastdrei<br />

Jahrzehntelang aufs Engsteverbunden.<br />

Von1961 an gehörte Bernhardzuden<br />

Autorendes Suhrkamp-Verlags. Mit<br />

UweJohnson, PeterWeiss und Wolfgang<br />

Koeppen zählteerzujenen Autoren, um<br />

die sich der Verleger selbstkümmerte<br />

und mit denen er Hunderte <strong>von</strong>Briefen<br />

wechselte. Doch zwischen Unseld und<br />

Bernhardkam es nicht zurFreundschaft.<br />

Der Verkehr blieb geschäftlich. Sehr<br />

zumKummer des VerlegersUnseld.<br />

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

brachte Unseld im Insel-Verlag den<br />

Roman «Frost» heraus. Es war Bernhards<br />

erste Romanveröffentlichung. Es<br />

war ein Paukenschlag, dem ein in<br />

Umfang und Gewicht einzigartiges<br />

schriftstellerisches Werk nachfolgen<br />

sollte, das mit dem Namen des Verlegers<br />

Unseld untrennbar verbunden ist.<br />

Die Hintergründe der Erfolgsstory<br />

sind nun im Briefwechsel zwischen dem<br />

Dichter und seinem Verleger nachzulesen.<br />

Der rund 500 Briefe dokumentierende<br />

Band kann auch als Geschichte<br />

einer nicht zustande gekommenen<br />

Freundschaft gelesen werden. Die Beziehung<br />

zwischen den beiden ungleichen<br />

Männern blieb bis zu Bernhards frühem<br />

Tod im Februar 1989 über weite Strecken<br />

eine rein geschäftliche.<br />

Schon in seinem ersten Brief geht<br />

Bernhard auf Distanz. Nachdem er herausgestrichen<br />

hat, welch grosse Bedeutung<br />

das Programm des Suhrkamp-Verlages<br />

für ihn habe, beendet er sein<br />

Bewerbungsschreiben mit den Worten:<br />

«Ich kenne Sie nicht, nur ein paar Leute,<br />

die Sie kennen. Aber ich gehe den<br />

Alleingang.»<br />

Es war der Alleingang eines Menschen,<br />

der lebte, um zu schreiben. In<br />

dem Brief, in welchem Bernhard seiner<br />

Befriedigung über das Erscheinen <strong>von</strong><br />

«Amras» (1965) Ausdruck gibt, heisst es<br />

dazu: «Immer weniger oft erliege ich<br />

den Versuchungen, die Arbeit einer besseren<br />

Unterhaltung wegen zu fliehen,<br />

zu unterbrechen, weil ich jetzt mit der<br />

fürchterlichen Deutlichkeit des geborenen<br />

Egoisten sehe, dass meine Arbeit<br />

mein einziges Vergnügen, meine einzige<br />

<strong>Freud</strong>e, meine grösstmögliche<br />

Unzucht ist.» Den kommerziellen<br />

Aspekt seines Unternehmens behielt<br />

der «geborene Egoist» dabei stets im<br />

Auge. Geld bildet das zentrale Motiv<br />

des Briefwechsels. Im Rückblick auf die<br />

erste persönliche Begegnung mit seinem<br />

Verleger im Januar 1965 notiert<br />

Bernhard: «Der Anfang meiner Beziehung<br />

zu Unseld war eine Forderung<br />

gewesen, um nicht sagen zu müssen,<br />

eine Erpressung meinerseits. Ich forderte<br />

<strong>von</strong> Unseld 40 000 Mark; weil ich<br />

es eilig hatte, in zwanzig Minuten.<br />

Angeblich hatte Unseld zu diesem Zeitpunkt,<br />

wie seine Frau mir neunzehn<br />

Jahre später versicherte, vierzig Grad<br />

Fieber gehabt. Ich forderte also damals,<br />

wie ich heute denke, für jeden Fiebergrad<br />

des Verlegers und für jede halbe<br />

Minute des Verlegers tausend Mark.<br />

Nach diesem Geschäft, das mich im<br />

Höchstmass befriedigte und das zur<br />

Rettung meines Ohlsdorfer Narrenhauses<br />

notwendig war, fuhr ich nach Giessen,<br />

um einen Vortrag zu halten, und<br />

dachte die ganze Zeit, dass gute<br />

Geschäfte machen wenigstens so schön<br />

ist wie Schreiben.»<br />

Schwieriges Verhältnis<br />

Bernhards Wort «Erpressung» kann als<br />

Stichwort genommen werden; sie funktionierte<br />

in beiden Richtungen. Der<br />

rege, sich stetig intensivierende Austausch<br />

<strong>von</strong> beschriebenem und gedrucktem<br />

Papier, <strong>von</strong> Manuskriptseiten und<br />

Geldscheinen, zeitigte eine Produktivität,<br />

die nicht selten zu zwei oder mehr<br />

Buchveröffentlichungen pro Jahr führte.<br />

Unselds «Annäherungsversuche einer<br />

Zuneigung» blieben dabei unerwidert.<br />

Bernhard sah in seinem Verlag mehr<br />

und mehr nur noch «eine anonyme gegnerische<br />

Macht», gegen die es sich<br />

durchzusetzen galt. Zu einer Freundschaft<br />

konnte es auf dieser Basis nicht<br />

kommen. Man stand, wie Bernhard es<br />

im Februar 1972 als Vorwurf an Unseld<br />

formuliert, «auf einer Eisdecke <strong>von</strong><br />

Missverständnissen». Zum endgültigen<br />

Zerwürfnis kam es nicht, auch wenn<br />

Unseld seinen letzten, drei Monate vor<br />

Bernhards Tod abgeschickten Brief mit<br />

den Worten «Ich kann nicht mehr»<br />

beschliesst.<br />

Literarische Fragen kommen im Briefwechsel<br />

eher selten zur Sprache; es<br />

dominiert das «einzige nennenswerte<br />

Problem» der Verkaufszahlen und<br />

Der Schriftsteller<br />

Thomas Bernhard<br />

(oben) in seinem Haus<br />

in Ohlsdorf, 1976. Und<br />

Suhrkamp-Verleger<br />

Siegfried Unseld<br />

(unten), 1981.


MichaeL hOrOwitz / anzenBerger<br />

andreJ reiser / BiLderBerg<br />

Abgeltungen. Geradezu erholsam zu<br />

lesen sind deshalb die Briefe, in welchen<br />

Unseld in die Rolle des Lektors schlüpft.<br />

Im Manuskript der Erzählung «Gehen»<br />

etwa moniert er gewisse typische Bernhardsche<br />

Superlativbildungen wie «vollkommendste<br />

Untätigkeit» und «epochemachendste<br />

Gedanken». Auch die zahlreichen<br />

Kursivierungen – die bald zu<br />

Bernhards Markenzeichen wurden – stören<br />

ihn empfindlich; den Autor kümmert<br />

es nicht. In einem Kommentar zum Bühnenstück<br />

«Immanuel Kant» formuliert<br />

Unseld seine Skepsis gegenüber dem<br />

Wort «Seeehe», plädiert dann aber doch<br />

dafür, die drei Es, gegen die diesbezügliche<br />

Regel im Duden, beizubehalten.<br />

Zweipersonendrama<br />

Immer wieder zu reden gaben Titelfragen.<br />

Zu Bernhards Vorschlag «Moser<br />

versucht es zum dritten Mal» äussert<br />

sich Unseld nicht; über den definitiven<br />

Titel – «Verstörung» – ist er «reichlich<br />

unglücklich». Die 1967 aufgelegte Prosa<br />

wurde <strong>von</strong> der Kritik gefeiert, der Absatz<br />

jedoch war so schlecht, dass Unseld<br />

noch ein Jahr nach Erscheinen auf das<br />

Titelproblem zurückkommen musste:<br />

«Es war uns sonnenklar, dass ein solcher<br />

Titel zunächst vom Sortiment abgelehnt<br />

würde und dann <strong>von</strong> den Leuten, die<br />

Bücher zu Geschenkzwecken kaufen.<br />

Diese Leute wollen eben keinen Titel,<br />

der ‹Verstörung› heisst. Wir alle wussten<br />

dies, aber Thomas Bernhard wies<br />

die Argumente seines Verlegers zurück,<br />

er wusste es besser, und nun haben wir<br />

die Quittung.»<br />

Der Briefwechsel liest sich in manchen<br />

Teilen als eigentliches Zweipersonendrama<br />

und dürfte nicht nur für Bernhard-Fans<br />

<strong>von</strong> Interesse sein. Ein grosses<br />

Lob gebührt den Herausgebern. Im<br />

weit ausgreifenden, auch zeitgeschichtlich<br />

wertvollen Kommentarteil breiten<br />

sie viel Hintergrundmaterial aus. Ausführlich<br />

zitiert werden Unselds private<br />

Rapporte seiner persönlichen Begegnungen<br />

mit dem Dichter. Ebenfalls in<br />

den Fussnoten findet sich Unselds Notiz<br />

über ein Mittagessen, bei dem sich Bernhard<br />

über seine zahlreichen Nachahmer<br />

beklagt und den Verleger drängt, Manuskripte,<br />

die eine allzu grosse Ähnlichkeit<br />

zu seinem eigenen Schreiben aufweisen<br />

würden, inskünftig nicht mehr zum<br />

Druck zu bringen und am besten gewissen<br />

Suhrkamp-Autoren «das Schreiben<br />

in dieser Form zu verbieten».<br />

Am geläufigen Bild des zutiefst einsamen<br />

Menschen Thomas Bernhard<br />

ändert die Publikation der Briefe wenig.<br />

Dagegen bietet der Band überaus aufschlussreiche<br />

Einblicke ins Buchgeschäft<br />

und in das Talent des Verlegers Siegfried<br />

Unseld, seinen Autor mit kluger Geldund<br />

Editionspolitik immer neu zur Ausnahmeleistung<br />

zu motivieren. Daraus<br />

erwuchs in gerade fünfundzwanzig Jahren<br />

jenes <strong>von</strong> hohem Witz geprägte<br />

brandschwarze Lebenswerk, das uns bis<br />

heute in seinen Bann zieht. ●<br />

Bruno Steiger lebt als Schriftsteller<br />

und Literaturkritiker in Zürich. Zuletzt<br />

erschien sein Essay-Band «Zwischen<br />

Unorten» (2009).<br />

31. Januar 2010 ❘NZZ am Sonntag ❘ 5


Belletristik<br />

Autobiografischer Roman Sheilah Graham stammteaus ärmlichen Verhältnissen und machtein<br />

den USAals Klatschkolumnistin Karriere<br />

Ausder Gosse nach Hollywood<br />

Sheilah Graham, Gerold Frank: Die<br />

furchtlosen Memoiren der Sheilah<br />

Graham. Ausdem Englischen <strong>von</strong>Hans<br />

Hennecke. Eichborn, Frankfurt a. M.<br />

2010.380 Seiten, Fr.52.–.<br />

Von Sacha Verna<br />

«Sollte man sich überhaupt an mich<br />

erinnern, dann wegen Scott Fitzgerald»,<br />

hat Sheilah Graham einmal über sich<br />

gesagt. Damit hatte die Frau zum Teil<br />

recht. Aber nur zum Teil. Denn an<br />

Sheilah Graham, geboren 1904 im englischen<br />

Leeds, gestorben 1988 in Palm<br />

Beach, Florida, erinnerte sich zumindest<br />

der Nachrufschreiber der «New York<br />

Times» auch wegen ihrer 35 Jahre langen<br />

Karriere als Hollywoods berühmteste<br />

Klatschkolumnistin. Die Information<br />

über Grahams Liebesaffäre mit<br />

dem Schriftsteller F. Scott Fitzgerald lieferte<br />

der Autor zwar bereits im zweiten<br />

Absatz seines Artikels nach. Doch hatte<br />

für die Verbreitung dieser Tatsache<br />

Sheilah Graham schon selber gesorgt.<br />

«Beloved Infidel» hiess ihr autobiografischer<br />

Roman im Original, der nun<br />

unter dem Titel «Die furchtlosen<br />

Memoiren der Sheilah Graham» auf<br />

Deutsch erschienen ist. Er wurde 1958<br />

zu einem Bestseller und sogar verfilmt,<br />

mit keinen Geringeren als Gregory Peck<br />

und Deborah Kerr in den Hauptrollen.<br />

Zudem verfasste Sheilah Graham später<br />

drei weitere Bücher über ihre Beziehung<br />

mit jenem Mann, der 1940 einige Tage<br />

vor Weihnachten in ihrem Wohnzimmer<br />

an einem Herzinfarkt starb.<br />

Kindheit in Londoner Slums<br />

Sheilah Graham und F. Scott Fitzgerald<br />

begegneten sich erstmals 1937 an einer<br />

Verlobungsfeier in Hollywood. Es war<br />

Sheilah Grahams Verlobungsfeier. Sie<br />

wollte demnächst nach England zurückkehren<br />

und einen Adligen ehelichen.<br />

Daraus wurde nichts – und stattdessen<br />

aus Graham und Fitzgerald ein Paar, was<br />

sie bis zu Fitzgeralds Tod auch blieben.<br />

Von dieser Zeit handelt die zweite Hälfte<br />

dieses Buches. In der ersten Hälfte<br />

schildert die Autorin das, was dem vorausgegangen<br />

war: nämlich die Erfindung<br />

der Sheilah Graham.<br />

«Mein wirklicher Name ist Lily Sheil,<br />

ein Name, der mich bis zum heutigen<br />

Tag in einem Ausmass entsetzt, das ich<br />

nicht zu erklären vermag.» Mit diesem<br />

Paukenschlag eröffnet Sheilah Graham<br />

ihre «furchtlosen Memoiren». Im Folgenden<br />

erklärt sie sehr wohl, weshalb<br />

ihr beim Klang ihres Taufnamens noch<br />

immer «der kalte Schweiss» ausbricht:<br />

Er steht für ihre Kindheit in den Slums<br />

<strong>von</strong> London, für Jahre im Waisenhaus,<br />

für Jobs als Hausangestellte, Zahnbürstenverkäuferin<br />

und Revuetänzerin, für<br />

eine Ehe mit einem viel älteren Mann.<br />

Lily Sheil hat sich im klassischen Sinn<br />

6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

«Beloved Infidel»:<br />

Sheila Grahams<br />

Autobiografie wurde<br />

1959 verfilmt mit<br />

Deborah Kerr und<br />

Gregory Peck in den<br />

Hauptrollen.<br />

aus der Gosse hochgearbeitet, wobei<br />

diese Arbeit vor allem im geschickten<br />

Einsatz ihrer Schönheit und ihrer Intelligenz<br />

bestand.<br />

Als sie 1933 mit hundert Dollar und<br />

einem Rückfahrbillett in der Tasche,<br />

<strong>von</strong> dem sie keinen Gebrauch zu machen<br />

gedachte, in Amerika ankam, war die<br />

Verwandlung der Lily Sheil in Sheilah<br />

Graham schon so weit fortgeschritten,<br />

dass sie dem Leiter des bedeutendsten<br />

Pressesyndikats des Landes mehrere<br />

eigene Artikel vorlegen konnte und<br />

prompt eine Stelle bei einer New Yorker<br />

Zeitung ergatterte. Drei Jahre später war<br />

sie in Hollywood, und 1964 wurden ihre<br />

Bissigkeiten über die Stars und Sternchen<br />

der Traumfabrik in 178 Zeitungen<br />

gedruckt. Sie hatte eine eigene Radiound<br />

eine Fernsehshow.<br />

Prekäre Idylle<br />

Und F. Scott Fitzgerald? Die dreieinhalb<br />

Jahre, die sie mit ihm verbrachte, waren<br />

geprägt <strong>von</strong> Fitzgeralds Kampf gegen<br />

den Alkohol, <strong>von</strong> seinen Selbstzweifeln<br />

und Geldsorgen. Aber auch, so Sheilah<br />

Graham, <strong>von</strong> echter Leidenschaft. Sie<br />

zeichnet das Bild einer prekären Idylle:<br />

Fitzgerald entwirft für Sheilah Graham<br />

einen Lehrplan, damit sie die Bildung<br />

nachholen kann, nach der sie sich so<br />

lange vergeblich gesehnt, deren Mangel<br />

sie so verzweifelt zu verbergen versucht<br />

hat. Gemeinsam studieren sie die Evangelien<br />

und Darwin, Cervantes und Joyce.<br />

Sie verbringen Monate fernab des gesellschaftlichen<br />

Rummels in Häusern, die<br />

Sheilah Graham für sie findet. Sie nehmen<br />

grössten Anteil an der Arbeit des<br />

jeweils anderen. Von der Ehefrau Zelda<br />

Fitzgerald, die in einer Irrenanstalt, und<br />

der Tochter Scottie, die in einem Internat<br />

untergebracht ist, weiss Sheilah Graham<br />

<strong>von</strong> Anfang an. Fitzgerald wiederum<br />

kennt die wahre Geschichte der<br />

Sheilah Graham.<br />

Die wahre Geschichte? Die kennt am<br />

Schluss natürlich niemand ausser Sheilah<br />

Graham. Und diese verhehlt nicht,<br />

dass sie dem Leser in ihren «Memoiren»<br />

nicht die Wahrheit präsentiert, sondern<br />

die fiktive Aufbereitung sorgfältig ausgewählter<br />

Fakten. Dass der Autorin bei<br />

der Niederschrift Gerold Frank zur<br />

Hand gegangen ist, <strong>von</strong> dem unter anderem<br />

Biografien <strong>von</strong> Zsa Zsa Gabor und<br />

Judy Garland stammen, trägt zur Glaubwürdigkeit<br />

dieses Werks nicht unbedingt<br />

bei. Doch ist Glaubwürdigkeit in<br />

diesem Fall auch nicht das Ziel.<br />

Dies ist der Roman eines Lebensabschnitts,<br />

oder besser: disparater Lebensabschnitte,<br />

routiniert und unterhaltsam<br />

dargestellt. Man sollte ihn geniessen<br />

wie einen guten Hollywood-Film: als<br />

zweidimensionale und eben deshalb<br />

vergnügliche Version einer vermutlich<br />

viel zu komplizierten, weil mehrdimensionalen<br />

Vorlage. Und über Hollywood<br />

wusste Sheilah Graham nun wirklich<br />

Bescheid. ●<br />

interFOtO


Roman Der jungedeutsche AutorKristof Magnusson<br />

lässt drei Menschen da<strong>von</strong>erzählen, wie sie in eine<br />

Sackgasse geratensind<br />

Wenn dasLeben<br />

aufder Kippesteht<br />

KristofMagnusson: Daswar ich nicht.<br />

Antje Kunstmann, München 2010.<br />

288 Seiten, Fr.33.90.<br />

Von Simone <strong>von</strong> Büren<br />

Einer der Protagonisten im zweiten<br />

Roman <strong>von</strong> Kristof Magnusson tritt<br />

eines Abends auf seinen Balkon im 38.<br />

Stockwerk eines Chicagoer Hochhauses,<br />

barfuss und im T-Shirt bei minus 18 Grad<br />

Celsius. Ein Windstoss schlägt die Balkontür<br />

zu, und er befürchtet, sich soeben<br />

ausgesperrt zu haben und bei den schallisolierten<br />

Fenstern und dem dichten<br />

Verkehr <strong>von</strong> keiner Menschenseele<br />

gehört zu werden. So wenig braucht es,<br />

um in der Kälte zu stehen. In «Das war<br />

ich nicht» spielt Magnusson augenzwinkernd<br />

durch, was uns die aktuelle Wirtschaftskrise<br />

bitterernst gezeigt hat: wie<br />

schnell sich der American Dream im<br />

kapitalistischen System in sein Gegenteil<br />

verkehren und Millionäre zu Tellerwäschern<br />

machen kann.<br />

Magnusson, dessen Début «Zuhause»<br />

2006 mit dem Rauriser Literaturpreis<br />

ausgezeichnet wurde, lässt in seinem<br />

neuen Roman abwechselnd drei einsame<br />

Ich-Erzähler zu Wort kommen, die mit<br />

ihren bisherigen Lebensentwürfen in<br />

eine Sackgasse geraten sind. Jasper, ein<br />

junger deutscher Trader, setzt bei einer<br />

Bank in Chicago alles auf die Karte Karriere<br />

und geht «wie ferngesteuert»<br />

durchs Leben. Er opfert sich auf für ein<br />

Unternehmen, in dem sein Name «in<br />

eine Plastikhalterung geschoben und<br />

jederzeit austauschbar» ist. Die literarische<br />

Übersetzerin Meike trennt sich<br />

überstürzt <strong>von</strong> ihrem langjährigen Partner<br />

und vom gemeinsamen Kinder kriegenden<br />

und Ökoprodukte kaufenden<br />

Freundeskreis in Hamburg und zieht in<br />

ein baufälliges Haus auf dem Land. Und<br />

der sechzigjährige amerikanische Autor<br />

Henry LaMarck taucht unter, weil er seinen<br />

Jahrhundertroman über 9/11, der<br />

schon vor seinem Erscheinen für den<br />

Pulitzerpreis nominiert worden ist,<br />

nicht schreiben kann.<br />

Der 33-jährige Autor und Übersetzer<br />

aus dem Isländischen lässt seine drei<br />

Erzähler auf faszinierende Weise miteinander<br />

ins Geschäft kommen und einander<br />

abwechselnd zur «letzten Chance»<br />

werden in einer zunehmend dramatischen<br />

Geschichte, in der Geld eine<br />

wesentliche Rolle spielt: fehlendes,<br />

übermässiges und vor allem virtuelles.<br />

Auf packende Weise vermittelt Magnusson<br />

den Sog, der in den Finanz-Arenen<br />

entsteht und das Betrügen mit steigenden<br />

Beträgen abstrakter und einfacher<br />

werden lässt.<br />

Der auch als Dramatiker erfolgreiche<br />

Autor erweist sich erneut als sorgfältiger<br />

Architekt narrativer Zusammenhänge,<br />

forciert allerdings einige Stränge –<br />

etwa Henrys Bekanntschaft mit Elton<br />

John. Stellenweise schwächt er ausser-<br />

Kristof Magnusson<br />

beschreibt einsame<br />

Menschen in der<br />

Grossstadt, so einen<br />

deutschen Banker in<br />

Chicago.<br />

Roman Eine unaufgeregte<strong>Hommage</strong>andie tschechische Sportlegende Emil Zátopek<br />

Titander Leichtathletik<br />

Jean Echenoz: Laufen.<br />

Ausdem Französischen <strong>von</strong>Hinrich<br />

Schmidt-Henkel. Berlin-Verlag,<br />

Berlin 2009. 126 Seiten, Fr.31.50.<br />

Von Sandra Leis<br />

Persönlichkeiten <strong>von</strong> Weltruhm elektrisieren<br />

ihn: In «Die grossen Blondinen»<br />

(2002) sind es Marlene Dietrich, Marilyn<br />

Monroe und Brigitte Bardot, in «Ravel»<br />

(2007) ist es Maurice Ravel. Jetzt setzt er<br />

in «Laufen» dem tschechischen Langstreckenläufer<br />

Emil Zátopek ein Denkmal.<br />

Sport, so gibt Jean Echenoz, der 62jährige<br />

französische Meister des dosierten<br />

Spannungsbogens, zu Protokoll, habe<br />

ihn zeitlebens nie interessiert. Trotzdem<br />

hat er sich festgebissen an Zátopek, zu<br />

dessen spektakulärsten Leistungen der<br />

dreifache Olympiasieg 1952 in Helsinki<br />

gehört: Innerhalb weniger Tage gewann<br />

er über 5000 und 10 000 Meter sowie im<br />

Marathon die Goldmedaille.<br />

Echenoz durchforstete mehrere tausendNummernderZeitschrift«L’Equipe»<br />

der Jahrgänge 1946 bis 1957 und schrieb<br />

dann einen kleinen hübschen Roman<br />

über diesen Volkshelden und tschechischen<br />

Exportschlager im Kalten Krieg,<br />

der stets «ein gewissenhafter Junge» war,<br />

naiv und politisch unbedarft. Emil ist 17<br />

Jahre alt, aus dem Sportmuffel wird einer,<br />

der fanatisch bis über die Schmerzgrenze<br />

hinaus trainiert und die Emil-Methode<br />

perfektioniert. Sein Stil ist alles andere<br />

als elegant, aber legendär: Er kämpft sich<br />

voran, «schwer, zerquält, gemartert,<br />

ruckartig. Er verhehlt nicht, wie grausam<br />

er sich müht.» «Die tschechische Lokomotive»,<br />

so lautet sein Spitzname.<br />

Während Echenoz in «Ravel» Stationen<br />

des Künstlerlebens detailreich und<br />

höchst einfühlsam zu Papier brachte,<br />

nimmt er sich in «Laufen» sehr zurück.<br />

dem seine Erzähler, wenn er in erklärenden<br />

Ausführungen zu Facebook oder<br />

zum Chicagoer Valentinstag-Massaker<br />

als pflichtbewusster Autor zu dominant<br />

wird oder vereinzelt Vergleiche und<br />

Metaphern überfrachtet. So beschreibt<br />

er die Frisur einer Verlegerin wirkungsvoll<br />

als «einbetoniertes Baiser» und<br />

malt dann aus, «wie sie in ihrem schwarzen<br />

Mercedes-Cabriolet den Lake Shore<br />

Drive entlangbrauste und kein einziges<br />

Haar auch nur ins Zittern kam». Oder er<br />

lässt Meike die Klappe eines amerikanischen<br />

Briefkastens öffnen, «vorsichtig<br />

wie die Tür eines Backofens, nachdem<br />

die Schaltuhr geklingelt hatte und die<br />

Tiefkühllasagne nach fünfzig Minuten<br />

endlich fertig war».<br />

Die Moral <strong>von</strong> der Geschicht: Drei<br />

Menschen wollen sich mit Karriere,<br />

Ruhm und aussergewöhnlichen Lebensentwürfen<br />

profilieren, geraten aus dem<br />

Konzept, verlieren Geld, ruinieren ihren<br />

Ruf und werden weit weg <strong>von</strong> den Forderungen<br />

der Leistungsgesellschaft mit<br />

ganz wenig glücklich.<br />

Das mag ein wenig banal sein, gegen<br />

Schluss auch klischiert, aber es zeigt mit<br />

Humor und Schwung, wie sich individuelle<br />

Lebensentwürfe und gesellschaftliche<br />

Systeme erschöpfen und nach<br />

einer Krise neu entwickeln können. In<br />

diesem Sinn macht der Text eine Aussage<br />

zu unserer Zeit weit über die vielen<br />

konkreten Verortungen hinaus, die er<br />

vornimmt. ●<br />

Wir erfahren nicht, was Zátopek denkt<br />

oder fühlt, Echenoz fokussiert auf die<br />

Wettkämpfe – im Stil des Slapsticks,<br />

lakonisch und komisch, doch nie verräterisch.<br />

Sein Held liegt ihm am Herzen,<br />

und als Emil «in kurzer Hose und ausgewaschener<br />

Trainingsjacke» nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg als 24-Jähriger in<br />

Berlin die Weltbühne erobert, recken<br />

auch wir die Faust zum Triumph.<br />

Zwei historische Daten prägen das<br />

Leben <strong>von</strong> Zátopek: die Besetzung seiner<br />

Heimat 1939 durch die Deutschen<br />

und der Prager Frühling 1968, dem der<br />

Einmarsch der Russen ein brutales Ende<br />

setzt. Emil Zátopek, der «aufrichtig an<br />

die Tugenden des Sozialismus glaubt»,<br />

kämpft für eine freiheitliche Tschechoslowakei.<br />

Die Folgen sind fatal, Echenoz<br />

hakt sie auf dreieinhalb Seiten ab und<br />

verabschiedet seinen Helden mit dem<br />

Satz: «Ich habe es gewiss nicht anders<br />

verdient.» ●<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7<br />

Brian MurphY / aLaMY


Belletristik<br />

Kriminalroman Die Amerikanerin Zoë Ferraris schreibt über das Grauen unter der Scharia<br />

VerschleierteVerbrechen<br />

ZoëFerraris: Totenverse. Ausdem<br />

Amerikanischen <strong>von</strong>UlrikeWasel und<br />

Klaus Timmermann. Pendo,München<br />

2009. 384 Seiten, Fr.32.90.<br />

Von Pia Horlacher<br />

Vor zwei Jahren stach ein aussergewöhnliches<br />

Début aus der Flut der Kriminalromane<br />

hervor: «Die letzte Sure» der<br />

jungen Amerikanerin Zoë Ferraris führte<br />

uns dorthin, «wo eine Frau zuerst tot<br />

sein muss, bis sich ein Mann mit ihrem<br />

Leben beschäftigen darf» – in die totale<br />

Geschlechter-Apartheid der islamischen<br />

Gesellschaft Saudiarabiens. Das Verbrechen,<br />

das der einsame Wüstenführer<br />

Nayir und die rebellische Gerichtsmedizinlaborantin<br />

Katya damals aufklären<br />

mussten, ist das gleiche, das auch im<br />

neuen Roman eigentlich offen vor ihnen<br />

liegt: die Versklavung der Frau unter der<br />

Scharia. Auch in «Totenverse» kleidet<br />

es Ferraris geschickt in den Plot eines<br />

Leichenfunds am Strand <strong>von</strong> Jidda: Der<br />

grausam entstellte weibliche Körper<br />

gibt umso grössere Rätsel auf, als in dieser<br />

«City of Veils» (Stadt der Schleier,<br />

so der amerikanische Originaltitel) fast<br />

alles die Tötung einer Frau motivieren<br />

kann. Und fast nichts eine mögliche<br />

Sühne.<br />

Frauen als Sexobjekte<br />

Dass hier die junge Dokumentaristin<br />

Leila liegt und nicht eine der andern<br />

weiblichen Figuren, mit denen Ferraris<br />

uns dieses unmenschliche System nüchtern<br />

vor Augen führt, ist blosser Zufall.<br />

PopArt Aufbeiden Seiten des Eisernen Vorhangs<br />

Flugzeuge, Panzer und Raketeninknalligen Farben<br />

und einfachen Formen: So hatRoy Lichtenstein zu<br />

Beginn der 1960er JahreComics aufgegriffenund zu<br />

Ikonen der PopArt gemacht. Noch einen Tick greller<br />

und drastischer überrascht dieselbe Bildlichkeit beim<br />

ehemaligen Erzfeind: Martin Roemershat das fröhliche<br />

Durcheinander <strong>von</strong>Kriegsgerät im ehemaligen<br />

Kinosaal eines verlassenen sowjetischen Militärstützpunkts<br />

im OstenDeutschlands gefunden. Der globale<br />

Siegeszugder PopArt manifestiertsich auf der anderenSeiteder<br />

Front. Solche Überraschungen sind es,<br />

die dieses Buch über die Überbleibsel des Kalten Kriegesbemerkenswert<br />

vielschichtig machen. Der 1962im<br />

niederländischen Oldehove geborene Fotograf reiste<br />

elf Jahrelang durch die Länder auf beiden Seiten des<br />

8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

Eisernen Vorhangsund besuchteRaketenabschussbasen,<br />

Flugzeughangars, Panzer,Turnhallen, Bunker,<br />

Kasernen, Spitäler,Ausbildungs- und Gefängnisräume.<br />

Die Bilder,die Roemers<strong>von</strong> seinen Reisen mitgebracht<br />

hat, sind aber weit mehr als Dokumenteeiner<br />

zurückliegenden Epoche globaler Konfrontation in<br />

Europa.Der renommierte Fotograf zeigt vielmehr,wo<br />

sich Ängsteauf beiden Seiten berühren und ganz ähnliche<br />

Formen der Abwehr hervorbringen. In der Serie<br />

<strong>von</strong>Tunnels findet sein archäologischer Blick eine<br />

Chiffreder Bedrohung und ein Mahnmal für die Hoffnung<br />

auf Frieden. GerhardMack<br />

Martin Roemers: Relics of the Cold War.<br />

Hrsg.Nadine Barth. Hatje Cantz, Ostfildern 2009.<br />

144Seiten, 73 Farbabbildungen, Fr.59.–.<br />

Denn sie alle verstossen gegen die patriarchalischen<br />

Sittengesetze einer sexuellen<br />

Paranoia, die schon kleinste weibliche<br />

«Überschreitungen» mit gröbster<br />

Gewalt ahndet. Allein die sündige Gegenwart<br />

einer Frau, wahrgenommen einzig<br />

als Sexobjekt und Verführungssubjekt,<br />

rechtfertigt die Fesseln <strong>von</strong> Burka und<br />

obligatorischer männlicher Begleitung.<br />

Nicht einmal ihre Unterwäsche dürfen<br />

diese Frauen alleine einkaufen.<br />

Die tote Leila zum Beispiel war<br />

eigentlich nur Hilfskraft bei einem Fernsehsender,<br />

aber sie hatte journalistische<br />

Ambitionen und verfolgte ausgerechnet<br />

ein Filmprojekt über die heuchlerische<br />

Doppelmoral der islamischen Männergesellschaft.<br />

Ihre kleinwüchsige Freundin<br />

Faruha hingegen ist als verachteter<br />

Krüppel zu ewigem Hausarrest verdammt.<br />

Während Katya behaupten<br />

muss, verheiratet zu sein, um ihre Stelle<br />

nicht zu verlieren. Und Fahu, die Ehefrau<br />

<strong>von</strong> Katyas liberalem Chef Osama,<br />

gefährdet ihre Ehe und ihre Existenz,<br />

weil sie keine weiteren Kinder mehr<br />

möchte. Miriam, die Amerikanerin, die<br />

ihrem Mann widerwillig zu einem<br />

beruflichen Aufenthalt nach Saudiarabien<br />

gefolgt ist, konstatiert mit zunehmender<br />

Bestürzung, wie ihr in diesem<br />

riesigen Frauenkerker der rassistischen<br />

Verschleierung und Segregation jedes<br />

westliche Selbstbewusstsein abhanden<br />

kommt. Dass es ihrem Mann hier – bis<br />

zu seinem plötzlichen Verschwinden,<br />

dem zweiten Strang der Geschichte –<br />

verdächtig gut gefällt, verunsichert sie<br />

zusätzlich.<br />

Doppelter Spannungsbogen<br />

Doch Ferraris spielt nicht auf der<br />

Schwarz-Weiss-Klaviatur des umgedrehten<br />

Geschlechterhasses: Die Menschenwürde<br />

ist unteilbar, und wo sie für<br />

die eine Hälfte der Gesellschaft nicht<br />

gilt, wird die andere auf ihre Art zum<br />

Opfer des Systems werden. So sind die<br />

männlichen Protagonisten in «Totenverse»<br />

keine Pappkameraden eines fundamentalistischen<br />

Islams, sondern als<br />

differenziert herausgearbeitete Figuren<br />

indirekt seine überzeugendsten Kritiker.<br />

Der tiefreligiöse Nayir etwa leidet heftig<br />

unter seiner Sehnsucht nach Liebe<br />

und weiblicher Gesellschaft – besonders<br />

derjenigen <strong>von</strong> Katya. Die Frage, wie<br />

und ob die beiden trotz Begegnungsund<br />

Sprechverbot zusammenkommen<br />

können, gibt dem Roman einen Spannungsbogen<br />

über den klassischen Krimi-<br />

Thrill hinaus. Ebenso wie das Eheproblem<br />

des sonst weltoffenen Kommissars,<br />

der fast die Liebe seiner Frau verliert,<br />

weil die sich nicht getraut, ihm ihre<br />

unweiblichen Wünsche nach einem<br />

Beruf statt mehr Kindern zu gestehen.<br />

Ganz offensichtlich kennt Zoë Ferraris<br />

die Verhältnisse aus eigener Anschauung.<br />

Miriam dürfte ihre eigenen Erfahrungen<br />

als ehemalige Ehefrau eines<br />

Palästinensers in Jidda am deutlichsten<br />

spiegeln – und unseren ungläubigen<br />

Blick auf diese Welt des alltäglichen<br />

Grauens. ●


Essay Thomas Manns «Betrachtungen eines Unpolitischen» liegen erstmals in einer umfassend<br />

kommentierten Ausgabe vor–und lesen sich nun ganz anders<br />

Schauspieler<br />

desDeutschtums<br />

Thomas Mann: Betrachtungen eines<br />

Unpolitischen. Hrsg. Hermann Kurzke.<br />

S. Fischer,Frankfurt a. M. 2009. 2Bände,<br />

645und 783 Seiten, Fr.133.–.<br />

Von Manfred Papst<br />

Mit diesem Buch hat Thomas Mann es<br />

seinen Gegnern leicht gemacht und seinen<br />

Freunden schwer. Die «Betrachtungen<br />

eines Unpolitischen» entstanden in<br />

den Weltkriegsjahren 1915 bis 1918 – die<br />

Arbeit am «Zauberberg» war unterbrochen<br />

– und wurden Ende September<br />

1918 publiziert, als sich der völlige<br />

Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs<br />

bereits abzeichnete. Thomas<br />

Mann wollte die Auslieferung des Werks<br />

noch stoppen, aber angesichts <strong>von</strong> 3000<br />

Vorbestellungen liess sein Verleger<br />

Samuel Fischer nicht mit sich reden.<br />

Das Werk erschien zum denkbar<br />

unglücklichsten Zeitpunkt.<br />

Die «Betrachtungen» sind ein widersprüchliches<br />

Konglomerat aus Zivilisationskritik<br />

und Kulturphilosophie. Sie<br />

verherrlichen den Krieg als inneres<br />

Erlebnis und reinigende Kraft. Sie polemisieren<br />

gegen genau jene Konzepte<br />

<strong>von</strong> Humanismus, Demokratie und<br />

Friedenspolitik, die Thomas Mann später<br />

so nachdrücklich vertreten sollte.<br />

Sie setzen deutsche Innerlichkeit und<br />

kernige Eigentlichkeit gegen französische<br />

Oberflächlichkeit, Verweichlichung<br />

und Dekadenz, auch gegen den<br />

kleinlichen Merkantilismus der Briten,<br />

sind aber frei <strong>von</strong> Antisemitismus. Sie<br />

wettern ohne Ende gegen den verächtlichen<br />

Typus des Zivilisationsliteraten<br />

und meinen am Ende doch nur den<br />

grossen Bruder Heinrich. Der steht<br />

freilich so wenig im Schützengraben<br />

wie Thomas Mann selbst. Was die beiden<br />

auf dem Papier ausfechten, ist nicht<br />

zuletzt ein Bruderzwist um die geistige<br />

Vorherrschaft.<br />

Verdrechselter Stil<br />

Thomas Manns Streitschrift ist <strong>von</strong><br />

einem deutschnationalen Patriotismus<br />

durchdrungen, der so anstössig wie unglaubhaft<br />

wirkt. Doch stehen in dem<br />

monströsen Buch auch viele kluge Sätze<br />

über Ironie und Musik, über Schopenhauer,<br />

Nietzsche und Wagner. Es ist<br />

glänzend geschrieben und doch so verkrampft<br />

wie kein anderes Werk dieses<br />

grossen Autors. Zudem merkt man ihm<br />

an, dass für Thomas Mann im Lauf des<br />

Schreibprozesses etliche seiner Überzeugungen<br />

– vor allem das Kriegspathos<br />

<strong>von</strong> 1914 – fragwürdig werden. Er ist<br />

also gezwungen, die Räder am fahrenden<br />

Zug zu wechseln, ohne dass es<br />

einer merkt. Das führt zu einem mäan-<br />

dernden, relativierenden, verdrechselten<br />

Stil.<br />

In all seinen Büchern ist Thomas<br />

Mann ein Spieler – ein Schau-, auch<br />

Taschenspieler, ein Gaukler, ein Artist.<br />

Er selbst hat immer wieder auf diesen<br />

Umstand hingewiesen. Unter der Oberfläche<br />

des grossbürgerlichen Glanzes,<br />

den er repräsentiert, bröckelt, bröselt,<br />

rieselt es. Das gilt es zu überspielen und<br />

gleichzeitig fühlbar zu machen. Solches<br />

leistet die Kunst der Ironie. Sie bringt<br />

Figuren wie Thomas Buddenbrook,<br />

Gustav Aschenbach und den Prinzen<br />

Klaus Heinrich hervor, die das Weiche,<br />

Flutende, auf Rausch, Entgrenzung, seliges<br />

Versinken Bedachte in sich selbst<br />

überwinden, indem sie sich eine Verfassung<br />

geben und eine Ordnung etablieren,<br />

die ihnen doch zutiefst suspekt ist.<br />

Aber ist Thomas Mann auch in den<br />

«Betrachtungen» ironisch? Bei rechtem<br />

Bedenken: ja. Er wirft sich in einer Weise<br />

in Positur, die jedem wachen Leser auffallen<br />

muss. Der notorisch Überemp-<br />

Thomas Mann<br />

(sitzend) mit seinem<br />

Bruder Heinrich<br />

Mann, um 1900 in<br />

München.<br />

thOMas Mann archiv / KeYstOne<br />

findliche, nicht zufällig wegen Nervosität<br />

und Magenschwäche Ausgemusterte<br />

spielt den strammen Patrioten. Was geht<br />

da vor?<br />

Rettung ins Grossbürgertum<br />

Der deutsche Germanist Hermann Kurzke,<br />

dem wir die nach wie vor beste<br />

Gesamtdarstellung <strong>von</strong> Thomas Manns<br />

Leben und Werk verdanken («Thomas<br />

Mann. Das Leben als Kunstwerk», 1999),<br />

lädt uns mit seiner neuen, umfassend<br />

kommentierten Edition der «Betrachtungen»<br />

ein, Thomas Manns Schmerzensbuch<br />

neu und anders als bisher zu<br />

lesen. Er versteht den Text als Rollenspiel<br />

– und als das «dunkle Zentrum» im<br />

Werk, «das alle Anziehungen und<br />

Abstossungen organisiert». Thomas<br />

Mann, so Kurzke sinngemäss, zwängt<br />

sich in das Korsett einer Überzeugung,<br />

gerade weil ihm der innere Halt fehlt. Er<br />

ist gar kein Gesinnungstäter, sondern<br />

bloss ein «Schauspieler des Deutschtums»<br />

– einer, der sich vor den eigenen<br />

Abgründen (Homosexualität, Bohème,<br />

verbummelte Jugend) in ein geordnetes<br />

Leben (grossbürgerliche Heirat, Familie,<br />

eiserne Arbeitsdisziplin) rettet. Doch im<br />

Grunde weiss Thomas Mann – das ist<br />

Kurzkes Überzeugung – um seine Unfähigkeit<br />

zum Vordenker des Patriotismus.<br />

Wenn es mit Volk und Vaterland so<br />

einfach bestellt wäre, müsste er seine<br />

Haltung nicht auf sechshundert Seiten<br />

gewunden erklären. Und deshalb<br />

betreibt er auch hier ein raffiniertes<br />

Spiel mit fremden Texten, mit Zitaten,<br />

die meist nicht kenntlich gemacht sind.<br />

Kurzke legt en détail dar, dass Aberhunderte<br />

<strong>von</strong> Passagen der «Betrachtungen»<br />

aus verschiedensten Quellen<br />

stammen, aus Zeitungen, Zeitschriften,<br />

Büchern, und dass Thomas Mann sich<br />

hier einmal mehr in der «Kunst des<br />

höheren Abschreibens» übt, dass er collagiert,<br />

arrangiert, Kulissen aufbaut:<br />

Nicht weniger als 4000 Zitate <strong>von</strong> rund<br />

400 verschiedenen Personen weist der<br />

Germanist in dem Buch nach.<br />

Man muss Hermann Kurzke, der sich<br />

seit seiner Dissertation ein Forscherleben<br />

lang mit den «Betrachtungen»<br />

beschäftigt hat, nicht in allen Punkten<br />

folgen. Seine Lektüre des Werks als<br />

eines biografischen Irrgartens birgt die<br />

Gefahr, dass die objektive politische<br />

Dimension der Kampfschrift verharmlost<br />

wird. Doch welche Schlüsse der<br />

Leser selbst auch ziehen mag – nie hat<br />

ihm dabei ein so sorgsam edierter und<br />

akribisch kommentierter Text zur Verfügung<br />

gestanden, nie hat er so genau<br />

nachvollziehen können, auf welch verschlungenen<br />

und schmerzlichen Wegen<br />

Thomas Mann schliesslich doch noch<br />

zum urbanen Demokraten wurde. ●<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9


Belletristik<br />

Roman Der deutsche Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil lernte erst mit sieben Jahren zu sprechen. In seinem<br />

stark autobiografischen Buch erzählt er die Geschichte einer symbiotischen Mutter-Sohn-Beziehung<br />

Mutterliebe wird zur Droge<br />

Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des<br />

Lebens. Luchterhand, München 2009.<br />

590Seiten, Fr 39.90.<br />

Von Angelika Overath<br />

«Die Erfindung des Lebens» ist ein stark<br />

autobiografischer Text. Gleich zu Beginn<br />

gerät der Leser in den Sog eines muffigeleganten<br />

Köln der 1950er Jahre, mit<br />

stundenlang vor sich hinkochenden<br />

köstlichen Elementarsuppen (Knochen,<br />

Gemüse, Mutterliebe), er stolpert durch<br />

die schwarze Pädagogik einer deutschen<br />

Nachkriegsschule, hört die alte Stille des<br />

noch fernsehfreien Wohnzimmers, wenn<br />

aus dem Radio rauschgestörte Hörspiele<br />

für Kinder kommen. Aber er überblickt<br />

diese Tableaus im hellen Rom der<br />

Gegenwart (Piazza di Santa Maria Liberatrice,<br />

im Viertel Testaccio) bei einem<br />

italienischen Kaffee mit porösem<br />

Schaum etwa, wo ein Mann, der Schriftsteller<br />

geworden ist, seine Kindheit und<br />

Jugend niederschreibt. Der Mann ist<br />

unschwer als der Autor selbst zu erkennen.<br />

Das Brot seiner frühen Jahre ist so<br />

romanhaft, dass es, um glaubwürdig<br />

geteilt zu werden, wiedergefunden werden<br />

muss. «Schritt für Schritt will ich<br />

mein Leben noch einmal ergründen und<br />

jedem kleinen Wink nachgehen. Letztlich<br />

folge ich dabei nur einigen Lichtsequenzen<br />

in einem grossen Dunkel.»<br />

Stummheit als Liebesband<br />

Erzählen erdet. Der Roman ist letztlich<br />

die Geschichte eines missbrauchten<br />

Kindes, das erst im Liebesverrat an der<br />

Mutter sprechen lernt und sein Ausgesetztsein<br />

über das (zunächst mütterlich<br />

begleitete) Klavierspiel und am Ende<br />

schreibend meistern wird. Aber so hart<br />

formuliert es der Autor nicht. Ortheil<br />

schreibt zärtlich suchend aus Kindersicht.<br />

Und der Leser begreift dicht an<br />

der Seite des Knaben tatsächlich erst<br />

mit der Zeit das Ausmass der Katastrophe.<br />

Das Ehepaar Catt, Vater Josef, Vermessungsingenieur<br />

bei der Bahn, Mutter<br />

Katharina, Hausfrau, verlor bei einem<br />

Bombenangriff in Berlin seinen erstgeborenen<br />

Sohn. Die Familie flieht aufs<br />

Land, wo bei Kriegsende ein verirrter<br />

Granatsplitter den zweiten, dreijährigen<br />

Sohn trifft. Er stirbt in den Armen der<br />

Mutter, die die Sprache verliert. Ihre<br />

beiden nächsten Söhne sind Totgeburten.<br />

Johannes ist ihr fünfter Sohn. Er<br />

wird ihr Einziges, ihr alles. Und er bleibt<br />

stumm, wie sie. Die Stummheit ist das<br />

Liebesband zwischen Mutter und Sohn.<br />

Die Mietwohnung im Kölner Norden<br />

umschliesst beide wie ein dunkler Uterus.<br />

In völligem Gleichklang leben sie<br />

hier einen ritualisierten Tag. Die Mutter<br />

liest und notiert Gedanken auf kleine<br />

Zettel, die sie mit einem Gummi zusammenfasst.<br />

Das Kind verhält sich still; es<br />

ist für die Mutter da. Bei den seltenen<br />

10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

pLainpicture / wiLdcard<br />

Hanns-Josef Ortheil<br />

erzählt die Geschichte<br />

eines missbrauchten<br />

Kindes, das ins<br />

Klavierspiel flüchtet.<br />

Einkäufen versteht es sich als Begleitschutz,<br />

es bleibt «in unmittelbarer<br />

Reichweite (...), so dass wir überall, wo<br />

wir hinkamen, wirklich den Eindruck<br />

eines fest aneinandergeketteten Paars<br />

machten». Gegen Abend wartet das<br />

Kind am Fenster auf die Heimkunft des<br />

Vaters. Der liest am Küchentisch – der<br />

Höhepunkt des Tages – die Zettel der<br />

Mutter laut vor. Als es mit der Einschulung<br />

zum Einbruch in die finstere Idylle<br />

kommt (Mutter und Kind akzeptieren<br />

die Trennung nicht, der stumme Junge<br />

wird zum Idioten der Klasse), zieht der<br />

Vater die Reissleine und nimmt den<br />

Buben zu seinen Eltern aufs Land. Hier,<br />

in der natürlichen Umgebung eines<br />

grossen Bauernhofs, beginnt die Entwöhnung<br />

<strong>von</strong> der sedierenden Liebesdroge.<br />

Es ist anrührend zu lesen, wie der<br />

Vater sich in das stumme Kind einfühlt<br />

und entdeckt, dass der Junge über das<br />

Zeichnen nach der Natur schreiben lernen<br />

kann. Er hält ihn an, alles, was er<br />

beobachtet, in Kladden aufzuschreiben.<br />

Das Kind, das mit den Zetteln der Mutter<br />

gross geworden ist, folgt. Sein Sprechen<br />

beginnt bezeichnenderweise, nachdem<br />

der Junge heimlich die nachgereiste<br />

Mutter nackt im See sieht, wie sie<br />

schwimmt und singt. Am selben Abend<br />

ruft er fussballspielenden Kindern zu:<br />

«Gebt mal her.» Und als die Mutter spä-<br />

ter in der Gaststube Chopin spielt, inszeniert<br />

er eifersüchtig seinen eigenen<br />

Auftritt. Bevor das Essen beginnt,<br />

schliesst er die Augen und spricht eine<br />

unheimliche Inventur: «Das ist eine<br />

Suppenschüssel, und daneben ist eine<br />

Suppenkelle. Da ist ein Unterteller...»<br />

Lebensweg Schriftsteller<br />

Der Weg des Jungen führt später über<br />

ein Musikinternat nach Rom zum Klavierstudium;<br />

eine frühe, aussichtsreiche<br />

Karriere muss er jedoch wegen Sehnenscheidenentzündung<br />

abbrechen. Zurück<br />

bei den Eltern, weiss er nicht, was er tun<br />

soll. Die Mutter liest ihm französische<br />

Romane vor. In ihrer Nähe ist er ohne<br />

Hoffnung glücklich. Der Hinweis eines<br />

alten Lehrers, er habe doch immer schon<br />

gelebt wie ein Schriftsteller, wirkt erleuchtend.<br />

Dem einst aus Hingabe stummen<br />

Kind öffnet sich im Schreiben ein<br />

Lebensweg. Sorgfältig hat Ortheil eine<br />

kleine Pianisten-Spiegelgeschichte mit<br />

dem begabten römischen Nachbarmädchen<br />

Marietta eingeflochten, dem der<br />

Schriftsteller Johannes Klavierunterricht<br />

gibt. Das Buch endet mit einem<br />

Musikrausch. Nach dem Auftritt Mariettas<br />

gibt Johannes ein spontanes Konzert.<br />

Unter dem Applaus visioniert er die<br />

alten Eltern in der Ewigen Stadt. Die<br />

Liebe ist ein kostbares Leid. Und was<br />

anderes wäre die Kunst? ●


steFan JÄggi / KeYstOne<br />

Krimi Der Roman des Schweizer Autors<br />

Linus Reichlin handelt <strong>von</strong> Schicksal und<br />

Vorsehung – und einem Verbrechen<br />

Der Ermittler<br />

als Täter<br />

Linus Reichlin: Der Assistent der Sterne.<br />

Galiani, Berlin 2009. 384 Seiten, Fr.34.50.<br />

Von Christine Brand<br />

Ein frühpensionierter Polizeiinspektor,<br />

der als Deutscher im belgischen Brügge<br />

lebt, sich mehr für Quantenphysik als für<br />

Verbrechen interessiert und trotzdem<br />

erneut zielsicher in ein solches hineinkatapultiert<br />

wird: Das ist Hannes Jensen,<br />

den der Schweizer Autor Linus Reichlin<br />

in seinem mit dem Deutschen Krimipreis<br />

ausgezeichneten Erstling «Die Sehnsucht<br />

der Atome» geschaffen hat und dessen<br />

Geschichte, die keine alltägliche ist, sich<br />

im neuen Roman «Der Assistent der<br />

Sterne» turbulent weiterdreht.<br />

Eigentlich ist Jensen, bei dem man<br />

sich zuerst überlegen muss, ob man ihn<br />

mag oder nicht, ein Realist. Mit Esoterik<br />

hat er nichts am Hut. Übersinnliches tut<br />

er als Unsinniges ab. Und an Schicksal<br />

glaubt er sowieso nicht. Bis er auf mitunter<br />

skurrile Art und Weise erfahren<br />

muss, dass nicht alles rational erklärbar<br />

und manches womöglich sogar vorhersehbar<br />

ist.<br />

So dreht sich die Geschichte um ein<br />

Verbrechen, das noch gar nicht geschehen<br />

ist und in dessen Mittelpunkt Jensen<br />

nicht als Ermittler, sondern als möglicher<br />

Täter stehen wird. Das prophezeit<br />

ihm zumindest ein afrikanischer Wahrsager,<br />

der ihm rät, sich <strong>von</strong> einer gewissen<br />

Vera Laechert fernzuhalten. Jensen,<br />

der die Frau nicht kennt, ignoriert den<br />

Rat, begibt sich auf einen obskuren Trip<br />

nach Island und lässt sich dort auf eine<br />

Nacht mit einer Unbekannten ein, die<br />

ihn in den Hals beisst. Nur mit Mühe<br />

kann Jensen die Wunde vor seiner<br />

schwangeren Geliebten zu Hause verstecken;<br />

ihrer Blindheit sei Dank. Doch<br />

die Bisswunde scheint die Vorhersage<br />

wahr werden zu lassen: Der künftige<br />

Mörder <strong>von</strong> Vera Laechert, besagt diese,<br />

trage ein Mal am Hals. Je vehementer<br />

sich Jensen gegen den Lauf der Dinge<br />

stemmt, desto unabwendbarer erscheint<br />

das prophezeite Drama.<br />

Der Autor Linus Reichlin foutiert sich<br />

um das klassische Krimi-Schema; er<br />

wagt den Spagat zwischen den Genres.<br />

Der verschlungene Plot droht dabei<br />

zuweilen abzuheben und wirkt<br />

manchmal etwas gar konstruiert.<br />

Doch die Wirrungen sind packend,<br />

die eigenartigen Charaktere wachsen<br />

einem dann doch ans<br />

Herz, Reichlins stimmige<br />

Sprache überzeugt, und<br />

er hält die Spannung bis<br />

zum Schluss hoch. Sein<br />

Roman über Schicksal<br />

und Vorsehung ist eine –<br />

gelungene – Gratwanderung.<br />

●<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

Michael Herzig: Die Stunde der Töchter.<br />

Kriminalroman. Grafit, Dortmund 2009.<br />

285Seiten, Fr.17.50.<br />

Johanna <strong>von</strong> Orléans kämpfte gegen die<br />

Engländer, die Zürcher Polizistin Johanna<br />

di Napoli bietet der Mafia die Stirn.<br />

Michael Herzig schickt seine aus dem<br />

Emmental stammende und der Regionalwache<br />

Aussersihl als Quotenfrau<br />

aufgedrückte di Napoli zum zweiten<br />

Mal in den Kampf gegen Verbrechen<br />

und Männerbündelei. Diesmal geht es<br />

um illegalen Kulturgüterhandel und um<br />

die Folgen väterlicher Vernachlässigung.<br />

Di Napoli, Enddreissigerin sowohl<br />

mit Bindungsängsten wie -sehnsüchten,<br />

bewährt sich erneut als Kampfweib<br />

erster Güte, das Herz auf dem<br />

rechten Fleck. Der 44-jährige Herzig,<br />

hauptberuflich Leiter des Geschäftsbereichs<br />

Sucht und Drogen der Stadt<br />

Zürich, hat die verschiedenen Erzählstränge<br />

und den Spannungsbogen sicher<br />

in der Hand. So könnte man sich den<br />

geplanten Neustart eines schweizerischen<br />

«Tatorts» vorstellen.<br />

Regula Freuler<br />

Juan Carlos Onetti: Der Schacht. Für<br />

diese Nacht. Niemandsland. Suhrkamp,<br />

Frankfurt a.M. 2009. 611 Seiten, Fr.54.90.<br />

Der Uruguayer Erzähler Juan Carlos<br />

Onetti (1909–1994) zählt mit dem Argentinier<br />

Jorge Luis Borges zu den Begründern<br />

der modernen lateinamerikanischen<br />

Literatur. Im Rahmen der hoch<br />

zu lobenden fünfbändigen Werkausgabe,<br />

die der Suhrkamp-Verlag ihm widmet,<br />

sind nun die ersten drei Bücher des<br />

an Conrad, Céline und Faulkner geschulten<br />

Romanciers erschienen: der so ungestüme<br />

wie knappe Erstling «Der<br />

Schacht» (1939), der Grossstadtroman<br />

«Niemandsland» (1941) und der Bürgerkriegsroman<br />

«Für diese Nacht». Letzterer<br />

erzählt aufs Packendste <strong>von</strong> einem<br />

Mann, der in einer eingekesselten<br />

Hafenstadt vor seinen Gegnern durch<br />

die Nacht flieht. Onetti, der zur Zeit der<br />

Entstehung dieser Texte als Journalist<br />

für eine politische Zeitschrift sowie als<br />

Redaktor für die Nachrichtenagentur<br />

Reuters in Montevideo arbeitete, zeigt<br />

sich schon hier als so genuiner wie<br />

formbewusster Autor.<br />

Manfred Papst<br />

Eudora Welty: Ein Vorhang aus Grün.<br />

Erzählungen. Kein &Aber,Zürich 2009.<br />

368 Seiten, Fr 34.50.<br />

Geboren 1909 in Jackson, Mississippi,<br />

gestorben 2001 in Jackson, Mississippi.<br />

Doch so wie andere die Welt bereisen<br />

und nichts zu erzählen haben, wusste<br />

(die durchaus weitgereiste) Eudora<br />

Welty aus ihrer Heimat in den Südstaaten<br />

und seinen Bewohnern die<br />

Welt (und innere Welten) zu ersinnen.<br />

Sie war Vorbild für literarische Grössen<br />

wie Truman Capote und Richard<br />

Ford, gewann 1973 den Pulitzerpreis<br />

und fotografierte. Ihre Kurzgeschichtensammlung<br />

«A Curtain of Green»<br />

erschien erstmals 1941 auf Englisch, die<br />

letzten beiden Texte in dieser Ausgabe<br />

liest man aber nun zum ersten Mal auf<br />

Deutsch. Allesamt sind es wundersam<br />

poetische Geschichten, die <strong>von</strong> Beobachtungsleidenschaft<br />

zeugen. Schön,<br />

dass der Verlag sie wieder greifbar<br />

macht; schade, dass er die Gelegenheit<br />

zu einer ausführlicheren Biografie verpasst.<br />

Regula Freuler<br />

Lioba Happel: Land ohne Land. Gedichte.<br />

Edition Pudelundpinscher,Unterschächen<br />

2009. 83 Seiten, Fr.28.–.<br />

Lioba Happels Werk ist schmal. 1989<br />

machte die 1957 im fränkischen Aschaffenburg<br />

geborene Autorin bei Suhrkamp<br />

mit dem Gedichtband «Grüne Nachmittage»<br />

auf sich aufmerksam, 1991 folgte<br />

die Erzählung «Ein Hut wie Saturn».<br />

Doch nach einem weiteren Gedichtband,<br />

«Der Schlaf überm Eis» (Schöffling,<br />

1995) wurde es schon wieder still um die<br />

begabte, eigenwillige Autorin, die inzwischen<br />

hauptsächlich in Lausanne lebt.<br />

Fast fünfzehn Jahre sollten verstreichen<br />

bis zu ihrem neuen Gedichtband, «Land<br />

ohne Land». Der Ton ist indes unverkennbar<br />

der gleiche geblieben: Romantische<br />

Phantasien treffen auf Alltagsszenen,<br />

stark rhythmisierte Langgedichte<br />

wechseln ab mit enigmatischen Versund<br />

Gedankensplittern. Im Schlaf und in<br />

Tagträumen steigen Erinnerungen auf,<br />

deuten sich Glück und Liebesleid an.<br />

Keine leichte Lektüre, aber eine auf<br />

inspirierende Weise irritierende und<br />

ergiebige.<br />

Manfred Papst<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11


Essay<br />

Wer sich einmal auf das Romanwerk <strong>von</strong> <strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> einlässt, kommt<br />

kaum mehr <strong>von</strong> ihm los. Was macht den einzigartigen Zauber dieses<br />

Erzählers aus? <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> bekennt sich zu seiner Obsession<br />

Ansichteneines<br />

stubenhockerischen<br />

<strong>Proust</strong>ianers<br />

Andere Leser lesen Bücher, und hin und wieder<br />

lesen sie, vielleicht, auch ein Buch <strong>von</strong> <strong>Marcel</strong><br />

<strong>Proust</strong>. Der <strong>Proust</strong>ianer tut das Gegenteil: Er<br />

liest <strong>Proust</strong> und hin und wieder, vielleicht, auch<br />

das Buch eines anderen Autors. Keinen Satz<br />

hält er für wahrer als Roland Barthes’ Feststellung,<br />

die «Recherche» (also <strong>Proust</strong>s 7-bändiger<br />

Roman «Auf der Suche nach der verlorenen<br />

Zeit») sei für den <strong>Proust</strong>ianer, was die Bibel für<br />

den Christen: Er liest jeden Tag in ihr, und sie<br />

spendet ihm Trost in allen Lebenslagen, ob er<br />

nun jung oder alt, verliebt oder todtraurig,<br />

spottlustig oder erleuchtungsbedürftig, auf Reisen<br />

oder in der Stube, eigenbrötlerisch oder<br />

Auswahl des <strong>Proust</strong>ianers<br />

Jean-Yves Tadié: <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>. Biografie.<br />

Suhrkamp,2008. 1266 Seiten, Fr.110.–.<br />

Luzius Keller: <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>Enzyklopädie.<br />

Hoffmann und Campe,2009.1018S., Fr.163.–.<br />

<strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>: Cahiers1à75. Bibliothèque<br />

nationale de France/Brepols.ImFebruar<br />

erscheintCahier 71, €200.–.<br />

Eric Karpeles: <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>und die Gemälde<br />

aus der Verlorenen Zeit. Du Mont, 2010.196 Abb.,<br />

352Seiten, Fr.58.– (ab22. 2. im Handel).<br />

Michael Maar: <strong>Proust</strong>s Pharao. Berenberg,<br />

2009.80Seiten, Fr.34.90.<br />

Cher ami... <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>imSpiegel seiner<br />

Korrespondenz. Hrsg.JürgenRitte und Reiner<br />

Speck. Snoeck, 2009.390 Seiten, Fr.80.90.<br />

Stéphane Heuets Comics zur«Recherche».<br />

Bisjetzt 5Bände.Delcourt, seit 1998, je Fr.25.–.<br />

12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

salongängerisch ist. Die «Recherche» spendet<br />

diesen Trost übrigens nicht nur ästhetisch, weil<br />

<strong>Proust</strong> nun einmal die schönsten (wenn auch,<br />

zugegeben, die längsten) Sätze der Weltliteratur<br />

schreibt und die besten Metaphern zur<br />

Hand hat. Sie spendet ihn, ganz wie die Bibel,<br />

auch durch ihre Wahrheit. Denn die «Recherche»<br />

ist, da kennt der <strong>Proust</strong>ianer keinen Zweifel,<br />

auch eines der feinsten philosophischen<br />

Werke. Nur verkündet es seine Wahrheiten<br />

nicht in allgemeinen Begriffen, sondern in einer<br />

Folge detailliert und lebensnah geschilderter<br />

Desillusionierungen. Welcher Philosoph hat je<br />

so viele Täuschungen, also Unwahrheiten, aufgeklärt<br />

wie <strong>Proust</strong>? Und welcher lässt seine<br />

Figuren nach aller mitleidlosen, spöttischen,<br />

messerscharfen Decouvrierung zugleich so zart<br />

und menschlich aussehen wie <strong>Proust</strong>? Er ist<br />

nicht nur stilistisch und stofflich der universalste<br />

Autor, er ist auch der menschlichste.<br />

<strong>Proust</strong>forschung wächst<br />

Man muss sich den <strong>Proust</strong>ianer als einen glücklichen<br />

Menschen vorstellen. Was anderen<br />

Lesern eine unerträgliche Qual wäre, das<br />

Durchblättern tausendseitiger Wälzer, ist ihm<br />

die reine <strong>Freud</strong>e. Anders als <strong>Proust</strong>, der kein<br />

Sammler war, in seinem Zimmer kaum ein Bild<br />

hängen hatte und nur wenige Bücher besass,<br />

kommt der <strong>Proust</strong>ianer über die Jahre zu einer<br />

platzraubenden Kollektion <strong>von</strong> Text- und Tafelwerken.<br />

21 Brief- und 20 Textbände, alle reich<br />

kommentiert, bilden den Grundstock, zahllose<br />

Bildbände dienen dem Vergnügen des Auges,<br />

und jedes Jahr kommen ein paar hundert,<br />

in guten Jahren gar ein paar tausend Seiten<br />

<strong>Proust</strong>forschung dazu. Vorletztes Jahr etwa die<br />

1266 Seiten der deutschen Ausgabe <strong>von</strong> Tadiés<br />

<strong>Proust</strong>-Biografie und der sündhaft teure erste<br />

Doppelband der Faksimile-Ausgabe der<br />

«Cahiers», der handschriftlichen Notiz- und<br />

Entwurfshefte <strong>Proust</strong>s, diesen Winter die 1018<br />

Seiten <strong>von</strong> Luzius Kellers «<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> Enzyklopädie».<br />

Für den Frühling erwartet der <strong>Proust</strong>ianer<br />

die deutsche Ausgabe <strong>von</strong> Eric Karpeles’<br />

Tafelwerk mit allen in der «Recherche» erwähnten<br />

Gemälden. Wahrscheinlich kann man kaum<br />

einen Autor der Weltliteratur so genau kennen<br />

wie <strong>Proust</strong>, jeder Tag seines Lebens und jede<br />

«Auf der Suche nach der<br />

verlorenen Zeit» ist eines<br />

der feinsten philosophischen<br />

Werke. Es verkündet die<br />

Wahrheiten in einer Folge<br />

<strong>von</strong> Desillusionierungen.<br />

Zeile seines Schreibens scheint mehrfach hinund<br />

hergewendet, und gewiss wäre jeder andere<br />

Autor auf diese Weise längst zu Tode kommentiert.<br />

Nicht so <strong>Proust</strong>! Es bestätigt den<br />

<strong>Proust</strong>ianer in seiner Idolatrie, dass <strong>Proust</strong>s<br />

Werk durch alles, was man über es erfährt, nur<br />

immer facettenreicher, tiefgründiger und wunderähnlicher<br />

wird.<br />

Nehmen wir die Facetten. Gab es da im<br />

18. Band der Korrespondenz nicht diesen denkwürdigen<br />

Brief, in dem <strong>Proust</strong> sich über den<br />

geräuschvollen Sex seiner Nachbarn an der


Der französische Schriftsteller <strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> (1871–1922), knieend, mit seiner Familie in den Ferien in Neuilly, um 1892.<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13<br />

rue des archives / süddeutsche zeitung


Essay<br />

1983 wurde <strong>Proust</strong>s Erzählung «Un amour de Swann» <strong>von</strong> Volker Schlöndorff verfilmt. Die Hauptrollen spielten<br />

Jeremy Irons und Fanny Ardant (beide im Vordergrund).<br />

rue Laurent-Pichat beklagte? «Die Nachbarn<br />

treiben jeden Tag Liebe mit einer Raserei, die<br />

mich eifersüchtig macht. Wenn ich daran denke,<br />

dass diese Empfindung für mich noch schwächer<br />

ist als die, ein Glas kühles Bier zu trinken,<br />

beneide ich die Leute, die solche Schreie ausstossen,<br />

dass ich beim ersten Mal an einen Mord<br />

dachte, doch der Schrei der Frau, eine Oktave<br />

tiefer vom Mann wiederholt, hat mir über das<br />

Geschehen bald Gewissheit verschafft.» Und<br />

gab es nach dieser Passage in der Briefausgabe<br />

nicht merkwürdige Auslassungen in eckigen<br />

Klammern? Was da wohl noch gekommen wäre?<br />

Wenn der <strong>Proust</strong>ianer auf seiner Lustreise<br />

durch Tadiés Wälzer auf Seite 821 angekommen<br />

ist, löst sich das Rätsel – Tadié liefert die Textlücken<br />

nach. Er hat sich, wo, sagt er nicht, das<br />

Brieforiginal angesehen, das der Herausgeber<br />

der Korrespondenz noch nach einem unvollständigen<br />

Auktionskatalog zitiert hatte, und er<br />

hat einen bemerkenswerten Fund getan. «Der<br />

letzte Schrei ist noch nicht ganz ausgestossen»,<br />

heisst es in den ausgelassenen Sätzen, «da stürzen<br />

sie sich auf ein Sitzbad und der Krach endet<br />

mit einem Geräusch fliessenden Wassers.»<br />

Neue Facetten blitzen auf<br />

So weit so gut; das hatte auch schon Keller in<br />

seinem Kommentar zur «Recherche» nachgetragen.<br />

Doch dann wartet <strong>Proust</strong> mit einem<br />

Geständnis auf, dessen Unverblümtheit bei<br />

einem, der seine Homosexualität immer ebenso<br />

kunstvoll lebte wie verbarg, mehr als erstaunt.<br />

«Das völlige Fehlen eines Übergangs strengt<br />

mich an ihrer Stelle an, denn wenn es etwas<br />

gibt, das ich danach verabscheue, oder zumindest<br />

sofort danach, dann ist es, sich zu bewegen.<br />

Welcher Egoismus auch darin enthalten<br />

sein mag, die milde Wärme eines Mundes, der<br />

nichts mehr aufzunehmen hat, an derselben<br />

Stelle festzuhalten.»<br />

Das ist auch für die, die <strong>Proust</strong>s ebenso masochistische<br />

wie witzige Bordellszenen gelesen<br />

haben, eine nette Facette im Bild ihres <strong>von</strong> manchen<br />

für einen reinen Ästheten gehaltenen<br />

Autors. Was hätte man darum gegeben, Ähn-<br />

14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

liches einmal in einem der feinsinnigen Bücher<br />

über den halbseidenen Stefan George zu lesen?<br />

Aber Tadié bringt diese Passage nicht um der<br />

knisternden Anekdote willen. Er erwähnt sie,<br />

weil sie für die überzeugende Methode seiner<br />

Biografie notwendig ist. Für Tadié ist die<br />

«eigentliche Biografie eines Schriftstellers»<br />

nicht spekulatives Stochern in der Vita des<br />

Künstlers, sondern die wohlbegründete «Biografie<br />

seines Werkes». Also zeigt er, wie <strong>Proust</strong><br />

seine Briefbemerkungen vom Juli 1919 fast<br />

Die Biografie sammelt die<br />

scheinbar unbedeutendsten<br />

Mosaiksteinchen und fügt<br />

sie zur Geschichte der<br />

Entstehung der berühmten<br />

«Recherche».<br />

wortwörtlich flugs in die Druckvorlage des<br />

Romanbandes «Sodom und Gomorrha» einfügte,<br />

in dessen Manuskript sie noch nicht standen.<br />

Und wie er in der 2.Auflage des Bandes mit<br />

handschriftlichen Randnotizen nochmals am<br />

Wortlaut der Stelle herumfeilte.<br />

Das ist das Wunder <strong>von</strong> Tadiés Biografie:<br />

Sie sammelt akribisch noch die scheinbar<br />

unbedeutendsten Mosaiksteinchen und fügt sie<br />

geduldig zur Entstehungsgeschichte der<br />

«Recherche» zusammen. Welche Einflüsse<br />

formten das so überwältigende Erkenntnisinstrument,<br />

als das uns <strong>Proust</strong>s Stil erscheint?<br />

Wie baute er seine so plastischen und so<br />

abgründigen Figuren auf, etwa den schwulen<br />

Baron Charlus, eine Figur, die auch Shakespeare<br />

wohl angestanden hätte? Tadié zeigt mit einem<br />

immensen Reichtum an Fakten, welch unglaubliches<br />

Quantum an Erfahrungen aller Art <strong>Proust</strong><br />

in sich aufnahm, um es in seinen Romankosmos<br />

umzuformen. Die Lektüre dieses Riesenwerkes<br />

gleicht freilich einer Winterwanderung in tie-<br />

pwe<br />

fem nassem Schnee, immer wieder sinkt man<br />

ein, oft verliert man den Weg. Erzählen kann<br />

Tadié wirklich nicht. Seine Biografie ist der Fall<br />

eines streckenweise fast unlesbaren, aber hundertprozentig<br />

unentbehrlichen Buches. Man<br />

ärgert sich nicht selten grün und blau – und<br />

wird zum Nachlesen doch stets zu diesem Standardwerk<br />

zurückkehren.<br />

Wie anders wird es dem <strong>Proust</strong>ianer, wenn<br />

er sich der vom Zürcher Romanistikprofessor<br />

und <strong>Proust</strong>forscher Luzius Keller herausgegebenen<br />

«<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> Enzyklopädie» zuwendet.<br />

Durch dieses Buch summt er wie eine Biene<br />

durch das Blütenmeer einer sonnenwarmen<br />

blühenden Alpenwiese. Was immer er während<br />

seiner <strong>Proust</strong>-Lektüre genauer wissen möchte<br />

– Keller weiss es. Ihn frappiert der Konversationsstil<br />

in <strong>Proust</strong>s Salonszenen? Kellers Konversationsartikel<br />

klärt ihn zuverlässig auf. Er<br />

fragt sich, was es mit den Monokeln auf sich<br />

hat, mit denen die Salonlöwen so wichtigtun?<br />

In der «Enzyklopädie» steht es. Was es mit den<br />

Figuren auf sich hat, die sich in den Salons tummeln,<br />

wer ihre Vorbilder sind – Keller fragen.<br />

Enzyklopädisches Wissen<br />

Das Nachschlagen summiert sich mit der Zeit<br />

zu einer überraschungsreichen Reise durch die<br />

Kulturgeschichte Frankreichs. Fast jeder Eintrag<br />

«vaut un détour», michelinisch gesprochen.<br />

Wir erfahren nicht nur, wie sich in <strong>Proust</strong>s<br />

Umgang mit Racines jüdischer Dramenheldin<br />

Esther sein Verhältnis zu seinem eigenen Judentum<br />

verpuppte. Wir werden <strong>von</strong> Keller auch auf<br />

einen ganz eigenen Lektüre- und Suchparcours<br />

gewiesen. Im Konversationsartikel lesen wir:<br />

«Wir sprechen für die anderen. Doch wir<br />

schweigen für uns selbst. Deshalb trägt das<br />

Schweigen, im Gegensatz zum Sprechen, nicht<br />

die Spur unserer Fehler und unserer Grimassen.<br />

Es ist rein.»<br />

Wie konnte man diese Sätze aus «Tage des<br />

Lesens» vergessen; man geht hin und liest nach.<br />

Und nicht selten legt man die «Enzyklopädie»<br />

mit lautem Lachen aus der Hand. Wer wusste<br />

schon, «dass <strong>Proust</strong> bis um 1900 prou ausgesprochen<br />

wurde, dass mit dem gleichlautenden<br />

‹prout› das Geräusch eines Furzes bezeichnet<br />

wird und dass ‹prout› als Interjektion Schwulheit<br />

evoziert»?<br />

In der französischen Originalausgabe der<br />

«Enzyklopädie» sucht man die feinsten Einsichten<br />

der deutschen indes vergeblich. Keller<br />

hat das <strong>von</strong> den besten <strong>Proust</strong>forschern verfasste<br />

Kollektivwerk für die deutsche Ausgabe<br />

<strong>von</strong> recht vielen schwachen Artikeln befreit<br />

und zahllose neue eigene beigesteuert. Das ist<br />

Kellers Stil: Diskret liefert er sein Hauptwerk in<br />

Gestalt eines fast anonym daherkommenden<br />

Sammelwerkes ab, in dem, wenn man genauer<br />

hinsieht, zufällig einfach ein paar hundert Seiten<br />

<strong>von</strong> ihm verfasst sind. Sein zweites Hauptwerk<br />

übrigens; das erste waren die 14 Bände der<br />

Frankfurter <strong>Proust</strong>-Ausgabe, die er herausgegeben,<br />

kommentiert und übersetzerisch revidiert<br />

hat – gibt es für so was eigentlich keine<br />

Literaturpreise?<br />

Was tut der <strong>Proust</strong>ianer, wenn er lesensmüde<br />

wird? Er reist im Mai nach Illiers, das <strong>Proust</strong> als<br />

Combray verewigt hat, schnuppert durchs Haus<br />

der <strong>Proust</strong>s, bummelt der Vi<strong>von</strong>ne entlang, die<br />

in Wirklichkeit Loir heisst, bewundert den Flieder<br />

und reist weiter ins <strong>Proust</strong>sche Seebad<br />

Balbec, das in Wirklichkeit Cabourg heisst,<br />

mietet sich im Grand-Hotel ein und sieht aufs<br />

Meer. Wenn ihn die tröstliche Einsicht überkommt,<br />

dass <strong>Proust</strong> das alles viel schöner<br />

beschrieben hat, als es ist, dass die Literatur<br />

also dem (Reise-)Leben vorzuziehen sei, reist<br />

er heim und macht weiter wie immer. Man<br />

muss sich den <strong>Proust</strong>ianer eben als einen glücklichen<br />

Menschen vorstellen. ●


gaËtan BaLLY / KeYstOne<br />

Kolumne<br />

Charles Lewinskys Zitatenlese<br />

Charles Lewinsky,<br />

63, ist Schriftsteller,<br />

Radio- und TV-Autor<br />

und lebt in Frankreich.<br />

Sein neues Buch<br />

«Doppelpass» ist<br />

kürzlich bei Nagel &<br />

Kimche erschienen.<br />

Ein Roman ist ein<br />

Roman, wie ein Pudding<br />

ein Pudding ist. Bei<br />

beiden besteht die<br />

Aufgabe darin, sie so zuzubereiten,<br />

dass sie gerne verzehrt werden.<br />

Henry James<br />

Man nehme, je nach geplantem Buchumfang,<br />

drei bis sieben gut abgehangene<br />

Charaktere, vorzugsweise aus<br />

eigener Jagd in freier Wildbahn. Sollten<br />

Sie wegen anderweitiger Verpflichtungen<br />

wie Lesungen und Autogrammstunden<br />

zum Selberjagen – oder, wie<br />

der Fachmann das nennt: Erleben –<br />

keine Zeit haben, so ist das auch nicht<br />

weiter schlimm. Sie können bei der<br />

Besorgung Ihrer Protagonisten selbstverständlich<br />

auch auf Konserven<br />

zurückgreifen, wobei sich die grossen<br />

Marken wie Homer oder Shakespeare<br />

schon bei vielen Literaturköchen<br />

bewährt haben. Falls Ihren Charakteren<br />

die Wiederverwertung allzu deutlich<br />

anzumerken ist, empfiehlt es sich,<br />

stilistisch entsprechend kräftiger zu<br />

würzen.<br />

In alten Kochbüchern wird oft auch<br />

noch eine sogenannte Handlung als<br />

unabdingbarer Bestandteil jedes<br />

Buches genannt. In der modernen<br />

Küche sieht man das jedoch nicht mehr<br />

so eng.<br />

Ganz wichtig ist aber die Wahl des<br />

richtigen Gefässes für Ihr Menu. Wenn<br />

Sie sich für ein zu grosses Format entscheiden,<br />

besteht die Gefahr, dass ihre<br />

Figuren allzu sehr ausgekocht werden<br />

müssen und entsprechend blutleer werden.<br />

Merke: Eine prägnant angerichtete<br />

Kurzgeschichte mundet oft besser als<br />

ein mit zu viel Wortsauce gestreckter<br />

Roman.<br />

Bevor Sie die Figuren in das ausgewählte<br />

Gefäss packen, sollten diese in<br />

der gewünschten Duftnote mariniert<br />

werden. Die beliebteste Geschmacksrichtung<br />

ist nach wie vor Liebe (in<br />

jedem guten Arztroman erhältlich).<br />

Aber auch Weltschmerz, Tragik oder<br />

junges Glück werden immer wieder<br />

gern genommen. Wenn Sie eine grössere<br />

Zahl <strong>von</strong> Kunden verpflegen wollen,<br />

ist es in der Regel ratsam, auf allzu<br />

pikante Gewürze wie Zynismus oder<br />

Pornografie zu verzichten.<br />

Hacken Sie das Ganze in nicht allzu<br />

lange Sätze, weil diese ungeübten<br />

Lesern beim Verzehr oft Probleme<br />

bereiten. In Ihrer persönlichen Stil-<br />

Bouillon sautieren und bei mittlerer<br />

Hitze kochen. Allzu grosses Feuer ist<br />

nur bei Abenteuerromanen und Biografien<br />

<strong>von</strong> Brandstiftern zu empfehlen.<br />

Und dann: rühren, rühren, rühren.<br />

Denken Sie immer an die Devise der<br />

Meisterköchin Hedwig Courths-<br />

Mahler: «Zu viel Rührung kann es gar<br />

nicht geben.»<br />

Das fertige Buch mit einem gut<br />

gestalteten Umschlag und ein paar hübschen<br />

Klappentexten<br />

garnieren und rechtzeitig<br />

vor der Buchmesse<br />

servieren.<br />

Auf gutes Gelingen!<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

Giorgio Vasari: Das Leben des<br />

Michelangelo. Wagenbach, Berlin 2009.<br />

576 Seiten, Fr.43.70.<br />

Nicht Leonardo da Vinci oder Sandro<br />

Botticelli, sondern Michelangelo Buonarroti<br />

war für Giorgio Vasari der grösste<br />

Künstler. In ihm gipfelt für den Biografen<br />

die Entwicklung der Kunst, er<br />

erfüllt am reinsten den universalen<br />

Anspruch der Renaissance. Vasari rückt<br />

den Michelangelo des David, seines<br />

jugendlichen Bravourstücks in Florenz,<br />

ebenso vor uns wie den Künstler der<br />

Päpste. Ein Tausendsassa und Energiebolzen,<br />

der den jüngeren Künstlern Vorbild<br />

sein sollte und den wir heute eher<br />

mit gemischten Gefühlen betrachten.<br />

Uns faszinieren eher die Brüche in der<br />

Biografie. Diese rückt der Kunsthistoriker<br />

Horst Bredekamp ins Zentrum seiner<br />

fünf Essays zum Künstler («Michelangelo»,<br />

Wagenbach 2009). Vom unzuverlässigen<br />

Vertragspartner bis zum<br />

exorbitant bezahlten Architekten des<br />

Petersdoms entsteht das Bild einer faszinierenden<br />

Persönlichkeit.<br />

Gerhard Mack<br />

Christine Kopp: Schlüsselstellen.<br />

49 Geschichten aus den Bergen. Filidor,<br />

Reichenbach 2009. 112 Seiten, Fr.28.–.<br />

«Die Puddingschlange» oder «Gipfelkuss<br />

mit Schweizer Armee»: Nicht nur<br />

die Titel der Kurzgeschichten sind ausgefallen.<br />

Auch deren Inhalt mitsamt den<br />

gelungenen Schwarzweissfotomontagen<br />

<strong>von</strong> Alex Luczy sind es. «Schlüsselstellen»<br />

heisst das kleine, feine Büchlein –<br />

gemeint sind eher Schlüsselerlebnisse.<br />

Jene, die wir aus den Bergen nach Hause<br />

nehmen oder <strong>von</strong> anderen berichtet<br />

erhalten. Spätestens beim Kapitel über<br />

«Die schönen blauen Schuhe» weiss die<br />

Leserschaft: Die Schlüsselstellen in den<br />

Bergen, die uns so oft herausfordern,<br />

haben ihren Ursprung anderswo. Und<br />

nicht selten «setzt der Mensch immer<br />

wieder selber erschütternde Denkmale<br />

seines Tuns» in den Bergen. Die Sehnsucht<br />

nach der Bergwelt, die heilende<br />

Wirkung ausübt, ist für die Alpinistin<br />

Christine Kopp Gewissheit genug, dass<br />

wir immer wieder aufbrechen.<br />

Charlotte Jacquemart<br />

Hans-Peter Bärtschi: Industriekultur im<br />

Kanton Zürich.<br />

Rotpunkt, Zürich 2009. 299 Seiten, Fr.42.–.<br />

Drei Jahre nach der «Industriekultur im<br />

Kanton Bern» folgt nun das Pendant für<br />

den Kanton Zürich. Wieder beackert der<br />

Architekt und Wirtschaftshistoriker<br />

Hans-Peter Bärtschi sein Spezialgebiet<br />

mit Engagement und Begeisterung. Entstanden<br />

ist ein Wanderführer der anderen<br />

Art, der zu Spinnereien im Tösstal<br />

oder zur Winterthurer Schwerindustrie<br />

führt. Bärtschi macht klar, dass auch die<br />

Industrie Teil unserer Kultur ist, dass<br />

deren Anlagen zu pflegen, zu inventarisieren<br />

und vor dem Vergessen zu bewahren<br />

sind. Maschinenfabriken, Rangierbahnhöfe<br />

und Arbeitersiedlungen haben<br />

durchaus ihren architektonischen Reiz,<br />

der im Umbau weitläufiger Fabrikhallen<br />

in teure Lofts gipfelt. Bärtschi verschweigt<br />

auch nicht das Arbeiterelend<br />

im 19.Jahrhundert mit Wochenarbeitszeiten<br />

<strong>von</strong> bis zu 84 Stunden. Der Führer<br />

liefert Routenbeschreibungen, Karten,<br />

Literatur- und Internethinweise.<br />

Geneviève Lüscher<br />

Gerhard Jelinek: Reden, die die Welt<br />

veränderten. Ecowin, Salzburg2009.<br />

310 Seiten, Fr.34.50.<br />

Einige der Reden kennt man, andere<br />

überraschen – Marie Curies Plädoyer für<br />

Radium etwa oder Steve Jobs Rede über<br />

den Tod, nach der Krebsdiagnose. Längst<br />

nicht alle hier versammelten Reden<br />

haben die Welt verändert, wie der Titel<br />

verspricht. Doch für einen geschichtlichen<br />

oder gesellschaftlichen Moment<br />

stehen sie allemal. Es ist deshalb frappierend,<br />

wie ihre chronologische Abfolge<br />

die Zeit ins Bewusstsein ruft, die <strong>von</strong><br />

der langen Bergpredigt Jesu bis zum<br />

kurzen Satz Neil Armstrongs auf dem<br />

Mond und zu Barack Obamas «Yes, we<br />

can» verflossen ist. Die meisten Reden<br />

sind begreiflicherweise stark gekürzt<br />

wiedergegeben, alle werden <strong>von</strong> einem<br />

einordnenden Text des Autors begleitet.<br />

Und ab der «Balkonrede» Kaiser Wilhelms<br />

II. vom 1.August 1914 kann man<br />

sie, über die entsprechenden Links im<br />

Quellenverzeichnis, sogar live hören.<br />

Kathrin Meier-Rust<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15


Sachbuch<br />

Psychiatrie Der Briefwechsel zwischen Sigmund <strong>Freud</strong> und seinem Mitstreiter<br />

KarlAbraham erlaubt einen Blick in die Pionierzeit der Psychoanalyse. Undzeigt<br />

die Bedeutung des Burghölzli für die Weiterverbreitung der neuen Wissenschaft<br />

Männerfreundschaft<br />

mitseelischem Tiefgang<br />

ErnstFalzeder,Ludger M. Hermanns<br />

(Hrsg.): Sigmund <strong>Freud</strong>/Karl Abraham.<br />

Briefwechsel 1907–1925. Vollständige<br />

Ausgabe. 2Bände. Turia+Kant, Wien<br />

2009. 943Seiten, Fr.93.40.<br />

Von Sabine Richebächer<br />

Im Nachruf auf seinen viel jüngeren, am<br />

Weihnachtstag 1925 unerwartet verstorbenen<br />

Mitstreiter Karl Abraham schreibt<br />

Sigmund <strong>Freud</strong>: «Mit diesem Manne –<br />

integer vitae scelerisque purus – begraben<br />

wir eine der stärksten Hoffnungen<br />

unserer jungen, noch so angefochtenen<br />

Wissenschaft, vielleicht ein uneinbringliches<br />

Stück ihrer Zukunft.» Karl Abraham<br />

gehörte zur ersten Schülergruppe<br />

um <strong>Freud</strong>. Er blieb stets loyal, war <strong>Freud</strong><br />

und «der Sache» treu ergeben und hatte<br />

einen hervorragenden Leistungsausweis<br />

im Hinblick auf wissenschaftliche und<br />

organisatorischeTätigkeiten,diewesentlich<br />

zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse<br />

beigetragen haben. Im Gegensatz<br />

zu <strong>Freud</strong>-Schülern wie C.G.Jung, Sándor<br />

Ferenczi und Wilhelm Reich wurde es<br />

Klinik Burghölzli<br />

Der Arzt und PsychiaterEugen Bleuler<br />

(1857–1937)war <strong>von</strong>1898bis 1927<br />

Direktor der psychiatrischen Klinik<br />

Burghölzli in Zürich und der ersteeuropäische<br />

Klinikleiter,der sich mit der Psychoanalyse<br />

<strong>von</strong>Sigmund <strong>Freud</strong><br />

auseinandersetzte. Bleuler kannte<strong>Freud</strong>s<br />

Publikationen und rezensierte frühe Studien<br />

zurHysterie. Dadurch wurde das<br />

Burghölzli zu einem Zentrum des<br />

psychoanalytischen Denkens, das junge<br />

Forscher anzog:Neben Karl Abraham<br />

warendies vorallem Carl GustavJung<br />

sowie Ludwig Binswanger.<br />

16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

um Abraham nach dessen Tod bald still.<br />

Umso erfreulicher ist, dass der vollständige<br />

Briefwechsel zwischen <strong>Freud</strong> und<br />

Abraham jetzt auch im deutschen Original<br />

vorliegt: Es handelt sich um 497<br />

Briefe, Karten und Mitteilungen, die<br />

eine Zeitspanne <strong>von</strong> 18 Jahren, vom Juni<br />

1907 bis zum November 1925, umfassen.<br />

Psychofreundliches Klima<br />

Karl Abraham wurde 1877 als zweiter<br />

Sohn einer orthodoxen jüdischen Kaufmannsfamilie<br />

in Bremen geboren.<br />

Sprachlich begabt und sprachwissenschaftlich<br />

interessiert, entschied er sich<br />

gleichwohl für das Medizinstudium. Von<br />

1901 bis 1904 arbeitete er als Oberarzt an<br />

der Irrenanstalt Dalldorf, nördlich <strong>von</strong><br />

Berlin gelegen. Sein grosser Wunsch, an<br />

der damals fortschrittlichen Kantonalen<br />

Irrenheilanstalt Burghölzli in<br />

Zürich zu arbeiten, ging Ende 1904 in<br />

Erfüllung, nachdem Klinikdirektor Professor<br />

Eugen Bleuler sich beim Zürcher<br />

Regierungsrat für ihn stark gemacht<br />

hatte: «Ein bisschen Auffrischung durch<br />

neue Ideen thut gewiss jeder Irrenanstalt,<br />

vor allem aber einer Klinik gut.<br />

Unter allen Umständen aber ist ein<br />

tüchtiger Fremder einem schlappen Einheimischen<br />

vorzuziehen.»<br />

Am Burghölzli sorgte Bleuler für ein<br />

psychoanalysefreundliches Klima und<br />

regte Mitarbeiter und Studenten dazu<br />

an, <strong>Freud</strong>s Schriften zu lesen, mit dem<br />

neuen psychoanalytischen Gedankengut<br />

zu experimentieren. Wie zahlreiche<br />

frühe Psychoanalytiker kam auch Abraham<br />

über die Zürcher Klinik zu <strong>Freud</strong>,<br />

den er im Sommer 1907 erstmals brieflich<br />

kontaktiert; sein erster Besuch in<br />

Wien findet im Dezember des gleichen<br />

Jahres statt. Da für Abraham als Nichtschweizer<br />

in der Schweiz beruflich kein<br />

Fortkommen ist, hat er sich entschieden,<br />

nach Berlin zu gehen. Er möchte dort als<br />

Nervenarzt und als <strong>Freud</strong>s Schüler Fuss<br />

fassen und bittet um dessen Empfeh-<br />

lung: «Ich weiss, wie schwer es im medizinischen<br />

Berlin ist, gegen eine Schulmeinung<br />

aufzukommen. In Zürich habe<br />

ich aufgeatmet. Keine Klinik in Deutschland<br />

hätte mir auch nur einen Teil dessen<br />

geboten, was ich hier vorgefunden<br />

habe.» <strong>Freud</strong> verspricht, energisch für<br />

Abraham einzutreten und bemerkt:<br />

«Dass Sie es als Jude schwerer haben,<br />

wird wie bei uns allen die Wirkung<br />

haben, alle Ihre Leistungsfähigkeit zum<br />

Vorschein zu bringen.»<br />

Betrachtet man die Pionierzeit der<br />

Psychoanalyse unter ihren eigenen<br />

Begrifflichkeiten wie Vatermord, Brudermord<br />

und anderen ödipalen Verwicklungen,<br />

so begegnen wir allenthalben<br />

deren Realisierung in den Bündnissen<br />

und Rivalitäten der beteiligten<br />

Männer untereinander. <strong>Freud</strong>s Beziehungen<br />

zu seinen Schüler-Söhnen<br />

verliefen in der Regel unglücklich, <strong>von</strong><br />

grosser Zuneigung über Konflikte und<br />

Enttäuschungen hin zu schmerzlichen<br />

Brüchen und Sezessionen. Mit Karl<br />

Abraham war das anders, vielleicht weil<br />

<strong>Freud</strong> nie so für ihn entbrannte wie beispielsweise<br />

für C. G. Jung oder Ferenczi.<br />

Der erste Teil des Briefwechsels<br />

dokumentiert die psychoanalytische<br />

Frühgeschichte, die Zeit der grossen<br />

Entdeckungen, eine Zeit auch des rapide<br />

wachsenden, internationalen Interesses<br />

an der neuen Wissenschaft. In dieser<br />

Phase ist Abraham der Lernende und<br />

Empfangende – <strong>Freud</strong> der Lehrer, dessen<br />

Entdeckungen und Hinweise begierig<br />

aufgenommen und teilweise bereits<br />

weiterentwickelt werden auf Abrahams<br />

besonderem Interessengebiet, der Psychiatrie,<br />

vor allem hinsichtlich Melancholie<br />

und manisch-depressiver Erkrankungen.<br />

Mit der spannenden Analyse<br />

<strong>von</strong> Giovanni Segantinis Leben und<br />

Werk führt Abraham das später so<br />

bedeutende Konzept der «frühen Mutter»<br />

in die Psychoanalyse ein. Die Briefe<br />

können auch als eine Dreiecksgeschich-<br />

LeeMage / MaXppp


te zwischen <strong>Freud</strong>, Jung und Abraham<br />

gelesen werden, wobei sich Letzterer –<br />

zu <strong>Freud</strong>s grossem Unmut – in seiner<br />

zukünftigen Rolle als Warner und Wächter<br />

der richtigen Lehre profiliert. <strong>Freud</strong><br />

klagt: «Warum kann ich Sie beide, Jung<br />

und Sie, Ihre Schärfe und seinen<br />

Schwung, nicht zusammenpassen?»<br />

Trost durch den Jüngeren<br />

<strong>Freud</strong>s Wunsch wird sich nicht erfüllen.<br />

1913 zieht Jung mit seinen Anhängern<br />

aus der neugegründeten Internationalen<br />

Psychoanalytischen Vereinigung (IPV)<br />

aus. Statt eines Kronprinzen soll hinfort<br />

ein Geheimes Komitee über die Psychoanalyse<br />

wachen; Abraham, nunmehr <strong>von</strong><br />

<strong>Freud</strong> als Dialogpartner geschätzt, wird<br />

in den inneren Führungszirkel der Psy-<br />

choanalyse berufen. Der Erste Weltkrieg<br />

bringt die Entwicklung der psychoanalytischen<br />

Bewegung zum Erliegen. Psychoanalytiker<br />

kämpfen an beiden Seiten<br />

der Front.<br />

Kriegsbegeisterung und Siegesvorfreude<br />

werden bald abgelöst <strong>von</strong> Sorgen<br />

um Freunde und, im Falle <strong>Freud</strong>s, um<br />

zwei Söhne und den Schwiegersohn.<br />

Abrahams «gleichmässiges Temperament»<br />

und «unzerstörbare Lebensbereitschaft»<br />

bringen dem Älteren ein<br />

wenig Trost, derweil die Psychoanalyse<br />

sich dank der speditiven Heilung <strong>von</strong><br />

Kriegsneurosen akademische Anerkennung<br />

verschafft. Nach Kriegsende entwickelt<br />

sich Berlin unter Abrahams Führung<br />

zum bedeutendsten psychoanalytischen<br />

Zentrum Europas: Das Berliner<br />

Psychoanalytische Institut und eine<br />

psychoanalytische Poliklinik werden gegründet;<br />

der erste systematische Ausbildungsgang<br />

zum Psychoanalytiker wird<br />

entwickelt, der in Grundzügen bis heute<br />

gilt. Abraham wird Präsident der IPV<br />

und weist bedeutende wissenschaftliche<br />

Publikationen auf – eine steile Karriere,<br />

die der frühe Tod beendet.<br />

Die einleitenden Bemerkungen zur<br />

Editionsgeschichte des Briefwechsels<br />

hätten ausführlicher sein können. Es<br />

gibt ein nützliches Personenregister;<br />

Sachregister, eine Zeittafel und Korrespondenzübersicht<br />

hingegen fehlen.<br />

Insgesamt ist die vorliegende Edition<br />

eine bedeutsame Dokumentation. ●<br />

Sabine Richebächer lebt als Psychoanalytikerin<br />

und Autorin in Zürich.<br />

Sigmund <strong>Freud</strong> (mit<br />

Zigarre) mit Sándor<br />

Ferenczi (sitzend,<br />

Mitte) und Karl<br />

Abraham (Zweiter <strong>von</strong><br />

links, stehend) im<br />

Kollegenkreis, 1922.<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17


Sachbuch<br />

Erwerbslosigkeit Je mehr Langzeitarbeitslose,destomehr Fantasie braucht die Gesellschaftzur<br />

Lösung der sozialen Frage. Die Stiftung für Arbeit in St.Gallen zeigt, wie es funktionieren kann<br />

Arbeiten istmehr<br />

alsblosse Beschäftigung<br />

Lynn Blattmann, Daniela Merz:<br />

Sozialfirmen. Plädoyerfür eine<br />

unternehmerische Arbeitsintegration.<br />

Rüffer&Rub,Zürich 2010.176 S., Fr.38.–.<br />

Von Charlotte Jacquemart<br />

Wäre das Buch «Sozialfirmen» lediglich<br />

eine weitere theoretische Abhandlung:<br />

Wir würden es an dieser Stelle<br />

kaum besprechen. Doch es ist glücklicherweise<br />

weit mehr als graue Theorie.<br />

Es ist eine präzise Handlungsanleitung<br />

für alle, die versuchen, Langzeitarbeitslose<br />

in eine Art «zweiten» Arbeitsmarkt<br />

zu integrieren. Zudem beruht<br />

die verständlich geschriebene Anleitung<br />

nicht auf betriebswirtschaftlicher<br />

Theorie aus dem Elfenbeinturm der<br />

Wissenschaft, sondern auf praktischen<br />

Erfahrungen der «Stiftung für Arbeit»<br />

in St.Gallen, die seit 2002 das Konzept<br />

mit viel Erfolg umsetzt. Die Geschäftsführerin<br />

Daniela Merz – Schwiegertochter<br />

<strong>von</strong> Bundesrat Merz – hat das<br />

Buch zusammen mit ihrer Stellvertreterin<br />

Lynn Blattmann denn auch gleich<br />

selbst geschrieben.<br />

Niemand zweifelt daran, dass auch in<br />

der Schweiz neue Modelle zum Umgang<br />

mit der Sockelarbeitslosigkeit nötig<br />

sind. Denn diese steigt auch hierzulande<br />

an. Zwischen drei und vier Prozent der<br />

im Erwerbsalter stehenden Personen<br />

18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

Karin hOFer<br />

sind ausgesteuert; 233484 Personen<br />

lebten 2007 <strong>von</strong> der Sozialhilfe. Zählt<br />

man die Bezüger <strong>von</strong> Invalidenrenten<br />

und Arbeitslosenentschädigungen dazu,<br />

wird deutlich, dass um die zehn Prozent<br />

der Bevölkerung im erwerbsfähigen<br />

Alter dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen<br />

sind. Weil sich selbst reiche<br />

Staaten wie die Schweiz steigende<br />

Sozialkosten kaum mehr leisten können,<br />

dürfte die Idee <strong>von</strong> marktwirtschaftlich<br />

geführten Sozialfirmen in Zukunft an<br />

Bedeutung gewinnen. Heute schon gibt<br />

die Schweiz über 3,2 Mrd. Franken für<br />

Sozialhilfe aus. Nur wenn die Betroffenen<br />

mit eigener Arbeit ein anständiges<br />

Daniela Merz, Chefin<br />

der Stiftung für Arbeit<br />

in St. Gallen.<br />

Einkommen erzielen, können diese Kosten<br />

gesenkt werden.<br />

Das Sozialunternehmen tritt an die<br />

heute nur ungenügend funktionierende<br />

Schnittstelle zwischen Staat und Privaten:<br />

Indem man Menschen, die heute<br />

vom «ersten» Arbeitsmarkt ausgeschlossen<br />

sind, eine sinnvolle und<br />

bezahlte Tätigkeit im «zweiten» Arbeitsmarkt<br />

anbietet, gelingt es nicht nur, den<br />

Betroffenen wieder einen Lebensinhalt<br />

zu geben, sondern man verbessert<br />

zusätzlich die Gesamtleistung einer<br />

Gesellschaft. Ziel ist, dass möglichst<br />

viele, die sich erfolgreich in eine Sozialfirma<br />

integrieren können, den Sprung<br />

zurück in den normalen Arbeitsmarkt<br />

finden. Das Beispiel St.Gallen zeigt, dass<br />

es möglich ist, Firmen zu finden, die<br />

Aufträge an Sozialfirmen vergeben. Und<br />

zwar nachhaltig: Waren beim Start im<br />

Jahr 2002 weit unter 100 Mitarbeiter mit<br />

dabei, sind es heute über 700 in St. Gallen,<br />

Arbon, Zürich und Winterthur.<br />

Vor allem im Bereich der industriellen<br />

oder industrienahen Arbeiten orten<br />

die Autorinnen ein grosses Potenzial für<br />

Aufträge an Sozialfirmen. Doch auch für<br />

Sozialfirmen gilt: Niemand vergibt<br />

Arbeitsaufträge aus sozialen Gründen –<br />

Qualität und Leistung der Arbeit müssen<br />

stimmen. Gerade darauf dürfte der<br />

Erfolg des St. Galler Modells beruhen.<br />

Bleibt zu hoffen, dass das Beispiel weiter<br />

Schule macht. ●<br />

Schweiz Nunbefasst sich auch der Wissenschaftsbetriebmit 1968 –eine Nachzügler-Publikation<br />

Das«bewegte» Jahrzehntinder Analyse<br />

Janick Marina Schaufelbuehl (Hrsg.):<br />

1968–1978. Ein bewegtes Jahrzehnt in<br />

der Schweiz. UnterMitarbeit <strong>von</strong>Nuno<br />

Pereiraund Renate Schär.<br />

Chronos, Zürich 2009. 333 Seiten, Fr.48.–.<br />

Von Urs Rauber<br />

Ein halbes Dutzend Bücher sind vor<br />

knapp zwei Jahren zum 40. Jahrestag <strong>von</strong><br />

1968 in der Schweiz erschienen, vornehmlich<br />

aus der Feder <strong>von</strong> Altachtundsechzigern.<br />

Inzwischen ist das<br />

Geschichtskapitel definitiv zum Forschungsgebiet<br />

der Wissenschaft geworden.<br />

Ein vom Nationalfonds unterstützter<br />

neuer Sammelband vereinigt 19<br />

Beiträge, die vor allem auf Lizentiatsarbeiten<br />

und Dissertationen der letzten<br />

Jahre fussen. Ging es den schreibenden<br />

Veteranen noch darum, sich die Deutungshoheit<br />

über ihre Geschichte nicht<br />

entreissen zu lassen, gehen jüngere Historiker<br />

nun unbefangener ans Werk.<br />

Eingeleitet wird der Reader zum<br />

«bewegten Jahrzehnt» durch einen Aufsatz<br />

der Berner Geschichtsordinaria<br />

Brigitte Studer und der Lausanner Historikerin<br />

Janick Marina Schaufelbuehl.<br />

Ihre Behauptung, in der Schweiz seien<br />

«die biografischen und subjektiven Ebenen»<br />

der 68er Bewegung noch «kaum<br />

erschlossen», überzeugt indes nicht.<br />

Verwiesen sei etwa auf die Biografiensammlung<br />

<strong>von</strong> Heinz Nigg «Wir sind<br />

wenige, aber wir sind alle» (Limmat,<br />

Zürich 2008) und andere Publikationen.<br />

Den Abschluss des Bandes bildet ein<br />

länglicher Syntheseversuch des Wirtschafts-<br />

und Sozialhistorikers Jean<br />

Batou, der an der Uni Lausanne Oral-<br />

History-Seminare zum Thema durchgeführt<br />

hat.<br />

Die übrigen, kürzeren Beiträge kreisen<br />

um vier Themenkomplexe: den globalen<br />

Kontext der schweizerischen 68er<br />

Bewegung, die Dritte-Welt-Solidarität<br />

(«Tiermondismus»), die Geschlechterbeziehungen<br />

sowie Äusserungen der<br />

Alternativkultur. Darin finden sich etliche<br />

kritische Töne – zum Revolutionsromantizismus<br />

etwa oder zur Fehleinschätzung<br />

der Befreiungsbewegungen<br />

durch die 68er Aktivisten.<br />

Leider steht jeder Aufsatz für sich, so<br />

dass kein Buch aus einem Guss entstanden<br />

ist. Zu bedauern ist ferner, dass<br />

mehrere Beiträge im Jargon universitärer<br />

Seminararbeiten geschrieben sind<br />

und kaum zu neuen Erkenntnissen vorstossen.<br />

Wenig zu befriedigen vermag<br />

auch das Konzept der Zweisprachigkeit:<br />

Während die Kapiteleinleitungen in<br />

Deutsch und Französisch publiziert<br />

werden, vermisst man die Übersetzung<br />

oder zumindest eine Zusammenfassung<br />

in der jeweils anderen Sprache beim<br />

Einleitungs- und Schlussbeitrag. Da<br />

auch eine zentrale Bibliografie, ein Sachund<br />

Personenregister sowie Angaben zu<br />

den weitgehend unbekannten Autorinnen<br />

und Autoren fehlen, drängt sich die<br />

Bewertung auf: trotz einzelnen Pluspunkten<br />

eher misslungen. ●


JürgSchoch (Hrsg.): In den<br />

Hinterzimmern des Kalten Krieges.<br />

Die Schweiz und ihr Umgang mit<br />

prominenten Ausländern 1945–1960.<br />

Orell Füssli, Zürich 2009. 286 S., Fr.48.–.<br />

Von Peter Studer<br />

Weshalb gerade die Zeitspanne <strong>von</strong> 1945<br />

bis 1960? Herausgeber Jürg Schoch und<br />

seine vier Mitautoren – allesamt pensionierte<br />

«Tages-Anzeiger»-Redaktoren<br />

– beleuchten mit Bedacht die Zwischenzeit<br />

nach dem Ende der nationalsozialistischen<br />

Bedrohung bis fast zum Höhepunkt<br />

des Kalten Krieges. Es fiel der<br />

Schweizer Regierung damals «nicht<br />

leicht, überhaupt ihre Rolle zu finden:<br />

Das Land stand ziemlich verloren zwischen<br />

den Blöcken.» Obwohl neutral,<br />

lehnte es sich bald an den Westen an, wo<br />

es aber auch auf Misstrauen stiess.<br />

Aus der Reise der fünf Autoren in<br />

Bibliotheken und Archive – jeweils vorbildlich<br />

dokumentiert – ist ein Dutzend<br />

Momentaufnahmen entstanden: <strong>von</strong><br />

Menschen, die sich noch hier befanden,<br />

wie dem kommunistischen Stardirigenten<br />

Hermann Scherchen (Winterthur)<br />

oder dem Altnazi und Germanistikprofessor<br />

Helmut de Boor (Bern). Von eher<br />

unerwünschten Durchreisenden wie<br />

den kommunistischen Paradeschriftstellern<br />

Ilja Ehrenburg (UdSSR) und<br />

Stephan Hermlin (DDR).<br />

Mitunter stellt sich ein beklemmendes<br />

«Déjà-vu» ein. So bei Schochs Bericht<br />

über «Die Neutralität und die Macht des<br />

Faktischen». Er dreht sich um die Waffenexportgeschäfte<br />

<strong>von</strong> Emil Georg<br />

Bührle. Der Bundesrat war sich der<br />

Spannung zwischen Neutralitätsrecht<br />

und Neutralitätspolitik bewusst. Um<br />

Neutralität, Geld und Arbeitsplätze<br />

drehten sich zahlreiche Bundesratssitzungen<br />

zu Beginn des Koreakriegs (1950).<br />

Die Protokolle sind heute einsehbar.<br />

Bührle, der mit seiner Waffenindustrie<br />

in Oerlikon nach Kriegsende eine Durst-<br />

1<br />

Sommerakademie Centre Dürrenmatt Neuchâtel Hg. vom Schweizerischen Literaturarchiv<br />

Kalter Krieg Wiedie Schweizer Behörden nach 1945 mit prominenten Ausländern umgingen<br />

ZündstoffimBundesrat<br />

Herausgegeben <strong>von</strong><br />

Peter Gasser, Elio Pellin<br />

und Ulrich Weber<br />

»Es gibt<br />

kein größeres<br />

Verbrechen<br />

als die<br />

Unschuld«<br />

Zu den Kriminalromanen <strong>von</strong><br />

Glauser, Dürrenmatt,<br />

Highsmith und Schneider<br />

WALLSTEIN<br />

strecke hinter sich hatte, wurde <strong>von</strong> der<br />

US-Luftwaffe um Lieferungen <strong>von</strong><br />

240000 Luft-Boden-Raketen bestürmt.<br />

Ausfuhr bewilligen? Einige Bundesräte<br />

reagierten skeptisch, andere hingegen<br />

warnten vor der «Behinderung Bührles»<br />

und Vergeltungsmassnahmen der USA.<br />

Bührle drohte, den Betrieb vollends ins<br />

Ausland zu verlegen. Max Weber (Finanzen,<br />

SP) schwankte: «Grundsätzlich<br />

sollte die Schweiz kein Kriegsmaterial<br />

ausführen, aber man kann diesen Grundsatz<br />

nicht durchführen.» 1953 bewilligte<br />

der Bundesrat der Firma Bührle schliesslich<br />

den ganzen Auftrag. Als Gegenleistung<br />

versprach Bührle, «dieses Jahr<br />

keine nennenswerten Arbeiterentlassungen<br />

durchzuführen». Immer wieder<br />

ähnliche Dilemmata und dieselben<br />

Argumente, auch vor der Abstimmung<br />

über die Initiative gegen den Waffenexport<br />

2009.<br />

Sind sich Schochs Autoren, nämlich<br />

Silvia Höner, Christoph Kuhn, Emanuel<br />

stuDEr, bärlaCh,<br />

hunkElEr &Co.<br />

kriminalromanE<br />

untEr DEr lupE<br />

Peter Gasser,Elio Pellin,<br />

Ulrich Weber (Hg.)<br />

»Es gibt kein grösseres<br />

verbrechen als die unschuld«<br />

Zu den Kriminalromanen <strong>von</strong><br />

Glauser,Dürrenmatt, Highsmith<br />

und Schneider<br />

2009. 144 S. 6Abb.Br. CHF 23<br />

Paul Altheer<br />

Die 13 Katastrophen<br />

Detektivroman<br />

10CEXKuw2AMAwFwIliPdvYIbjMp4oQAsT-oyDRUFx3c4YRPrXvdz-DgcUSirtaWDGS7MFFKJsHWETA2FhVUczX-HeqLV3AAB4wHW28HHd_Xl0AAAA=<br />

10CAsNsjY0MDAx1TWwNDMzNgUAIGGibA8AAAA=<br />

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen <strong>von</strong><br />

Paul Ott, Kurt Stadelmann und Dominik Müller<br />

Seine Exporte sorgten<br />

für hitzige Diskussion<br />

im Bundesrat: Emil<br />

Bührle (rechts) an<br />

einer Waffenschau in<br />

Walenstadt, 1950.<br />

La Roche und Konrad Rudolf Lienert,<br />

bei aller Sympathie für die oft kleinlich<br />

ausspionierten Progressiven der damals<br />

auch realen Bedrohungsangst bewusst?<br />

Misstrauen sie nicht nur dem grossdeutschen<br />

Patriotismus, sondern auch der<br />

devoten Stalin-Begeisterung oder der<br />

Friedensnaivität, die einige der streng<br />

beobachteten Besucher ausstrahlten? Es<br />

gelingt – ausser beim allzu blass bleibenden<br />

Nobelpreisträger Frédéric Joliot-<br />

Curie – ganz gut. Niemand wird zum<br />

Helden aufmontiert. Dirigent Scherchen<br />

war menschlich ein Ekel, Büchersammler<br />

Pinkus ritt gewandt auf allen kommunistischen<br />

Wellen.<br />

Was den Autoren besonders hoch<br />

anzurechnen ist: Die präzise Sprache<br />

und der Verzicht auf einen besserwisserischen<br />

Modus der Spätgeborenen. ●<br />

Peter Studer war Chefredaktor des<br />

«Tages-Anzeigers», danach des<br />

Schweizer Fernsehens. Heute doziert der<br />

Rechtsanwalt Medienrecht und -ethik.<br />

Ein DEtEktivroman<br />

nEu EntDECkt<br />

ironisCh unD<br />

spritzig<br />

Paul Altheer<br />

Die 13 katastrophen<br />

Ein Detektivroman. Nachdruck<br />

der Erstausgabe <strong>von</strong> 1928.<br />

2010. 126 S. Geb.CHF 34<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19<br />

phOtOpress<br />

Chronos<br />

seit 25 Jahren<br />

Bücher<br />

zur Zeit<br />

Chronos Verlag<br />

Eisengasse 9<br />

8008 Zürich<br />

www.chronos-verlag.ch<br />

info@chronos-verlag.ch


Sachbuch<br />

Suchtpolitik Geschichteder Drogenszene am Zürcher Platzspitz –aus medizinischer Sicht<br />

Sieben Millionen Spritzen<br />

PeterJ.Grob: Zürcher «Needle-Park».<br />

Ein Stück Drogengeschichteund -politik<br />

1968–2008. Chronos, Zürich 2009.<br />

160 Seiten, Fr.32.–.<br />

Von Willi Wottreng<br />

Das Platzspitzareal beim Zürcher Hauptbahnhof<br />

war zwischen 1988 und 1992<br />

die grösste offene Drogenszene Europas.<br />

Hier wurde konsumiert, gedealt, hier<br />

wurde gelitten und gestorben.<br />

Der Autor Peter J. Grob, emeritierter<br />

Professor für Medizin und vielfach tätig<br />

gewesen in der Bekämpfung <strong>von</strong> Hepatitis<br />

und Aids, beschreibt, wie die «Drogenepidemie»<br />

eingedämmt und «eine<br />

tragfähige Lösung im Umgang mit der<br />

Sucht» gefunden wurde, gelang es doch,<br />

das Thema der Parteipolitik wegzunehmen,<br />

so dass Expertinnen und Experten<br />

verschiedener Fachrichtungen tätig<br />

werden konnten. Diese gaben den Drogenabhängigen<br />

saubere Spritzen, Methadon<br />

und – wenn Betroffene schwerstsüchtig<br />

waren – Heroin ab. Eine Lösung,<br />

die wenig zuvor manchen als wahnwitzig<br />

erschienen wäre.<br />

Verbot sauberer Spritzen<br />

Die Hippiebewegung hatte Haschisch<br />

und Marihuana zu konsumieren begonnen.<br />

Später kamen LSD hinzu, Heroin<br />

und Kokain. Seit 1971 war Drogenbesitz<br />

und Drogenkonsum zwar für strafbar<br />

erklärt, doch der Drogenkonsum stieg.<br />

Mitte der achtziger Jahre schätzte man<br />

die Zahl der Drogenkonsumierenden<br />

landesweit auf 10 000. Jährlich gab es<br />

über 100 Drogentote. Die offizielle Politik<br />

wollte jeden Konsum illegaler Drogen<br />

unterbinden, Konsumierende wurden<br />

vertrieben, wo man sie antraf. Um<br />

die Szene auszutrocknen, verbot der<br />

Zürcher Kantonsarzt, Fixern saubere<br />

20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

Szenen aus dem<br />

«Needle-Park» beim<br />

Zürcher Platzspitz,<br />

1988 bis 1992.<br />

Spritzen abzugeben, woran sich viele<br />

Ärztinnen und Ärzte nicht halten wollten.<br />

Zeigte sich doch, dass die Mehrfachbenutzung<br />

<strong>von</strong> Nadeln mithalf, das Aids-<br />

Virus HIV zu verbreiten.<br />

Als 1986 in Zürich die Vertreibungsstrategie<br />

aufgegeben wurde, verlagerte<br />

sich die offene Drogenszene ins Platzspitzareal,<br />

wo sich tagsüber Hunderte<br />

trafen und manche gar in Verschlägen<br />

Tauchen Reise in die paradiesischen Tiefen der Meere<br />

Bedrohte Schönheiten unterWasser<br />

Julia Whitty:Riff. Begegnungen mit<br />

verborgenen Welten zwischen Land und<br />

Wasser.Mare, Hamburg2009.<br />

334 Seiten, Fr.37.90.<br />

Von Georg Sütterlin<br />

Wenn Julia Whitty die Korallenriffe als<br />

«Regenwälder des Meeres» bezeichnet,<br />

dann deshalb, weil dieses aquatische<br />

Ökosystem eine vergleichbar hohe Biodiversität<br />

aufweist und ebenfalls bedroht<br />

ist: durch Klimaerwärmung und direkte<br />

menschliche Einflussnahme wie Überfischung,<br />

Verschmutzung und Verbauung<br />

der Küsten. Ihr Buch «Riff», eine<br />

Art populärwissenschaftliche Reisereportage,<br />

ist aber nicht in erster Linie<br />

eine Klage über die vielfältigen Gefah-<br />

ren, die den Korallenatollen weltweit<br />

drohen, sondern eine Huldigung an ihre<br />

paradiesische Schönheit. Hier liegt denn<br />

auch die eigentliche Stärke der Autorin:<br />

solide Sachkenntnis kombiniert mit<br />

einem Auge für das Ästhetische.<br />

An drei Schauplätzen demonstriert<br />

die 52-jährige Dokumentarfilmerin, Journalistin<br />

und Schriftstellerin verschiedene<br />

Aspekte der korallenen Unterwasserwelt:<br />

auf Rangiroa und Moorea in<br />

Französisch-Polynesien sowie auf Funafuti<br />

im Ministaat Tuvalu. Dabei gelingt<br />

es der Autorin, auch komplexe Sachverhalte<br />

so zu schildern, dass der interessierte<br />

Laie zu folgen vermag.<br />

Besonders faszinierend sind neue<br />

ökologische Erkenntnisse, die zeigen,<br />

wie weitreichend sich Störungen des<br />

biologischen Gleichgewichts auswirken<br />

FOtOs: gertrud vOgLer<br />

lebten. Mitte 1988 wurde das Projekt<br />

Zipp-Aids entwickelt, dessen Kernidee<br />

war, Neuinfektionen zu verhindern<br />

durch die Abgabe <strong>von</strong> sterilem Injektionsmaterial<br />

sowie durch medizinische<br />

Hilfeleistung. Dutzende Helferinnen<br />

und Helfer standen im Einsatz, in den<br />

drei Jahren des «Needle-Parks» wurden<br />

über sieben Millionen Spritzen und<br />

Nadelsets abgegeben.<br />

Trockenes, präzises Fachbuch<br />

Allmählich konnten die Infektionen<br />

gestoppt werden, und die Anzahl Todesfälle<br />

begann zu sinken. Der Platzspitz<br />

wurde dann abrupt geschlossen. Doch<br />

gaben die Erfahrungen, wie der Buchautor<br />

schreibt, der schweizerischen Drogenpolitik<br />

«einen wesentlichen Anstoss<br />

zu einer Kehrtwende». Von der Repression<br />

zu einer Politik, die aus vier Säulen<br />

besteht: Prävention, Therapie, Überlebenshilfe<br />

und Repression oder Kontrolle.<br />

Eine Politik, die 2008 mit der erneuten<br />

Revision des Betäubungsmittelgesetzes<br />

<strong>von</strong> der schweizerischen Stimmbevölkerung<br />

gutgeheissen wurde und europaweit<br />

Beachtung fand.<br />

Das Buch ist keine spannende Schilderung<br />

der dramatischen Geschehnisse<br />

auf dem Platzspitz, aber ein verständlich<br />

geschriebenes Fachbuch, streckenweise<br />

in seiner trockenen Art etwas mühsam<br />

zu lesen, in einzelnen Kapiteln wirkt<br />

es wie ein Rechenschaftsbericht der<br />

Projektverantwortlichen <strong>von</strong> Zipp-Aids.<br />

Das Verdienst liegt aber in der präzisen<br />

Nennung der Fakten und in der medizinischen<br />

Fachkenntnis, mit der sie<br />

betrachtet werden.<br />

Die Fotos <strong>von</strong> Gertrud Vogler gleichen<br />

die Schwäche aus: Sie rücken die<br />

Menschen in den Vordergrund. Es sind<br />

Zeitdokumente ersten Ranges, geprägt<br />

<strong>von</strong> Vertrautheit und menschlichem<br />

Respekt zugleich. ●<br />

können. Überraschend (und etwas zeitgeistig)<br />

mutet hingegen der Mix an, mit<br />

dem die Autorin Forschungsergebnisse<br />

und östliche Spiritualität verquickt. Eine<br />

solche Synthese strebte Irenäus Eibl-<br />

Eibesfeldt nicht an, als er «Im Reich der<br />

tausend Atolle» (1964) schrieb. Doch<br />

auch in der nüchternen Sicht dieses<br />

österreichischen Verhaltensforschers<br />

wird die beglückende Erfahrung spürbar,<br />

welche die leuchtende, farbenprächtige<br />

Welt der Riffe und Lagunen allen<br />

bietet, die den Blick durch eine Tauchermaske<br />

unter die Wasseroberfläche richten.<br />

Wir wollen aber nicht kritteln:<br />

«Riff» ist ein lehrreiches und immer<br />

wieder überraschendes Vademecum für<br />

das Tauchen in den Tropen – oder ein<br />

vertröstender und bewusstseinserweiternder<br />

Ersatz dafür. ●


Musik Zwei unterschiedliche Monografien widmen sich den beiden Rebellen<br />

der modernen Oper: Nikolaus Harnoncourt und Hans Werner Henze<br />

Grossmeisterder Klangwelt<br />

Johanna Fürstauer,Anna Mika: Oper<br />

sinnlich. Die Opernwelten des Nikolaus<br />

Harnoncourt. Residenz, St.Pölten 2009.<br />

400Seiten, Fr.49.50.<br />

Jens Rosteck: Hans Werner Henze.<br />

Rosen und Revolutionen. Propyläen,<br />

Berlin 2009. 576 Seiten, Fr.47.50.<br />

Von Corinne Holtz<br />

Sie gelten als Grossmeister und schreiben<br />

seit einem halben Jahrhundert<br />

Musik- und Zeitgeschichte: Nikolaus<br />

Harnoncourt, Dirigent und Musikforscher<br />

aus Graz, ist die zentrale Figur der<br />

Erneuerung der Aufführungspraxis nach<br />

1950; Hans Werner Henze, Komponist<br />

und Essayist aus Gütersloh, ist als Poet<br />

allein unter den Avantgardisten und<br />

steht seit 1957 unter dem Generalverdacht<br />

des Schöntöners. Die beiden<br />

trennt mehr als das, was sie generationsmässig<br />

verbindet, und doch eröffnen<br />

sich beim Lesen der zwei völlig unterschiedlich<br />

angelegten Bücher Gemeinsamkeiten:<br />

Beide blicken auf ein rebellisch<br />

verteidigtes Lebenswerk zurück,<br />

das polarisiert, und beide sind Publikumsmagneten,<br />

die nach wie vor für<br />

Gesprächsstoff sorgen.<br />

Die Oper: neu interpretiert<br />

Die Publizistinnen Johanna Fürstauer<br />

und Anna Mika greifen ein Thema kaum<br />

aufgearbeiteterInterpretationsgeschichte<br />

auf, indem sie Harnoncourts Erneuerung<br />

der Operninterpretation zum<br />

Thema machen. Dabei lassen sie in<br />

«Oper sinnlich» vor allem Dritte sprechen:<br />

Entlang den <strong>von</strong> Harnoncourt aufgeführten<br />

Opern <strong>von</strong> Monteverdi über<br />

Mozart bis Gershwin zitieren die Autorinnen<br />

Musiker, Sängerinnen, Intendanten<br />

und Journalisten, verzichten<br />

auf eigene Einordnungen, vermitteln<br />

aber musikhistorische Hintergründe der<br />

Werke. Der Monteverdi-Zyklus am<br />

Opernhaus Zürich etwa wird <strong>von</strong> aufgeschlossenen<br />

Musikern kommentiert, die<br />

dabei waren, als andere noch den Misserfolg<br />

fürchteten. Der Fagottist Erich<br />

Zimmermann berichtet <strong>von</strong> den Berührungsängsten<br />

der Orchestermusiker und<br />

erinnert sich an die Rekrutierung für<br />

Harnoncourts Pionierprojekt in der Zeit<br />

vor 1975. Wer ist bereit, ein sogenanntes<br />

Originalinstrument zur Hand zu nehmen<br />

und sich spieltechnisch damit vertraut<br />

zu machen? «Mein Name war ein<br />

halbes Jahr lang der einzige auf der Liste.<br />

Kollegen haben mich gefragt: Willst du<br />

wirklich Teil eines Misserfolgs werden?<br />

Stattdessen wurde ich Teil eines Riesenerfolgs!»<br />

Harnoncourt selbst, der mit «Ulisse»<br />

und «Poppea» <strong>von</strong> 2002 und 2005 ein<br />

weiteres Mal auf Monteverdi zurückgekommen<br />

ist, würdigt seine Mitstreiter<br />

<strong>von</strong> damals und spricht <strong>von</strong> den hochmotivierten<br />

«Freiwilligen», die ihre<br />

Nikolaus Harnoncourt<br />

dirigiert in Wien das<br />

Neujahrskonzert<br />

2001 der Wiener<br />

Philharmoniker.<br />

«Freizeit geopfert» haben. Zwischen<br />

den Zeilen erfährt die Leserin, dass das<br />

spieltechnische Niveau <strong>von</strong> damals aus<br />

nachvollziehbaren Gründen schlechter<br />

war als heute, was Harnoncourt jedoch<br />

als «unfair» zu sagen betrachtet. Diese<br />

Darstellungsweise durchzieht das Buch,<br />

in dem verschiedene Textsorten (Essay,<br />

Reportage, Quellentext) aneinandergereiht<br />

sind – das ist einerseits abwechslungsreich,<br />

anderseits vermisst man eine<br />

Handschrift und kritische Fragestellungen.<br />

Dass Harnoncourt nur ausserhalb<br />

etablierter Institutionen sich selbst bleiben<br />

konnte und was hinter der erbitterten<br />

Gegnerschaft <strong>von</strong> Harnoncourts<br />

Ästhetik steckt – solche Beobachtungen<br />

sucht man vergebens. Hingegen werden<br />

Seitenhiebe auf das «Regietheater» ausgeteilt,<br />

dessen ungenannte Regisseure<br />

sich angeblich über die Musik erheben.<br />

Spannend wird es immer dann, wenn<br />

Harnoncourt selbst spricht – etwa im<br />

Plädoyer für Mozarts 1980 noch unterschätzten<br />

«Idomeneo» – oder schreibt.<br />

Ganz anders geht der Musik- und<br />

Literaturwissenschafter Jens Rosteck<br />

vor, der die erste grosse Biografie über<br />

Hans Werner Henze verfasst hat. Er feiert<br />

den zu «Jähzorn» und «ausgewachsenen<br />

Tobsuchtsanfällen» neigenden<br />

Knaben Hans als die «massstabsetzende»<br />

linke Persönlichkeit der Bundesrepublik<br />

Deutschland, der als «Tonschöpfer»<br />

mindestens «ebenso bedeutend»<br />

sei «wie seine inzwischen verstorbenen<br />

Generationsgefährten Karlheinz Stockhausen<br />

und Mauricio Kagel». Rosteck<br />

spricht vom ewigen «Rebell der zweiten<br />

Jahrhunderthälfte» und spart nicht mit<br />

Lob für den Aussenseiter, der sich künstlerisch<br />

und persönlich stets exponiert<br />

und Ausgrenzung nicht allein als bekennender<br />

Homosexueller erfahren hat. Die<br />

Wurzeln dieser Verletzung vermutet die<br />

Leserin im Verrat durch den Vater, der<br />

sich vom linksliberalen Volksschullehrer<br />

zum überzeugten Nationalsozialisten<br />

wandelte.<br />

Ins Gespräch gebracht<br />

Die Schilderung dieser traumatisierenden<br />

Kindheit gehört zu den stärksten<br />

Passagen der Biografie, die sich stellenweise<br />

wie ein Thriller liest und vom Erzähltalent<br />

des sprachmächtigen Autors<br />

zeugt. Die Musik Henzes allerdings<br />

kommt zu kurz, deren Darstellung<br />

beschränkt sich weitgehend auf Werktitel<br />

und auf Skandale wie jenen an den<br />

Donaueschinger Musiktagen 1957, als<br />

Boulez, Nono und Stockhausen den Saal<br />

verlassen, während Henzes «Nachtstücke<br />

und Arien» auf Gedichte <strong>von</strong> Ingeborg<br />

Bachmann erklingen. Der Herausforderung,<br />

die musikalische Ästhetik<br />

Henzes und deren Position in der<br />

Moderne nachvollziehbar zu beschreiben,<br />

hat sich der Autor nicht gestellt.<br />

Hingegen hat er die Fülle <strong>von</strong> Quellenmaterial<br />

zu nutzen gewusst und akribische<br />

Genauigkeit bei dessen Auswertung<br />

walten lassen. Wirklich Neues<br />

erfährt man über Henze kaum, und die<br />

Empathie des Autors schlägt gelegentlich<br />

ins Pathos um, aber: Rosteck dürfte<br />

es zweifellos gelingen, Henze ins Gespräch<br />

zu bringen. ●<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21<br />

MarcO BOrggreve / LaiF


Sachbuch<br />

Doppelbiografie Die Grimms: zwei ungleiche<br />

Brüder –hochgeachtet und gleichzeitig angefeindet<br />

DieMärchensammler<br />

und<br />

Sprachbaumeister<br />

SteffenMartus: Die Brüder Grimm.<br />

EineBiographie. Rowohlt, Berlin 2009.<br />

608 Seiten, Fr.46.70.<br />

Von <strong>Andreas</strong> Tobler<br />

Wer kennt sie nicht, die Brüder Wilhelm<br />

und Jacob Grimm, die nicht nur Märchen-<br />

und Sagensammler, sondern auch<br />

Gründerväter der Germanistik und Pioniere<br />

der Lexikografie waren? Nun porträtiert<br />

der Literaturwissenschafter<br />

Steffen Martus die Grimms in einer<br />

grossen Biografie als zwei ungleiche<br />

Brüder, die sich schon früh darauf verständigten,<br />

dass sie sich «einmal nie<br />

trennen» werden und – so Martus – das<br />

«schweigende Miteinander am Schreibtisch»<br />

für sie die einzig wahre Lebensund<br />

Arbeitsform sei.<br />

Darüber hinaus zeigt uns Martus, wie<br />

die Brüder sich mit ihrer enormen Leistungsbereitschaft<br />

und ihrer Flexibilität<br />

gegen zahlreiche Widerstände durchsetzen<br />

und ihrer Märchensammlung, die<br />

wegen ihres wissenschaftlichen Apparats<br />

und ihres Umfangs zunächst ein<br />

Verkaufsflop war, mit einer Auswahl<br />

zum Durchbruch verhelfen konnten.<br />

Mit ihrer Radikalität, ihrer Sammelwut<br />

und ihrer sprichwörtlich gewordenen<br />

«Andacht zum Unbedeutenden»<br />

stiessen die Grimms, die uns Martus als<br />

«moderne Traditionalisten» vorstellt,<br />

aber nur zu oft bei ihren Zeitgenossen<br />

auf Unverständnis, so zum Beispiel bei<br />

Friedrich Schlegel, der in den Brüdern<br />

zwei «sehr rohe Teppen» sah.<br />

Pakt mit dem Teufel<br />

Für ihre Grossprojekte – die «Kinderund<br />

Hausmärchen», das Wörterbuch<br />

und Jacobs «Deutsche Grammatik» –<br />

ernteten die Brüder aber auch Lob, so<br />

zum Beispiel <strong>von</strong> Heinrich Heine: Mit<br />

seiner Grammatik habe Jacob für die<br />

Sprachwissenschaft mehr geleistet als<br />

die «ganze französische Akademie seit<br />

Richelieu», meinte Heine, der sich vor<br />

den unschätzbaren Verdiensten der Brüder<br />

verneigte und Jacobs «kolossales<br />

Werk» mit dem unvollendeten Kölner<br />

Dom verglich, <strong>von</strong> dem man einige Jahre<br />

zuvor die ursprünglichen Pläne gefunden<br />

hatte und den man nun fertigstellte. Heines<br />

Hochachtung vor der Leistung des<br />

älteren Grimmbruders war derart gross,<br />

dass er vermutete, Jacob habe für seine<br />

Grammatik einen Pakt mit dem Teufel<br />

geschlossen, «damit er ihm die Materialien<br />

lieferte und ihm als Handlanger<br />

diente bei diesem ungeheuren Sprachbauwerk»,<br />

denn «um diese Quadern <strong>von</strong><br />

22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

Gelehrsamkeit herbeizuschleppen,<br />

um aus diesen<br />

hunderttausend Zitaten<br />

einen Mörtel zu<br />

stampfen, dazu gehört mehr<br />

als ein Menschenleben und<br />

mehr als Menschengeduld».<br />

Für kein anderes<br />

Projekt sind Heines<br />

Worte so zutreffend<br />

wie für<br />

das «DeutscheWörterbuch»,<br />

mit<br />

dem die Brüder Grimm<br />

im letzten VierteljahrhundertihresLebensbeschäftigt<br />

waren. In diesem Grossprojekt<br />

zeige sich die Modernität<br />

der Brüder, die mit<br />

zahlreichen Belegen aus der<br />

Literatur den Benutzern ihres<br />

Wörterbuches vor<br />

Augen führten, wie<br />

stark «der Gebrauch<br />

die Bedeutung der<br />

Wörter bestimmt».<br />

Angetrieben <strong>von</strong><br />

ihrer Sammelwut<br />

und ihrem<br />

pädagogischphilologischen<br />

Eifer<br />

verfolgten<br />

die Grimms<br />

damit aber<br />

auch das Ziel,<br />

der Einigung<br />

Deutschlands zuzuarbeiten,<br />

indem sie mit<br />

ihrem Nachschlagewerk die<br />

«Einheit der Vielfalt und<br />

die Vielfältigkeit der Einheit»<br />

(Martus) der deutschen<br />

Sprache deutlich<br />

machten.<br />

Dazu wäre anzumerken,<br />

dass die<br />

Grimms in ihrem<br />

Wörterbuch<br />

selbstverständ-<br />

lich auch Belege<br />

aus der Schweiz, so<br />

zum Beispiel aus den<br />

Werken der Zürcher<br />

Aufklärer Bodmer und Breitinger,<br />

berücksichtigten und darüber hinaus<br />

«<strong>von</strong> den Schweizerbergen bis zu der<br />

Ostsee, <strong>von</strong> dem Rhein bis zur Oder»<br />

grosse Unterstützung <strong>von</strong> Zuträgern<br />

fanden.<br />

Bei aller Hochachtung, die Martus der<br />

Arbeit der Grimms entgegenbringt, verschweigt<br />

er nicht ihre Tendenz zur Ver-<br />

«Die Bremer Stadtmusikanten», ein<br />

Märchen der Gebrüder Grimm.<br />

schrobenheit. Jacob hoffte zum<br />

Beispiel allen Ernstes, das Wörterbuch<br />

werde wie die Märchen<br />

eines Tages «zum Hausbedarf»<br />

gehören. Warum, fragt Jacob, sollte<br />

der Vater abends vor dem<br />

Zubettgehen mit seinem Sohn<br />

nicht noch ein paar Wörter durchgehen?<br />

Wer nun sein Kind zum Wörterdrill<br />

herbeizitieren will, sei<br />

gewarnt: Die Grimms hatten ein<br />

grosses Interesse für die «keusche<br />

Derbheit» der deutschen Sprache<br />

und so versammelten sie im ersten<br />

Band ihres Wörterbuches nicht<br />

weniger als vierzig Bildungen mit<br />

dem Wort «Arsch»,<br />

die sie – <strong>von</strong> der «Arschhure»<br />

bis hin zum<br />

«Arschwolfreiter» – mit<br />

Erläuterungen und Belegen<br />

versahen.<br />

Dank den<br />

Grimmschen<br />

Bemühungen<br />

wissen wir, dass<br />

Luther in seiner Bibelübersetzung<br />

noch vom «ars»<br />

und den «ersen» schrieb, dass<br />

durch die Lautverschiebung das<br />

«rohe Wort roher und breiter»<br />

wurde und Goethe diesen<br />

Sprachwandel in einem nachgelassenen<br />

Gedicht<br />

zum Thema machte:<br />

«Ares wird der Kriegesgott<br />

genannt, Ars heisst die Kunst<br />

und Arsch ist auch bekannt.»<br />

Das Grimmsche Wörterbuch<br />

blieb ein lange unvollendetes<br />

Projekt: Als Wilhelm im<br />

Dezember 1859 starb, hatte er<br />

gerade den Buchstaben D<br />

abgeschlossen. Sein Bruder<br />

Jacob, der ihm vier Jahre<br />

später nachfolgen und sich<br />

noch bis zum Eintrag<br />

«Frucht» vorarbeiten<br />

sollte, hatte im Zusammenhang<br />

mit einem<br />

anderen Projekt die<br />

Hoffnung gehegt,<br />

«dass die folgenden<br />

nicht neben mich<br />

bauen, sondern auf<br />

mich bauen werden». Was das Wörterbuch<br />

betrifft, ging diese Hoffnung in<br />

Erfüllung: 1961 und damit mehr als 120<br />

Jahre später lag es erstmals abgeschlossen<br />

vor. Mit der seither begonnenen<br />

Neubearbeitung ist das <strong>von</strong> den Brüdern<br />

Grimm initiierte Projekt noch<br />

heute das bedeutendste historische<br />

Wörterbuch deutscher Sprache. ●<br />

saMMLung M. suter


BiLd archiv<br />

Religion UrsAltermatt schreibt über die langwierigeAnpassung des Katholizismus in der Schweiz<br />

Wieeinereligiöse Minderheit<br />

sich erfolgreichintegrierte<br />

UrsAltermatt:Konfession, Nation und<br />

Rom. Metamorphosen im<br />

schweizerischen und europäischen<br />

Katholizismus des 19. und 20.Jahrhunderts.<br />

Huber,Frauenfeld 2009.<br />

442 Seiten, Fr.58.–.<br />

Von Klara Obermüller<br />

Die Zeit ist noch gar nicht allzu fern, da<br />

galten Katholiken in der Schweiz als<br />

unzuverlässige Patrioten. Sie bildeten<br />

Sondergesellschaften, sahen sich dem<br />

Verdacht der «doppelten Loyalität» ausgesetzt<br />

und taten sich schwer sowohl<br />

mit den Errungenschaften der Moderne<br />

wie auch mit den Gepflogenheiten der<br />

Demokratie. Mehr als 100 Jahre, <strong>von</strong><br />

1848 bis weit über den Zweiten Weltkrieg<br />

hinaus, sollte der Integrationsprozess<br />

des politischen Katholizismus in<br />

Feminisierung der Arbeitswelt Stolz auf ihren Beruf<br />

201 Mal hatder Fotograf Josef Riegger abgedrückt.<br />

201 Mal steht da eine Frau, vordem gleichen, etwas<br />

irritierenden Hintergrund, in gleicher Pose und dennoch<br />

eigenständig, individuell ausgestattetmit den<br />

selbstgewählten Insignien ihres Berufes. Die Frauen<br />

blicken ernstindie Kamera, lächeln oder lachen, sind<br />

selbstsicher,keck, verschmitzt, frech und manchmal<br />

auch ein wenig verlegen. Aber immer unübersehbar<br />

stolz auf ihren Beruf,ihreTätigkeit, ihr Wissen und<br />

Können. Vonder Archäologin über die Berufsfeuerwehrfrau<br />

(Bild links), die Lokführerin, die Neurochirurgin<br />

(rechts)bis zurZimmerin sind unzählige<br />

Berufsgattungen vertreten. Ja, wir Frauen in der<br />

Schweiz haben es weit gebracht, könnteman meinen.<br />

Wirsind jetzt –fast–überall dabei. Die kurzen Zwischentexte<br />

oder Zwischentöne der Politologin Regula<br />

den schweizerischen Bundesstaat dauern.<br />

Zu einem endgültigen Abschluss<br />

gelangte er im Grunde erst im Jahr 1973,<br />

als mit dem Jesuiten- und dem Klosterartikel<br />

auch noch die letzte Ausnahmeregelung<br />

aus der Bundesverfassung<br />

gestrichen wurde.<br />

Stationen zum Bundesstaat<br />

In Zeiten, da wieder einmal heftig über<br />

die Stellung religiöser Minderheiten in<br />

unserem Land gestritten wird, kann es<br />

ausgesprochen nützlich sein, sich dieser<br />

langwierigen Anpassungsgeschichte<br />

des schweizerischen Katholizismus<br />

und seiner europäischen Parallelen zu<br />

erinnern.<br />

20 Jahre nach seinem Werk über<br />

«Katholizismus und Moderne» legt der<br />

Freiburger Historiker Urs Altermatt ein<br />

weiteres Mal Grundlagen zu solcher<br />

Rückbesinnung vor. In seinem umfang-<br />

Staempfli, gewohnt provokativ und ungeschminkt,<br />

holen einen dann wieder auf den Boden der Realität,<br />

wenn sie laut in Erinnerung ruft, dass bei der Feminisierung<br />

eines Berufes sofort Ansehen und Lohn sinken.<br />

Dass Frauenforschung systematisch nicht zitiert<br />

wird. Dass die Welt voller Gynäkologenist,aber kaum<br />

Urologinnen praktizieren. Dass noch immer Männer<br />

Frauen kaufen dürfen. Dass noch immer erschreckend<br />

wenigeProfessorinnen lehren und die Chefredaktorengrosser<br />

Politmedien stets Männer sind. Warum<br />

aber für die Realisierung dieser tollen Idee nicht eine<br />

Fotografin zumZug gekommen ist, das wissen die<br />

Göttinnen. GenevièveLüscher<br />

Josef Riegger (Fotos), Regula Staempfli(Text):<br />

Frauen ohne Maske. Stämpfli, Bern 2009.<br />

201 Fotografien, 304 Seiten, Fr.49.–.<br />

reichen neuen Buch mit dem auf den<br />

ersten Blick etwas irritierenden Titel<br />

«Konfession, Nation und Rom» zeichnet<br />

er die Stationen nach, die aus den einstigen<br />

Verlierern des Sonderbundskrieges<br />

vollwertige Bürger des schweizerischen<br />

Bundesstaates gemacht haben. Der politisch-kulturelle<br />

Assimilationsprozess an<br />

die national-liberal und protestantisch<br />

geprägte Leitkultur des Landes ist dabei<br />

ebenso ein Thema wie der innerkirchliche<br />

Wandel, der diese Anpassung und<br />

die damit verbundene Emanzipation<br />

erst möglich gemacht hat. Dass sich im<br />

Zuge dieser Entwicklung allerdings auch<br />

das vormals blühende katholische Milieu<br />

mit all seinen Vereinen, Verbänden,<br />

Institutionen und eigenen Presseerzeugnissen<br />

auflöste, ist gewissermassen der<br />

Preis, den der Schweizer Katholizismus<br />

für die erfolgreiche Integration zu<br />

bezahlen hatte.<br />

Urs Altermatt selbst gehört einer<br />

Generation an, die diese Veränderungen<br />

selbst noch hautnah miterlebt hat. Als<br />

Katholik ist er in die Geschichte unmittelbar<br />

involviert und kann vielfach auch<br />

aus der eigenen Erfahrung schöpfen.<br />

Diese persönliche Note tut seiner über<br />

weite Strecken arg trockenen und langatmigen<br />

Wissenschaftsprosa ausgesprochen<br />

gut, und man hätte sich im Interesse<br />

der Lesbarkeit des Textes auch für<br />

interessierte Laien gewünscht, dass die<br />

historischen Kapitel etwas weniger ausführlich<br />

ausgefallen und die Bezüge zur<br />

Gegenwart dafür noch etwas deutlicher<br />

herausgearbeitet worden wären.<br />

Europäisches Fallbeispiel<br />

Der Einwand gilt nicht für den höchst<br />

aufschlussreichen und äusserst konzisen<br />

Schluss-Essay mit dem programmatischen<br />

Titel «Vom Konfessionalismus<br />

zur universalen Religion». In dieser religionssoziologischen<br />

Studie macht Altermatt<br />

einmal mehr deutlich, dass er die<br />

wechselvolle Geschichte des Schweizer<br />

Katholizismus keineswegs isoliert betrachtet,<br />

sondern sie als ein europäisches<br />

Fallbeispiel verstanden wissen<br />

will, an dem sich die parallel verlaufenden<br />

Erosionsprozesse sowohl der Nationen<br />

wie auch der Grosskirchen aufzeigen<br />

lassen. Interessant ist dabei zu<br />

sehen, wie die Bestrebungen des Zweiten<br />

Vatikanums und die sozialen Aufbruchbewegungen<br />

der sogenannten<br />

«langen sechziger Jahre» in die gleiche<br />

Richtung zielten und so ein Klima entstehen<br />

liessen, in dem der Dialog an die<br />

Stelle der einstmals identitätsstiftenden<br />

Abschottung treten konnte.<br />

Ohne explizit darauf zu verweisen,<br />

liefert Altermatts differenzierte Studie<br />

damit Hinweise, die inskünftig auch für<br />

die Integrationsbemühungen anderer<br />

religiöser Minderheiten <strong>von</strong> Bedeutung<br />

sein könnten. ●<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23


Sachbuch<br />

Familienbiografie Flott geschriebene Geschichte der<br />

unermesslich reichen, unglaublich exzentrischen und<br />

unbeschreiblich neurotischen Stahldynastie<br />

Die Wittgensteins<br />

Alexander Waugh: DasHaus Wittgenstein.<br />

Geschichteeiner ungewöhnlichen<br />

Familie. S. Fischer,Frankfurt 2009.<br />

448Seiten, Fr.42.90.<br />

Von Ina Boesch<br />

Das erste Wort des ältesten Sohnes soll<br />

«Ödipus» gewesen sein. Das ist zwar<br />

ungewöhnlich, einem Spross aus dieser<br />

Familie jedoch zuzutrauen. Bei den<br />

Wittgensteins war vieles ausserhalb der<br />

Norm: Sie waren unermesslich reich,<br />

unglaublich exzentrisch und unbeschreiblich<br />

neurotisch.<br />

Im Haus des Stahlmagnaten Karl Wittgenstein<br />

gab es zudem keine Ausnahmebegabung<br />

oder Einzelerscheinung, sondern<br />

nur Mehrfachausführungen. Drei<br />

Söhne nahmen sich das Leben, vier <strong>von</strong><br />

fünf Männern waren homosexuell, zwei<br />

der neun Kinder wurden berühmt: Ludwig<br />

Wittgenstein erlangte Weltruhm als<br />

Sprachphilosoph, Paul Wittgenstein ging<br />

als einarmiger Pianist in die Musikgeschichte<br />

ein. Von den Frauen eroberte<br />

sich Gretl Wittgenstein, <strong>von</strong> Gustav<br />

Klimt porträtiert und als Schönheit des<br />

Fin de Siècle gefeiert, einen Platz im<br />

kunsthistorischen Olymp.<br />

Eigentlich erstaunlich, dass diese<br />

Ansammlung <strong>von</strong> Begabung und Glanz<br />

in einer Familie nicht zu einer Flut <strong>von</strong><br />

Romanen und Filmen geführt hat. Nun<br />

hat sich der britische Musikkritiker und<br />

Publizist Alexander Waugh als einer der<br />

Ersten der üppigen Familiengeschichte<br />

angenommen. Selbst aus einer eher<br />

exzentrischen Familiendynastie stam-<br />

mend (der Grossvater war der überspannte<br />

und reaktionäre Romancier<br />

Evelyn Waugh; der Vater der berüchtigte<br />

Kolumnist Auberon Waugh), hat er<br />

zwar ein feines Gespür für die Neurosen<br />

und die Tragik im Hause Wittgenstein,<br />

doch ist er leider der Verführung durch<br />

den Glamour der vielen schillernden<br />

Leben erlegen. Diese haben seine ganze<br />

Aufmerksamkeit und nicht die Familie<br />

als umfassendes Gefüge, geschweige<br />

denn das historische, politische und<br />

wirtschaftliche Umfeld.<br />

Waugh scheute die Herausforderung,<br />

die bewegten Biografien mit der bewegten<br />

Zeit vom Fin de Siècle bis nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg zu verbinden.<br />

So erfährt man beispielsweise kaum<br />

etwas über die Hintergründe des steilen<br />

Aufstieges Karl Wittgensteins vom Barmann<br />

in Amerika zum Eisenkönig in<br />

Österreich-Ungarn. Stattdessen konzentriert<br />

er sich auf einzelne Figuren,<br />

insbesondere auf den Pianisten Paul, der<br />

nach seinem Verlust des rechten Armes<br />

in den ersten Monaten des Ersten Weltkrieges<br />

mit eiserner und beeindruckender<br />

Disziplin sein ganzes Können auf<br />

die linke Hand verlegte. Ausgestattet<br />

mit einem immensen Reichtum, konnte<br />

er bei den berühmtesten Komponisten<br />

der damaligen Zeit wie Paul Hindemith,<br />

Sergei Prokofjew, Benjamin Britten oder<br />

Maurice Ravel Klavierwerke für die<br />

linke Hand bestellen. Doch Paul war<br />

kein Freund <strong>von</strong> neuen Tönen und hatte<br />

dezidierte Vorstellungen <strong>von</strong> einer<br />

Komposition, weshalb er häufig die Partituren<br />

umschrieb und sich mit beinahe<br />

allen Tonkünstlern anlegte.<br />

Literatur Goethe war – entgegen der Legende – durchaus empfänglich für Musik<br />

Erlöst im tönenden Seelenzauber<br />

NorbertMiller: Die ungeheureGewalt der<br />

Musik. Goethe und seine Komponisten.<br />

Hanser,München 2009. 447S., Fr.42.90.<br />

Von Manfred Koch<br />

War Goethe unmusikalisch? Einiges<br />

spricht dafür: Er brauchte lange, um<br />

Mozart zu würdigen, verkannte Beethoven<br />

und Schubert und rühmte mediokre<br />

Tonsetzer wie Carl Friedrich Zelter.<br />

Lange hielt sich deshalb die Legende,<br />

der Geheime Rat habe nur über eine<br />

kümmerliche Musikalität verfügt.<br />

Damit räumt Norbert Miller nun<br />

gründlich auf. Schon mit dem Titel seines<br />

Buchs unterstreicht der Berliner<br />

Komparatist Goethes Empfänglichkeit<br />

für den tönenden Seelenzauber. «Nun<br />

aber doch das eigentlich Wunderbarste!<br />

Die ungeheure Gewalt der Musik auf<br />

24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

mich in diesen Tagen!», schreibt Goethe<br />

1823, in der Zeit seiner skandalösen Greisenliebe<br />

zu Ulrike <strong>von</strong> Levetzow, an Zelter.<br />

Die Stimme einer Berliner Sopranistin,<br />

das Spiel einer polnischen Pianistin,<br />

«ja sogar die öffentlichen Exhibitionen<br />

des hiesigen Jägerkorps falten mich auseinander,<br />

wie man eine geballte Faust<br />

freundlich flach lässt». Der verstörte,<br />

alte Mann erfährt Musik als Erlösung.<br />

Das ist freilich noch kein Beleg für<br />

Sachverstand. Doch Miller zeigt ausführlich,<br />

wie Goethe in der konkreten<br />

Zusammenarbeit mit Komponisten auch<br />

musiktheoretisch originelle Wege einschlug.<br />

Mit Philipp Christoph Kayser,<br />

der seine Singspiele vertonte (darunter<br />

«Scherz, List und Rache», für Miller ein<br />

«verkanntes Meisterwerk»), entwickelte<br />

er eine neue «Ästhetik des heiteren<br />

Musikdramas», mit Johann Friedrich<br />

Reichardt, dem Leibkomponisten der<br />

Gretl Wittgenstein, gemalt <strong>von</strong> Gustav Klimt, 1905.<br />

Diese Anekdoten sind zwar einschlägig<br />

bekannt, doch so detailliert und flott<br />

geschrieben war Pauls Schicksal noch<br />

nirgends zu lesen. Zu detailliert und an<br />

den einzelnen Personen orientiert präsentiert<br />

Waugh hingegen die bislang<br />

wenig bekannte Geschichte, wie sich die<br />

Nazis Pauls Vermögen anzueignen versuchten<br />

(indem sie die jüdische Herkunft<br />

der Familie nachwiesen). Dabei<br />

hätte der Autor gerade hier die Chance<br />

gehabt, einen Schwerpunkt zu setzen<br />

und Familiengeschichte mit Sozial- und<br />

Wirtschaftsgeschichte kongenial zu verbinden.<br />

●<br />

mittleren Lebensphase, reflektierte er<br />

das ideale Verhältnis <strong>von</strong> Vers und<br />

Melodie im Kunstlied.<br />

Zelter kam zuletzt eine Ausnahmestellung<br />

zu, weil er in einer langen<br />

Freundschaft weit mehr wurde als<br />

ein musikalischer Wegbegleiter. Da er<br />

über beträchtliches Schreibtalent verfügte,<br />

machte Goethe ihn, so Millers<br />

überraschender Befund, behutsam zum<br />

Co-Autor seines wichtigsten autobiografischen<br />

Alterswerks: des Goethe-Zelter-<br />

Briefwechsels! Und wie zum Dank<br />

schenkte Zelter ihm dafür ein musikalisches<br />

Verjüngungserlebnis. Er brachte<br />

seinen elfjährigen Schüler Felix Mendelssohn<br />

nach Weimar, dessen Klavierspiel<br />

der entzückte Goethe als «Schicksalszeichen»<br />

begriff: Über alle Lebensalter<br />

hinweg springt auch zwischen<br />

verschiedenen Künsten der geistige<br />

Funke verlässlich über. ●<br />

seeger press


Klassiker Der Publizist Georg Brunold legt Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren vor. Sein Buch<br />

ist ein Füllhorn ausserordentlicher Texte – und eine tiefe Verbeugung vor grossen Schreibern<br />

Denkmal für die Reportage<br />

GeorgBrunold: Nichts als die Welt.<br />

Reportagen und Augenzeugenberichte<br />

aus 2500 Jahren. Galiani, Berlin 2009.<br />

681 Seiten, Fr.139.–.<br />

Von Daniel Puntas Bernet<br />

Wo einsteigen, in diesen Wälzer? Mit<br />

Egon Erwin Kischs grossartigem Text<br />

aus dem Autowerk in Detroit <strong>von</strong> 1928,<br />

in dem der als «rasender Reporter»<br />

bekannte Deutsche die Arbeitsbedingungen<br />

schildert und «Mister Ford» mit<br />

feinen Seitenhieben versieht? Mit Antonio<br />

Pigafettas Schilderungen einer versuchten<br />

Meuterei gegen den «Grosskapitän<br />

Magellan», kurz vor Entdeckung<br />

der berühmten Meeresstrasse im Jahr<br />

1520? Oder gar mit Phaidons detaillierter<br />

Erzählung und Platons Aufzeichnung<br />

über den Moment, als Sokrates den todbringenden<br />

Becher an die Lippen setzt,<br />

399 vor Christus?<br />

Es ist einerlei, denn dieses wahrlich<br />

grosse Buch hält für jeden Leser und<br />

Liebhaber nichtfiktionaler Literatur lauter<br />

Perlen bereit: Auszüge aus Kriegstagebüchern<br />

zur Schlacht <strong>von</strong> Babylon,<br />

belehrende Geschichtsschreibung römischer<br />

Politiker, Reiseberichte <strong>von</strong><br />

Abenteurern, Geologen, Weltentdeckern.<br />

Es finden sich Essays, Briefe,<br />

Kommentare <strong>von</strong> grossen Namen wie<br />

Voltaire, Goethe und Walser neben Gesellschaftsspalten<br />

aus dem skandalvernarrten<br />

antiken Rom, ethnologischen<br />

Notizen <strong>von</strong> iberischen Franziskanermönchen<br />

aus der Neuen Welt, engagierten<br />

Sozialreportagen aus den Fabriken<br />

Chinas unserer Tage. Oder Leckerbissen<br />

wie die köstliche Betrachtung einer<br />

Pariser Modeschau <strong>von</strong> Marie-Luise<br />

Scherer aus dem Jahre 1988.<br />

Ambitiöses Projekt<br />

«164 Reportagen und Augenzeugenbereicht<br />

aus 2500 Jahren und 5 Kontinenten»,<br />

lautet der Klappentext <strong>von</strong><br />

«Nichts als die Welt». Das im Berliner<br />

Galiani-Verlag erschienene ambitiöse<br />

Unternehmen stammt vom Publizisten<br />

Georg Brunold, früherer NZZ-Korrespondent<br />

in Afrika, gebürtiger Bündner<br />

und heute in Nairobi lebend. Brunold hat<br />

selber Reportagen geschrieben und ist,<br />

das wird angesichts des präsentierten<br />

Streifzugs durch die Weltliteratur ersichtlich,<br />

ein grosser Leser. Mit dem kanonischen<br />

Werk setzt Brunold der Gattung<br />

Reportage ein starkes Denkmal.<br />

Angesichts der unterschiedlichsten<br />

Zeugnisse aus vielen Jahrhunderten<br />

stellt sich die Frage, was denn die<br />

Reportage ausmacht und wieso gerade<br />

die vereinten Texte dafür repräsentativ<br />

stehen sollen. «Die Reportage kann und<br />

darf fast alles, solange sie vom Tathergang<br />

und der Sachlage, <strong>von</strong> denen darin<br />

die Rede ist, nicht schon lückenlose<br />

Kenntnis voraussetzt», schreibt Brunold<br />

Zermatt und das<br />

Matterhorn um<br />

1900, so wie es<br />

Marc Twain in seiner<br />

Reportage über<br />

das Wallis 1879<br />

wohl gesehen hat.<br />

in seinem Vorwort. Nähe zum Geschehen<br />

ist zentral, doch nicht zwingend:<br />

Obschon Norman Mailer bei der Ermordung<br />

Kennedys nicht Augenzeuge war,<br />

ist seine Reportage «Hat Oswald es<br />

getan?» ein grosser Wurf – dank der<br />

gekonnten sprachlichen Umsetzung des<br />

bloss Gehörten. In der Reportage sei<br />

ausserdem kein Mass an Gedankenarbeit<br />

verboten, solange diese für den<br />

Leser verdaulich bleibe und ihn fessle.<br />

«Wird die denkende Reportage dabei<br />

zum Essay, umso schöner für sie und für<br />

den Leser.»<br />

Den meisten Texten ist eigen, dass sie<br />

nicht nur Augenzeugenberichte sind,<br />

sondern die Beobachtungen sprachlich<br />

versiert reflektieren und kommentieren.<br />

Dass der Reporter manchmal Anthropologe,<br />

Politiker, Schiffsfahrer, Kriegsführer,<br />

Schriftsteller, Professor, Pilger, Ex-<br />

Häftling oder NGO-Mitarbeiter ist, liegt<br />

auf der Hand: Neugierde und Entdeckerlust<br />

sind schliesslich zentraler Antrieb,<br />

zu schreiben, zu erzählen. Brunold<br />

nennt sie «alles eigengesetzliche Köpfe,<br />

die zuverlässig mit Gedanken zur Stelle<br />

sind, die nicht jedermann zuvor schon<br />

ganz vertraut gewesen sind».<br />

Grosse Herausgeberleistung<br />

Denkende Schreiber sind sie in diesem<br />

Buch fast alle. Unsere drei Favoriten<br />

sind Marc Twain, Wolfgang Koeppen<br />

und George Orwell. Twain besuchte<br />

1879 Zermatt und das Wallis und<br />

beschreibt helvetische Eigenschaften<br />

mit Humor und Scharfsinn. Koeppens<br />

Reportage aus dem Franco-Spanien der<br />

fünfziger Jahre glänzt mit unerreichter<br />

Beobachtungsgabe. Und Orwells Erfahrungsbericht<br />

als Küchenhilfe in einem<br />

Pariser Restaurant <strong>von</strong> 1929 ist einfach<br />

grossartiges Kino.<br />

Brunold hat sich die Freiheit genommen,<br />

weder die Reportage wissenschaftlich<br />

zu definieren noch die Auswahl der<br />

Texte nach objektiven Kriterien vorzunehmen.<br />

Das mag man kritisieren – etwa,<br />

wenn für die Führerschaft des «Spiegels»<br />

bei der Publikation deutschsprachiger<br />

Reportagen ein eher schwacher<br />

Text steht oder Namen wie Tom Wolfe,<br />

Hunter S. Thomson oder Gay Talese fehlen<br />

–, doch anderseits hat das unakademische<br />

Vorgehen auch seinen Reiz: Wo<br />

sonst fände man Texte <strong>von</strong> Julius Cäsar,<br />

Christoph Kolumbus und Alexander <strong>von</strong><br />

Humboldt über Oscar Wilde, Ernest<br />

Hemingway und Gabriel García Márquez<br />

bis hin zu Günter Wallraff, Niklaus<br />

Meienberg und Ryszard Kapuscinski<br />

zwischen zwei Buchdeckeln vereint?<br />

Das Buch ist eine grosse Herausgeberleistung,<br />

vor der man nur den Hut ziehen<br />

kann. Gelungen sind die zwar knappen,<br />

dafür umso launigeren Einführungen zu<br />

jedem Text, angenehm ist die Abwechslung<br />

durch zwölf Foto-Essays aus dem<br />

letzten Jahrzehnt (die Textsammlung<br />

hört im Jahr 2000 auf), reichhaltig die<br />

angefügte «Bibliothek des Reporters»<br />

aus der Feder des Herausgebers. Gerade<br />

jetzt, wo der Strukturwandel der Medien<br />

längere Stücke ausserhalb der Tagesaktualität<br />

vermehrt zur Seite drängt, ist<br />

dieses Buch ein Plädoyer für einen Journalismus,<br />

der sich Zeit nimmt und hingeht,<br />

hinsieht und zuhört, selber denkt<br />

und – gekonnt – aufschreibt. ●<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25<br />

phOtOgLOB / KeYstOne


Sachbuch<br />

Schweizer Geschichte NeuedierteTexte über den als «Jetzerhandel» bekannten Prozess in Bern<br />

Skandalöses aus dem Mittelalter<br />

Romy Günthart(Hrsg.): Vonden vier<br />

Ketzern. Edition und Kommentar.<br />

Chronos, Zürich 2009. 204S., Fr.38.–.<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Der «Jetzerhandel» ereignete sich vor<br />

ziemlich genau 500 Jahren in Bern, hatte<br />

aber einen europaweiten Widerhall und<br />

beschäftigt die Wissenschaft bis heute.<br />

Damals bewegte das spektakuläre Ereignis<br />

heftig die Gemüter und fand Eingang<br />

in Schriften verschiedenster Art: Prozessakten,<br />

Flugblätter, Predigten, illustrierte<br />

Chroniken (unter anderem <strong>von</strong><br />

Schilling, Anshelm, Stumpf) und literarische<br />

Bearbeitungen. Die Germanistin<br />

Romy Günthart hat zwei der bis anhin<br />

unedierten neuhochdeutschen Schriften<br />

herausgegeben und kommentiert: Einmal<br />

ist es eine «falsch history» und einmal<br />

eine «war history».<br />

Dasamerikanische Buch Exzellenteneue Biografieüber Arthur Koestler<br />

In seinen letzten Jahren, ehe er im März<br />

1983 mit seiner dritten Frau Cynthia in<br />

den Freitod ging, hat sich der Schriftsteller<br />

Arthur Koestler einmal als «Casanova<br />

der Anliegen» bezeichnet. Wie<br />

der Publizist und Literaturwissenschafter<br />

Michael Scammell in seiner neuen<br />

monumentalen Biografie Koestler: The<br />

Literary and Political Odyssey of a Twentieth-Century<br />

Skeptic (Random House,<br />

689 Seiten) zeigt, hat sich der Sohn eines<br />

ungarisch-jüdischen Geschäftsmannes<br />

bei seinen intellektuellen<br />

Amouren meist gegen den Zeitgeist gestemmt:<br />

Als Student im Wien der<br />

1920er Jahre schloss er sich den «Revisionisten»<br />

um Wladimir Jabotinsky an,<br />

als diese eine radikale Minderheit in<br />

der zionistischen Bewegung waren.<br />

Völlig mittellos und mitunter tagelang<br />

ohne Nahrung, begann er im April 1926<br />

in Palästina seine Karriere als Journalist<br />

und Autor, während die meisten<br />

Zionisten ihre Sache lieber <strong>von</strong> gemütlichen<br />

Redaktionsstuben in Europa aus<br />

vertraten.<br />

In Palästina wurde aus «Köstler» Koestler,<br />

da seine Druckerei keine Umlaute in<br />

ihren Setzkästen hatte. Mit 26 bereits<br />

eine bekannte Edelfeder, trat der Ullstein-Journalist<br />

Ende 1931 in Berlin in<br />

die KPD ein. Doch 1938 brach Koestler<br />

unter dem Eindruck der Moskauer<br />

Schauprozesse mit der Partei. Zwei<br />

Jahre später hat er die Entscheidung mit<br />

seinem Meisterwerk «Sonnenfinsternis»<br />

öffentlich gemacht. Später zog sich<br />

Koestler den Unmut vieler Israeli zu, als<br />

er in «The Thirteenth Tribe» die dubiose<br />

Theorie vertrat, die osteuropäischen<br />

Juden stammten nicht <strong>von</strong> dem<br />

Volk der Bibel, sondern <strong>von</strong> den zentralasiatischen<br />

Khazaren ab.<br />

26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

dMitri KesseL / gettY<br />

Hans Jetzer war Laienbruder im Berner<br />

Dominikanerkloster, wo sich 1507/08<br />

zahlreiche Wunder und Erscheinungen<br />

ereigneten. Gespenster und Heilige<br />

erschienen, eine Pietà weinte blutrote<br />

Tränen, Jetzer selber empfing die Stigmata.<br />

Ein Pilgerstrom setzte ein. Aber<br />

nicht alle glaubten den wunderlichen<br />

Vorkommnissen. Vier Mönche, darunter<br />

der Klostervorsteher, wurden angeklagt,<br />

nicht nur den ganzen Zauber inszeniert<br />

zu haben, sie sollen Jetzer auch eigenhändig<br />

die blutigen Wunden zugefügt<br />

haben. Der Prozess dauerte ein halbes<br />

Jahr und schlug Wellen bis zum Papst<br />

nach Rom. Das Berner Gericht bezichtigte<br />

schliesslich die vier Mönche der<br />

Ketzerei und verurteilte sie zum Feuertod;<br />

sie wurden am 31. Mai 1509 vor den<br />

Mauern der Stadt verbrannt. Jetzer kam<br />

ins Gefängnis.<br />

Der «Jetzerhandel» diente in der<br />

Folge den Kritikern der katholischen<br />

Arthur Koestler Ende<br />

der 1940er Jahre in<br />

den USA (oben).<br />

Autor Michael<br />

Scammell (unten).<br />

Diese Schlaglichter auf ein Œuvre und<br />

eine Biografie, die ebenso reich wie<br />

kontrovers sind, sprechen zumindest<br />

für Eigenwilligkeit und intellektuelle Risikobereitschaft.<br />

Doch Scammell schildert<br />

auch zahlreiche Beispiele für den<br />

persönlichen Mut, der Koestler bereits<br />

in jungen Jahren ausgezeichnet hat.<br />

Kaum 1,65 Meter gross, nahm «der<br />

kleine Köstler» als Mitglied eines jüdischen<br />

Studenten-Korps in Wien lieber<br />

eine blutige Keilerei mit deutschnationalen<br />

Kommilitonen in Kauf, als sich<br />

den Zutritt in eine Bibliothek verwehren<br />

zu lassen. Als Reporter – und kommunistischer<br />

Agent – im Spanischen Bürgerkrieg<br />

riskierte Koestler eher seine<br />

Hinrichtung durch Franco-Truppen, als<br />

Kirche als Beispiel für die Verlogenheit<br />

des Klerus. Auch in Luthers Schriften<br />

finden sich Bezüge zum Berner Prozess.<br />

Die skandalösen Vorkommnisse wurden<br />

alsbald medial verarbeitet. Es erschienen<br />

Schriften unter anderem in Basel,<br />

Strassburg, München, Rostock, später<br />

Übersetzungen in Genf und London.<br />

Erst im 18.Jahrhundert verlor der Prozess<br />

an Aktualität.<br />

Günthart ediert zwei Prosafassungen,<br />

die unmittelbar nach dem Prozess<br />

erschienen sind. Während in der älteren<br />

Schrift Hans Jetzer als Betrüger geschildert<br />

wird, ist das etwas jüngere Werk<br />

aus antidominikanischer Perspektive<br />

verfasst; hier werden die Dominikanermönche<br />

als Schuldige entlarvt. Dieses<br />

Werk, 1509 in Strassburg erschienen und<br />

mit Holzschnitten <strong>von</strong> Urs Graf illustriert,<br />

wurde zum eigentlichen Multiplikator<br />

der Geschichte im 16. und 17.Jahrhundert.<br />

●<br />

sich durch eine Flucht in Sicherheit zu<br />

bringen. Allerdings war er Anfang 1940<br />

in Frankreich klug genug, sich der Verhaftung<br />

durch die deutschen Invasoren<br />

mit dem Eintritt in die Fremdenlegion<br />

zu entziehen. Bald darauf nach Nordafrika<br />

verlegt, desertierte er <strong>von</strong> der<br />

Legion in Richtung England.<br />

Scammell, der 1995 mit einer umfangreichen<br />

Solschenizyn-Biografie bekannt<br />

wurde, hat die dramatische Vita<br />

seines Protagonisten zu exzellentem<br />

Lesestoff verdichtet. Er hat gut 20 Jahre<br />

an «Koestler» gearbeitet und wurde<br />

dafür zumindest mit ausführlichen und<br />

durchweg sehr positiven Kritiken, etwa<br />

im «New Yorker», belohnt. Dies nicht<br />

zuletzt deshalb, weil es dem Professor<br />

an der New Yorker Columbia University<br />

gelingt, auch die geistigen Strömungen<br />

und Debatten lebendig zu<br />

machen, in denen sich Koestler bewegt<br />

und die er mitgeprägt hat.<br />

Das Buch zeigt Arthur Koestler als<br />

bekennenden Kosmopoliten, dem die<br />

dramatischen Zeitläufe, aber auch<br />

seine eigene Herkunft gar keine andere<br />

Wahl liessen als die ruhelose Wanderung<br />

<strong>von</strong> Thema zu Thema und <strong>von</strong><br />

Ort zu Ort. Seine Vernachlässigung<br />

durch den meist abwesenden Vater und<br />

die kalte, abweisende Mutter gab<br />

Koestler eine Unsicherheit mit auf den<br />

Weg, die ihn überdies in die Arme zahlreicher<br />

Frauen trieb. Dass er seine physischen<br />

Amouren so schnöde behandelt<br />

hat wie auch die meisten seiner intellektuellen<br />

Affären, gehört zu den Schattenseiten<br />

Koestlers, die Michael<br />

Scammell dem Leser ebenfalls nicht<br />

vorenthält. ●<br />

Von <strong>Andreas</strong> Mink


Agenda<br />

Karl May Freundschaft, Kampfund Liebe<br />

Die Karl-May-Verfilmungen der 1960er Jahrewaren<br />

grosses Kino: In hehrer Landschaftkämpften edle<br />

Wilde gegenabgefeimteSchurken. PierreBriceals<br />

Winnetou (rechts)und LexBarker als Old Shatterhand<br />

(links), die <strong>von</strong>Feinden zu Blutsbrüdern<br />

wurden, begeisterten die Nation ebenso wie Marie<br />

Versini als Nscho-tschi mit ihrem keuschen Liebreiz.<br />

Alle drei wurden zu Idolen der Jugend. Die opulentesteSerie<br />

der deutschen Filmgeschichtebegann<br />

1962mit «Der Schatz im Silbersee»und endete1968<br />

mit «Winnetou und Shatterhand im Talder Toten».<br />

Bestseller Januar 2010<br />

Belletristik<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4 David<br />

5<br />

6 Paulo<br />

7<br />

8<br />

Herta<br />

9<br />

Cecelia<br />

10<br />

DanBrown: Dasverlorene Symbol.<br />

Lübbe.760 Seiten, Fr.39.90.<br />

William P. Young: Die Hütte.<br />

Allegria. 304Seiten, Fr.29.90.<br />

SandraBrown: EwigeTreue.<br />

Blanvalet. 500 Seiten, Fr.34.90.<br />

Nicholls: Zwei an einem Tag.<br />

Kein &Aber.541 Seiten, Fr.34.90.<br />

Eveline Hasler: Engel im zweiten Lehrjahr.<br />

Nagel&Kimche.96Seiten, Fr.26.90.<br />

Coelho: Der Sieger bleibt allein.<br />

Diogenes. 498Seiten, Fr.38.90.<br />

ElkeHeidenreich, Bernd Schroeder: Alte<br />

Liebe. Hanser.192 Seiten, Fr.31.90.<br />

Müller: Atemschaukel.<br />

Hanser.304 Seiten, Fr.34.50.<br />

Ahern:Zeit deines Lebens.<br />

Krüger.362 Seiten, Fr.29.90.<br />

Diana Gabaldon: Echo der Hoffnung.<br />

Blanvalet. 1024 Seiten, Fr.43.90.<br />

Insgesamt wurden 17 Kinofilme gedreht. Die meisten<br />

spielten in der Welt der Indianer und Siedler,einige<br />

(«Der Schut», «Durchs wilde Kurdistan») entstammten<br />

aber auch der Serie der Balkan-Romane<br />

um Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar.Nun<br />

lässtein prachtvoller Bildband im Breitformatdie<br />

Karl-May-Welt in Eastman-Color nochmals lebendig<br />

werden. Ein nostalgisches Vergnügen! Manfred Papst<br />

Dasgrosse Album der Karl-May-Filme.<br />

Herausgegeben <strong>von</strong>Michael Petzel. Schwarzkopf &<br />

Schwarzkopf,Berlin 2009.480 Seiten, Fr.159.–.<br />

Sachbuch<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4 Richard<br />

5<br />

6 Pascal<br />

7<br />

8<br />

RogerdeWeck:<br />

9<br />

DetlefPape,<br />

10<br />

YangzomBrauen: Eisenvogel.<br />

Heyne.415 Seiten, Fr.34.90.<br />

Eckart <strong>von</strong>Hirschhausen: Glück kommt<br />

selten allein. Rowohlt. 384Seiten, Fr.33.80.<br />

Guinness-Buch der Rekorde2010.<br />

Brockhaus. 275Seiten, Fr.35.50.<br />

D. Precht: Werbin ich −und wenn ja,<br />

wie viele? Goldmann. 397Seiten, Fr.27.50.<br />

Der Duden.Die deutsche Rechtschreibung +<br />

CD,25. Aufl. Brockhaus. 1216 Seiten, Fr.50.50.<br />

Voggenhuber: Entdeckedeinen<br />

Geistführer. Giger.184 Seiten, Fr.35.90.<br />

Allan und BarbaraPease: Warum Männer<br />

immer Sexwollen. Ullstein. 333 S., Fr.32.90.<br />

Nach der Krise.<br />

Nagel&Kimche.111 Seiten, Fr.17.90.<br />

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 19. 1.2010. Preise laut Angaben <strong>von</strong> www.buch.ch.<br />

BeateQuadbeck: Die Hormonformel.<br />

Gräfe&Unzer.192 Seiten, Fr.36.50.<br />

RichardD.Precht: Liebe. Ein unordentliches<br />

Gefühl. Goldmann. 320 Seiten, Fr.34.90.<br />

Agenda Februar 2010<br />

Basel<br />

Freitag, 5.Februar,19Uhr<br />

Anja Jardine: Als der Mond vom Himmel<br />

fiel. Lesung, mit Schülern des Gymnasiums<br />

Oberwil, Fr. 15.–. Literaturhaus,<br />

Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50.<br />

Dienstag, 9. Februar,19.30 Uhr<br />

Luzius Keller: <strong>Marcel</strong><br />

<strong>Proust</strong> Enzyklopädie.<br />

Lesung, Fr. 10.–. Kleines<br />

Literaturhaus, Bachlettenstrasse<br />

7, Tel. 061 281 81 33.<br />

Donnerstag, 11.Februar,19Uhr<br />

Martha Gellhorn: Ausgewählte Briefe.<br />

Es liest: Chantal Le Moign. Fr. 15.−.<br />

Literaturhaus (s. oben).<br />

Bern<br />

Freitag, 5.Februar,20Uhr<br />

Martin Suter: Der Koch. Lesung, Fr. 20.−.<br />

Hotel National, Hirschengraben 24.<br />

Stauffacher Buchhandlung,<br />

Tel. 031 313 63 63.<br />

Sonntag, 28.Februar,10Uhr<br />

Kindermatinee mit Christoph Simon.<br />

Lesung aus «Häsin Mels und Hase Fitz».<br />

Fr. 10.−/25.– inkl. Frühstücksbuffet.<br />

Kornhausbibliothek, Reservation unter<br />

Tel. 031 327 10 12.<br />

Zürich<br />

Montag, 1.Februar,22Uhr<br />

Ruth Schweikert liest aus ihrem unpublizierten<br />

Manuskript. Restaurant Bärengasse,<br />

Bahnhofstrasse 25. Anmeldung:<br />

www.restaurant-baerengasse.ch/kultur.<br />

Mittwoch, 10.Februar,20Uhr<br />

Tatiana de Rosnay: Bumerang. Lesung,<br />

Fr. 18.− inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai<br />

62, Tel. 044 254 50 00.<br />

Mittwoch, 10.Februar,20.45 Uhr<br />

Milena Moser: Möchtegern.<br />

Lesung. Buchhandlung<br />

Orell Füssli, Füsslistrasse 4.<br />

Vorverkauf in der Buchhandlung.<br />

Donnerstag, 11.Februar,20Uhr<br />

Daniel Goetsch: Herz aus Sand. Lesung,<br />

Fr. 20.–. Kulturmarkt im Zwinglihaus,<br />

Ämtlerstrasse 23, Tel. 044 454 10 10.<br />

Sonntag, 21. Februar,17Uhr<br />

Annette Hug und Simona Ryser. Pedro<br />

Lenz lädt zur Lesung, Fr. 35.–. Miller’s<br />

Studio, Seefeldstr. 225, Tel. 044 387 99 70.<br />

Samstag, 27.Februar,20Uhr<br />

Elke Heidenreich und Bernd Schroeder:<br />

Alte Liebe. Lesung, Fr. 35.–. Kaufleuten,<br />

Klubsaal, Pelikanplatz, Tel. 044 225 33 77.<br />

Bücher am Sonntag Nr.2<br />

erscheint am 28. 2. 2010<br />

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am<br />

Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60<br />

oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange<br />

Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,<br />

8001 Zürich, erhältlich.<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27<br />

Marc wetLi


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