Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...
Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...
Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...
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Nr. 1 | 31. Januar 2010<br />
<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> <strong>Hommage</strong> <strong>von</strong> <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> | Sigmund <strong>Freud</strong> – Karl<br />
Abraham Korrespondenz | Siegfried Unseld – Thomas Bernhard Briefe |<br />
Sheilah Graham Memoiren | Nikolaus Harnoncourt/Hans Werner Henze<br />
Zwei Biografien |Weitere Rezensionen zu Thomas Mann, Arthur Koestler,<br />
Zoë Ferraris und den Brüdern Grimm | Charles Lewinsky Zitatenlese
«Man bemerkt sein Alt- und Älterwerden daran, dass Leute<br />
<strong>von</strong> immer höheren Jahren einem jung vorkommen.»<br />
Die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit kommen<br />
ins Rentenalter. Damit ist ein demografischer Wandel verbun-<br />
den, der bisher noch nicht erforscht worden ist. Diese soge-<br />
nannten Babyboomer gehören zueiner Generation, die wegen<br />
ihrer grossen Zahl injeder Lebensphase die Gesellschaft mit-<br />
bestimmt hat und die auch das Bild des Alters fundamental<br />
verändern wird. Die Autoren zeichnen anhand zentraler The-<br />
men, wie Pensionierung, Wohnen, Partnerschaft, sozialem<br />
Engagement und Gesundheit, ein differenziertes soziopsy-<br />
chologisches Porträt dieser Generation und zeigen Muster,<br />
Hintergründe und Lösungen auf. Illustriert ist das Buch mit<br />
aussagestarken Fotos <strong>von</strong> Lucia Degonda.<br />
Pasqualina Perrig-Chiello, François Höpflinger<br />
Die Babyboomer<br />
Eine Generation revolutioniert das Alter<br />
160 Seiten, 30 Fotos <strong>von</strong> Lucia Degonda, gebunden, Fr. 48.–<br />
NZZ Libro<br />
Buchverlag Neue Zürcher Zeitung<br />
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Arthur Schopenhauer<br />
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Auflage<br />
Das mittlere Erwachsenenalter – bis Mitte des 20. Jahrhun-<br />
derts ein undifferenzierter Lebensabschnitt –entwickelt sich<br />
aufgrund der längeren Lebenserwartung zunehmend zu einer<br />
eigenständigen Lebensphase mit spezifischen Lebensvorstel-<br />
lungen, kulturellen Ausdrucksformen, Entwicklungsaufgaben<br />
und Handlungsmöglichkeiten. Erstaunlicherweise ist diese Le-<br />
bensphase sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich<br />
äusserst definitionsbedürftig. Sowird das mittlere Lebensalter<br />
einerseits als ein ereignisloses Entwicklungsplateau angese-<br />
hen, andererseits mit dramatischen Ereignissen assoziiert wie<br />
Midlife-Crisis, Burn-out, mit endlosen Konflikten in Familie<br />
und Partnerschaft. Was trifft nun zu? Was ist «normal»?<br />
Pasqualina Perrig-Chiello<br />
In der Lebensmitte<br />
Die Entdeckung des mittleren Lebensalters<br />
160 Seiten, 40 Fotos <strong>von</strong> Fridolin Walcher, gebunden, Fr. 48.–<br />
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Inhalt<br />
Männer?Sehen<br />
ohne Zweihänder<br />
besser aus<br />
Nr. 1 | 31. Januar 2010<br />
<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> <strong>Hommage</strong> <strong>von</strong> <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> | Sigmund <strong>Freud</strong> – Karl<br />
Abraham Korrespondenz | Siegfried Unseld – Thomas Bernhard Briefe |<br />
Sheilah Graham Memoiren | Nikolaus Harnoncourt/Hans Werner Henze<br />
Zwei Biografien |Weitere Rezensionen zu Thomas Mann, Arthur Koestler,<br />
Zoë Ferraris und den Brüdern Grimm | Charles Lewinsky Zitatenlese<br />
<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong><br />
(Seite 12).<br />
Illustration <strong>von</strong><br />
André Carrilho<br />
Belletristik<br />
4 Der Briefwechsel Thomas Bernhard<br />
–Siegfried Unseld<br />
VonBruno Steiger<br />
6 SheilahGraham, Gerold Frank: Die<br />
furchtlosen Memoiren der Sheilah Graham<br />
VonSacha Verna<br />
7 Kristof Magnusson: Daswar ich nicht<br />
VonSimone <strong>von</strong>Büren<br />
Jean Echenoz: Laufen<br />
VonSandraLeis<br />
8 ZoëFerraris: Totenverse<br />
VonPia Horlacher<br />
Martin Roemers, Fotograf: Relics<br />
of the Cold War<br />
VonGerhardMack<br />
9 Thomas Mann: Betrachtungen eines<br />
Unpolitischen<br />
VonManfred Papst<br />
10 Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des<br />
Lebens<br />
VonAngelikaOverath<br />
11 Linus Reichlin: Der Assistent der Sterne<br />
VonChristine Brand<br />
Kurzkritiken Belletristik<br />
11 Michael Herzig: Die Stunde der Töchter<br />
VonRegula Freuler<br />
EudoraWelty: Ein Vorhang aus Grün<br />
VonRegula Freuler<br />
JuanCarlos Onetti: Der Schacht.<br />
Niemandsland. Für diese Nacht<br />
VonManfred Papst<br />
Lioba Happel: Land ohne Land<br />
VonManfred Papst<br />
Essay<br />
12 <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>, Schriftsteller<br />
Ansichteneines stubenhockerischen<br />
<strong>Proust</strong>ianers<br />
Von<strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong><br />
Dieses Heft, liebe Leserin, wird dominiert <strong>von</strong> Männerthemen. Im<br />
Zentrum steht das sinnenfreudige Werk des französischen Romanciers<br />
<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong>, besprochen <strong>von</strong> einem passionierten Leser (Seite 12).<br />
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit stellen wir Ihnen sodann den<br />
Briefwechsel des Dramatikers Thomas Bernhard mit dem Verleger<br />
Siegfried Unseld vor. 500 Briefe, die den schriftstellerischen Erfolg<br />
ebenso nachzeichnen wie das Wachsen einer verstörenden Geschäfts–<br />
beziehung (S. 4). Kein «Zweipersonendrama» – wie bei Bernhard und<br />
Unseld –, doch echte Männerfreundschaft entwickelte sich zwischen<br />
Sigmund <strong>Freud</strong> und Karl Abraham. Produktiv für die Entwicklung der<br />
Psychoanalyse und das Zürcher Burghölzli (S. 16).<br />
Für das Thema Maskulinismus könnten auch weitere Namen aus dieser<br />
Nummer stehen: Thomas Mann, Emil Zátopek, Hans Werner Henze,<br />
Arthur Koestler . . . Aber natürlich, geschätzter Leser, darf auch das<br />
weibliche Element nicht fehlen. Angefangen <strong>von</strong> den Memoiren der<br />
Hollywood-Klatschkolumnistin Sheilah Graham über Zoë Ferraris’<br />
neuen Krimi, die Erfolgsstory <strong>von</strong> Sozialunternehmerin Daniela Merz<br />
bis zum Bildband «Frauen ohne Maske», der die Feminisierung der<br />
Berufswelt zum Inhalt hat. Männernummern? Frauenthemen? Ja, klar,<br />
wenn nicht gleich reflexartig der Gender-Zweihänder bemüht wird.<br />
Also, viel Spass – unabhängig vom Geschlecht. UrsRauber<br />
Der neue Krimi <strong>von</strong> Zoë Ferraris (hier aufgenommen in<br />
Saudiarabien) spielt im Milieu der Scharia.<br />
Kolumne<br />
15 Charles Lewinsky<br />
Das Zitat <strong>von</strong>Henry James<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
15 Giorgio Vasari: DasLeben des<br />
Michelangelo<br />
VonGerhardMack<br />
Hans-Peter Bärtschi: Industriekultur im<br />
Kanton Zürich<br />
VonGenevièveLüscher<br />
Christine Kopp: Schlüsselstellen<br />
VonCharlotte Jacquemart<br />
GerhardJelinek: Reden, die die Welt<br />
veränderten<br />
VonKathrin Meier-Rust<br />
Sachbuch<br />
16 ErnstFalzeder,Ludger M. Hermanns (Hrsg.):<br />
Sigmund <strong>Freud</strong>/Karl Abraham<br />
VonSabine Richebächer<br />
18 Lynn Blattmann, Daniela Merz: Sozialfirmen<br />
VonCharlotte Jacquemart<br />
Janick Marina Schaufelbuehl: 1968–1978<br />
VonUrs Rauber<br />
19 JürgSchoch (Hrsg.): In den Hinterzimmern<br />
des Kalten Krieges<br />
VonPeter Studer<br />
20 PeterJ.Grob: Zürcher «Needle-Park»<br />
VonWilli Wottreng<br />
Julia Whitty: Riff<br />
VonGeorgSütterlin<br />
21 JohannaFürstauer,Anna Mika: Oper sinnlich<br />
Jens Rosteck: Hans Werner Henze<br />
VonCorinne Holtz<br />
22 SteffenMartus: Die Brüder Grimm<br />
Von<strong>Andreas</strong> Tobler<br />
23 UrsAltermatt:Konfession, Nation und Rom<br />
VonKlaraObermüller<br />
J. Riegger,R.Staempfli: Frauen ohne Maske<br />
VonGenevièveLüscher<br />
24 Alexander Waugh: DasHaus Wittgenstein<br />
VonIna Boesch<br />
NorbertMiller: UngeheureGewalt der Musik<br />
VonManfred Koch<br />
25 GeorgBrunold: Nichts als die Welt<br />
VonDaniel Puntas Bernet<br />
26 Romy Günthart(Hrsg.): Vonden vier Ketzern<br />
VonGenevièveLüscher<br />
Dasamerikanische Buch: Michael Scammell<br />
Von<strong>Andreas</strong> Mink<br />
Agenda<br />
27 Michael Petzel: Album der Karl-May-Filme<br />
VonManfred Papst<br />
Bestseller Januar 2010<br />
Belletristik und Sachbuch<br />
Agenda Februar 2010<br />
Veranstaltungshinweise<br />
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)<br />
StändigeMitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong>, Manfred Koch, Judith Kuckart, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Klara Obermüller, Angelika Overath,<br />
Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Stephanie Iseli (Layout), Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat)<br />
Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 0442581111, Fax 04426170 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />
31. Januar w2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik<br />
Briefwechsel Der Österreicher Thomas Bernhardgehörtezujener<br />
Handvoll Autoren, mit denen Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld<br />
unermüdlich korrespondierte<br />
Gegenseitige<br />
Erpressung<br />
Der Briefwechsel Thomas Bernhard–<br />
Siegfried Unseld. Hrsg. Raimund<br />
Fellinger,Martin Huber und Julia<br />
Ketterer. Suhrkamp,Frankfurt a. M.<br />
2009. 869 Seiten, Fr.64.50.<br />
Von Bruno Steiger<br />
1957 debütierte der damals 26-jährige<br />
Thomas Bernhard mit dem Gedichtband<br />
«Auf der Erde und in der Hölle». Das<br />
Buch erschien im Salzburger Otto-Müller-Verlag.<br />
Es fand ebenso geringe Resonanz<br />
wie die darauf folgenden vier Titel,<br />
die der ehrgeizige junge Dichter in<br />
rascher Folge bei wechselnden Verlagshäusern<br />
herausbrachte.<br />
Nach einem wenig ergiebigen Zwischenspiel<br />
bei S.Fischer suchte Bernhard<br />
im September 1961 den Kontakt zu<br />
Suhrkamp. Sein Manuskript mit dem<br />
Titel «Der Wald auf der Strasse» wurde<br />
abgelehnt; die Prosa ist in der geplanten<br />
Form nie erschienen. Seinem langjährigen<br />
Freund Wieland Schmied, 1962 kurzzeitig<br />
Lektor des zu Suhrkamp gehörenden<br />
Insel-Verlags, gelang es jedoch, bei<br />
Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld das<br />
Interesse für Bernhard zu wecken. 1963<br />
Bernhardund Unseld<br />
Der Verleger Siegfried Unseld (1924–<br />
2002)und der Schriftsteller Thomas<br />
Bernhard(1931–1989) warenfastdrei<br />
Jahrzehntelang aufs Engsteverbunden.<br />
Von1961 an gehörte Bernhardzuden<br />
Autorendes Suhrkamp-Verlags. Mit<br />
UweJohnson, PeterWeiss und Wolfgang<br />
Koeppen zählteerzujenen Autoren, um<br />
die sich der Verleger selbstkümmerte<br />
und mit denen er Hunderte <strong>von</strong>Briefen<br />
wechselte. Doch zwischen Unseld und<br />
Bernhardkam es nicht zurFreundschaft.<br />
Der Verkehr blieb geschäftlich. Sehr<br />
zumKummer des VerlegersUnseld.<br />
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
brachte Unseld im Insel-Verlag den<br />
Roman «Frost» heraus. Es war Bernhards<br />
erste Romanveröffentlichung. Es<br />
war ein Paukenschlag, dem ein in<br />
Umfang und Gewicht einzigartiges<br />
schriftstellerisches Werk nachfolgen<br />
sollte, das mit dem Namen des Verlegers<br />
Unseld untrennbar verbunden ist.<br />
Die Hintergründe der Erfolgsstory<br />
sind nun im Briefwechsel zwischen dem<br />
Dichter und seinem Verleger nachzulesen.<br />
Der rund 500 Briefe dokumentierende<br />
Band kann auch als Geschichte<br />
einer nicht zustande gekommenen<br />
Freundschaft gelesen werden. Die Beziehung<br />
zwischen den beiden ungleichen<br />
Männern blieb bis zu Bernhards frühem<br />
Tod im Februar 1989 über weite Strecken<br />
eine rein geschäftliche.<br />
Schon in seinem ersten Brief geht<br />
Bernhard auf Distanz. Nachdem er herausgestrichen<br />
hat, welch grosse Bedeutung<br />
das Programm des Suhrkamp-Verlages<br />
für ihn habe, beendet er sein<br />
Bewerbungsschreiben mit den Worten:<br />
«Ich kenne Sie nicht, nur ein paar Leute,<br />
die Sie kennen. Aber ich gehe den<br />
Alleingang.»<br />
Es war der Alleingang eines Menschen,<br />
der lebte, um zu schreiben. In<br />
dem Brief, in welchem Bernhard seiner<br />
Befriedigung über das Erscheinen <strong>von</strong><br />
«Amras» (1965) Ausdruck gibt, heisst es<br />
dazu: «Immer weniger oft erliege ich<br />
den Versuchungen, die Arbeit einer besseren<br />
Unterhaltung wegen zu fliehen,<br />
zu unterbrechen, weil ich jetzt mit der<br />
fürchterlichen Deutlichkeit des geborenen<br />
Egoisten sehe, dass meine Arbeit<br />
mein einziges Vergnügen, meine einzige<br />
<strong>Freud</strong>e, meine grösstmögliche<br />
Unzucht ist.» Den kommerziellen<br />
Aspekt seines Unternehmens behielt<br />
der «geborene Egoist» dabei stets im<br />
Auge. Geld bildet das zentrale Motiv<br />
des Briefwechsels. Im Rückblick auf die<br />
erste persönliche Begegnung mit seinem<br />
Verleger im Januar 1965 notiert<br />
Bernhard: «Der Anfang meiner Beziehung<br />
zu Unseld war eine Forderung<br />
gewesen, um nicht sagen zu müssen,<br />
eine Erpressung meinerseits. Ich forderte<br />
<strong>von</strong> Unseld 40 000 Mark; weil ich<br />
es eilig hatte, in zwanzig Minuten.<br />
Angeblich hatte Unseld zu diesem Zeitpunkt,<br />
wie seine Frau mir neunzehn<br />
Jahre später versicherte, vierzig Grad<br />
Fieber gehabt. Ich forderte also damals,<br />
wie ich heute denke, für jeden Fiebergrad<br />
des Verlegers und für jede halbe<br />
Minute des Verlegers tausend Mark.<br />
Nach diesem Geschäft, das mich im<br />
Höchstmass befriedigte und das zur<br />
Rettung meines Ohlsdorfer Narrenhauses<br />
notwendig war, fuhr ich nach Giessen,<br />
um einen Vortrag zu halten, und<br />
dachte die ganze Zeit, dass gute<br />
Geschäfte machen wenigstens so schön<br />
ist wie Schreiben.»<br />
Schwieriges Verhältnis<br />
Bernhards Wort «Erpressung» kann als<br />
Stichwort genommen werden; sie funktionierte<br />
in beiden Richtungen. Der<br />
rege, sich stetig intensivierende Austausch<br />
<strong>von</strong> beschriebenem und gedrucktem<br />
Papier, <strong>von</strong> Manuskriptseiten und<br />
Geldscheinen, zeitigte eine Produktivität,<br />
die nicht selten zu zwei oder mehr<br />
Buchveröffentlichungen pro Jahr führte.<br />
Unselds «Annäherungsversuche einer<br />
Zuneigung» blieben dabei unerwidert.<br />
Bernhard sah in seinem Verlag mehr<br />
und mehr nur noch «eine anonyme gegnerische<br />
Macht», gegen die es sich<br />
durchzusetzen galt. Zu einer Freundschaft<br />
konnte es auf dieser Basis nicht<br />
kommen. Man stand, wie Bernhard es<br />
im Februar 1972 als Vorwurf an Unseld<br />
formuliert, «auf einer Eisdecke <strong>von</strong><br />
Missverständnissen». Zum endgültigen<br />
Zerwürfnis kam es nicht, auch wenn<br />
Unseld seinen letzten, drei Monate vor<br />
Bernhards Tod abgeschickten Brief mit<br />
den Worten «Ich kann nicht mehr»<br />
beschliesst.<br />
Literarische Fragen kommen im Briefwechsel<br />
eher selten zur Sprache; es<br />
dominiert das «einzige nennenswerte<br />
Problem» der Verkaufszahlen und<br />
Der Schriftsteller<br />
Thomas Bernhard<br />
(oben) in seinem Haus<br />
in Ohlsdorf, 1976. Und<br />
Suhrkamp-Verleger<br />
Siegfried Unseld<br />
(unten), 1981.
MichaeL hOrOwitz / anzenBerger<br />
andreJ reiser / BiLderBerg<br />
Abgeltungen. Geradezu erholsam zu<br />
lesen sind deshalb die Briefe, in welchen<br />
Unseld in die Rolle des Lektors schlüpft.<br />
Im Manuskript der Erzählung «Gehen»<br />
etwa moniert er gewisse typische Bernhardsche<br />
Superlativbildungen wie «vollkommendste<br />
Untätigkeit» und «epochemachendste<br />
Gedanken». Auch die zahlreichen<br />
Kursivierungen – die bald zu<br />
Bernhards Markenzeichen wurden – stören<br />
ihn empfindlich; den Autor kümmert<br />
es nicht. In einem Kommentar zum Bühnenstück<br />
«Immanuel Kant» formuliert<br />
Unseld seine Skepsis gegenüber dem<br />
Wort «Seeehe», plädiert dann aber doch<br />
dafür, die drei Es, gegen die diesbezügliche<br />
Regel im Duden, beizubehalten.<br />
Zweipersonendrama<br />
Immer wieder zu reden gaben Titelfragen.<br />
Zu Bernhards Vorschlag «Moser<br />
versucht es zum dritten Mal» äussert<br />
sich Unseld nicht; über den definitiven<br />
Titel – «Verstörung» – ist er «reichlich<br />
unglücklich». Die 1967 aufgelegte Prosa<br />
wurde <strong>von</strong> der Kritik gefeiert, der Absatz<br />
jedoch war so schlecht, dass Unseld<br />
noch ein Jahr nach Erscheinen auf das<br />
Titelproblem zurückkommen musste:<br />
«Es war uns sonnenklar, dass ein solcher<br />
Titel zunächst vom Sortiment abgelehnt<br />
würde und dann <strong>von</strong> den Leuten, die<br />
Bücher zu Geschenkzwecken kaufen.<br />
Diese Leute wollen eben keinen Titel,<br />
der ‹Verstörung› heisst. Wir alle wussten<br />
dies, aber Thomas Bernhard wies<br />
die Argumente seines Verlegers zurück,<br />
er wusste es besser, und nun haben wir<br />
die Quittung.»<br />
Der Briefwechsel liest sich in manchen<br />
Teilen als eigentliches Zweipersonendrama<br />
und dürfte nicht nur für Bernhard-Fans<br />
<strong>von</strong> Interesse sein. Ein grosses<br />
Lob gebührt den Herausgebern. Im<br />
weit ausgreifenden, auch zeitgeschichtlich<br />
wertvollen Kommentarteil breiten<br />
sie viel Hintergrundmaterial aus. Ausführlich<br />
zitiert werden Unselds private<br />
Rapporte seiner persönlichen Begegnungen<br />
mit dem Dichter. Ebenfalls in<br />
den Fussnoten findet sich Unselds Notiz<br />
über ein Mittagessen, bei dem sich Bernhard<br />
über seine zahlreichen Nachahmer<br />
beklagt und den Verleger drängt, Manuskripte,<br />
die eine allzu grosse Ähnlichkeit<br />
zu seinem eigenen Schreiben aufweisen<br />
würden, inskünftig nicht mehr zum<br />
Druck zu bringen und am besten gewissen<br />
Suhrkamp-Autoren «das Schreiben<br />
in dieser Form zu verbieten».<br />
Am geläufigen Bild des zutiefst einsamen<br />
Menschen Thomas Bernhard<br />
ändert die Publikation der Briefe wenig.<br />
Dagegen bietet der Band überaus aufschlussreiche<br />
Einblicke ins Buchgeschäft<br />
und in das Talent des Verlegers Siegfried<br />
Unseld, seinen Autor mit kluger Geldund<br />
Editionspolitik immer neu zur Ausnahmeleistung<br />
zu motivieren. Daraus<br />
erwuchs in gerade fünfundzwanzig Jahren<br />
jenes <strong>von</strong> hohem Witz geprägte<br />
brandschwarze Lebenswerk, das uns bis<br />
heute in seinen Bann zieht. ●<br />
Bruno Steiger lebt als Schriftsteller<br />
und Literaturkritiker in Zürich. Zuletzt<br />
erschien sein Essay-Band «Zwischen<br />
Unorten» (2009).<br />
31. Januar 2010 ❘NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik<br />
Autobiografischer Roman Sheilah Graham stammteaus ärmlichen Verhältnissen und machtein<br />
den USAals Klatschkolumnistin Karriere<br />
Ausder Gosse nach Hollywood<br />
Sheilah Graham, Gerold Frank: Die<br />
furchtlosen Memoiren der Sheilah<br />
Graham. Ausdem Englischen <strong>von</strong>Hans<br />
Hennecke. Eichborn, Frankfurt a. M.<br />
2010.380 Seiten, Fr.52.–.<br />
Von Sacha Verna<br />
«Sollte man sich überhaupt an mich<br />
erinnern, dann wegen Scott Fitzgerald»,<br />
hat Sheilah Graham einmal über sich<br />
gesagt. Damit hatte die Frau zum Teil<br />
recht. Aber nur zum Teil. Denn an<br />
Sheilah Graham, geboren 1904 im englischen<br />
Leeds, gestorben 1988 in Palm<br />
Beach, Florida, erinnerte sich zumindest<br />
der Nachrufschreiber der «New York<br />
Times» auch wegen ihrer 35 Jahre langen<br />
Karriere als Hollywoods berühmteste<br />
Klatschkolumnistin. Die Information<br />
über Grahams Liebesaffäre mit<br />
dem Schriftsteller F. Scott Fitzgerald lieferte<br />
der Autor zwar bereits im zweiten<br />
Absatz seines Artikels nach. Doch hatte<br />
für die Verbreitung dieser Tatsache<br />
Sheilah Graham schon selber gesorgt.<br />
«Beloved Infidel» hiess ihr autobiografischer<br />
Roman im Original, der nun<br />
unter dem Titel «Die furchtlosen<br />
Memoiren der Sheilah Graham» auf<br />
Deutsch erschienen ist. Er wurde 1958<br />
zu einem Bestseller und sogar verfilmt,<br />
mit keinen Geringeren als Gregory Peck<br />
und Deborah Kerr in den Hauptrollen.<br />
Zudem verfasste Sheilah Graham später<br />
drei weitere Bücher über ihre Beziehung<br />
mit jenem Mann, der 1940 einige Tage<br />
vor Weihnachten in ihrem Wohnzimmer<br />
an einem Herzinfarkt starb.<br />
Kindheit in Londoner Slums<br />
Sheilah Graham und F. Scott Fitzgerald<br />
begegneten sich erstmals 1937 an einer<br />
Verlobungsfeier in Hollywood. Es war<br />
Sheilah Grahams Verlobungsfeier. Sie<br />
wollte demnächst nach England zurückkehren<br />
und einen Adligen ehelichen.<br />
Daraus wurde nichts – und stattdessen<br />
aus Graham und Fitzgerald ein Paar, was<br />
sie bis zu Fitzgeralds Tod auch blieben.<br />
Von dieser Zeit handelt die zweite Hälfte<br />
dieses Buches. In der ersten Hälfte<br />
schildert die Autorin das, was dem vorausgegangen<br />
war: nämlich die Erfindung<br />
der Sheilah Graham.<br />
«Mein wirklicher Name ist Lily Sheil,<br />
ein Name, der mich bis zum heutigen<br />
Tag in einem Ausmass entsetzt, das ich<br />
nicht zu erklären vermag.» Mit diesem<br />
Paukenschlag eröffnet Sheilah Graham<br />
ihre «furchtlosen Memoiren». Im Folgenden<br />
erklärt sie sehr wohl, weshalb<br />
ihr beim Klang ihres Taufnamens noch<br />
immer «der kalte Schweiss» ausbricht:<br />
Er steht für ihre Kindheit in den Slums<br />
<strong>von</strong> London, für Jahre im Waisenhaus,<br />
für Jobs als Hausangestellte, Zahnbürstenverkäuferin<br />
und Revuetänzerin, für<br />
eine Ehe mit einem viel älteren Mann.<br />
Lily Sheil hat sich im klassischen Sinn<br />
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
«Beloved Infidel»:<br />
Sheila Grahams<br />
Autobiografie wurde<br />
1959 verfilmt mit<br />
Deborah Kerr und<br />
Gregory Peck in den<br />
Hauptrollen.<br />
aus der Gosse hochgearbeitet, wobei<br />
diese Arbeit vor allem im geschickten<br />
Einsatz ihrer Schönheit und ihrer Intelligenz<br />
bestand.<br />
Als sie 1933 mit hundert Dollar und<br />
einem Rückfahrbillett in der Tasche,<br />
<strong>von</strong> dem sie keinen Gebrauch zu machen<br />
gedachte, in Amerika ankam, war die<br />
Verwandlung der Lily Sheil in Sheilah<br />
Graham schon so weit fortgeschritten,<br />
dass sie dem Leiter des bedeutendsten<br />
Pressesyndikats des Landes mehrere<br />
eigene Artikel vorlegen konnte und<br />
prompt eine Stelle bei einer New Yorker<br />
Zeitung ergatterte. Drei Jahre später war<br />
sie in Hollywood, und 1964 wurden ihre<br />
Bissigkeiten über die Stars und Sternchen<br />
der Traumfabrik in 178 Zeitungen<br />
gedruckt. Sie hatte eine eigene Radiound<br />
eine Fernsehshow.<br />
Prekäre Idylle<br />
Und F. Scott Fitzgerald? Die dreieinhalb<br />
Jahre, die sie mit ihm verbrachte, waren<br />
geprägt <strong>von</strong> Fitzgeralds Kampf gegen<br />
den Alkohol, <strong>von</strong> seinen Selbstzweifeln<br />
und Geldsorgen. Aber auch, so Sheilah<br />
Graham, <strong>von</strong> echter Leidenschaft. Sie<br />
zeichnet das Bild einer prekären Idylle:<br />
Fitzgerald entwirft für Sheilah Graham<br />
einen Lehrplan, damit sie die Bildung<br />
nachholen kann, nach der sie sich so<br />
lange vergeblich gesehnt, deren Mangel<br />
sie so verzweifelt zu verbergen versucht<br />
hat. Gemeinsam studieren sie die Evangelien<br />
und Darwin, Cervantes und Joyce.<br />
Sie verbringen Monate fernab des gesellschaftlichen<br />
Rummels in Häusern, die<br />
Sheilah Graham für sie findet. Sie nehmen<br />
grössten Anteil an der Arbeit des<br />
jeweils anderen. Von der Ehefrau Zelda<br />
Fitzgerald, die in einer Irrenanstalt, und<br />
der Tochter Scottie, die in einem Internat<br />
untergebracht ist, weiss Sheilah Graham<br />
<strong>von</strong> Anfang an. Fitzgerald wiederum<br />
kennt die wahre Geschichte der<br />
Sheilah Graham.<br />
Die wahre Geschichte? Die kennt am<br />
Schluss natürlich niemand ausser Sheilah<br />
Graham. Und diese verhehlt nicht,<br />
dass sie dem Leser in ihren «Memoiren»<br />
nicht die Wahrheit präsentiert, sondern<br />
die fiktive Aufbereitung sorgfältig ausgewählter<br />
Fakten. Dass der Autorin bei<br />
der Niederschrift Gerold Frank zur<br />
Hand gegangen ist, <strong>von</strong> dem unter anderem<br />
Biografien <strong>von</strong> Zsa Zsa Gabor und<br />
Judy Garland stammen, trägt zur Glaubwürdigkeit<br />
dieses Werks nicht unbedingt<br />
bei. Doch ist Glaubwürdigkeit in<br />
diesem Fall auch nicht das Ziel.<br />
Dies ist der Roman eines Lebensabschnitts,<br />
oder besser: disparater Lebensabschnitte,<br />
routiniert und unterhaltsam<br />
dargestellt. Man sollte ihn geniessen<br />
wie einen guten Hollywood-Film: als<br />
zweidimensionale und eben deshalb<br />
vergnügliche Version einer vermutlich<br />
viel zu komplizierten, weil mehrdimensionalen<br />
Vorlage. Und über Hollywood<br />
wusste Sheilah Graham nun wirklich<br />
Bescheid. ●<br />
interFOtO
Roman Der jungedeutsche AutorKristof Magnusson<br />
lässt drei Menschen da<strong>von</strong>erzählen, wie sie in eine<br />
Sackgasse geratensind<br />
Wenn dasLeben<br />
aufder Kippesteht<br />
KristofMagnusson: Daswar ich nicht.<br />
Antje Kunstmann, München 2010.<br />
288 Seiten, Fr.33.90.<br />
Von Simone <strong>von</strong> Büren<br />
Einer der Protagonisten im zweiten<br />
Roman <strong>von</strong> Kristof Magnusson tritt<br />
eines Abends auf seinen Balkon im 38.<br />
Stockwerk eines Chicagoer Hochhauses,<br />
barfuss und im T-Shirt bei minus 18 Grad<br />
Celsius. Ein Windstoss schlägt die Balkontür<br />
zu, und er befürchtet, sich soeben<br />
ausgesperrt zu haben und bei den schallisolierten<br />
Fenstern und dem dichten<br />
Verkehr <strong>von</strong> keiner Menschenseele<br />
gehört zu werden. So wenig braucht es,<br />
um in der Kälte zu stehen. In «Das war<br />
ich nicht» spielt Magnusson augenzwinkernd<br />
durch, was uns die aktuelle Wirtschaftskrise<br />
bitterernst gezeigt hat: wie<br />
schnell sich der American Dream im<br />
kapitalistischen System in sein Gegenteil<br />
verkehren und Millionäre zu Tellerwäschern<br />
machen kann.<br />
Magnusson, dessen Début «Zuhause»<br />
2006 mit dem Rauriser Literaturpreis<br />
ausgezeichnet wurde, lässt in seinem<br />
neuen Roman abwechselnd drei einsame<br />
Ich-Erzähler zu Wort kommen, die mit<br />
ihren bisherigen Lebensentwürfen in<br />
eine Sackgasse geraten sind. Jasper, ein<br />
junger deutscher Trader, setzt bei einer<br />
Bank in Chicago alles auf die Karte Karriere<br />
und geht «wie ferngesteuert»<br />
durchs Leben. Er opfert sich auf für ein<br />
Unternehmen, in dem sein Name «in<br />
eine Plastikhalterung geschoben und<br />
jederzeit austauschbar» ist. Die literarische<br />
Übersetzerin Meike trennt sich<br />
überstürzt <strong>von</strong> ihrem langjährigen Partner<br />
und vom gemeinsamen Kinder kriegenden<br />
und Ökoprodukte kaufenden<br />
Freundeskreis in Hamburg und zieht in<br />
ein baufälliges Haus auf dem Land. Und<br />
der sechzigjährige amerikanische Autor<br />
Henry LaMarck taucht unter, weil er seinen<br />
Jahrhundertroman über 9/11, der<br />
schon vor seinem Erscheinen für den<br />
Pulitzerpreis nominiert worden ist,<br />
nicht schreiben kann.<br />
Der 33-jährige Autor und Übersetzer<br />
aus dem Isländischen lässt seine drei<br />
Erzähler auf faszinierende Weise miteinander<br />
ins Geschäft kommen und einander<br />
abwechselnd zur «letzten Chance»<br />
werden in einer zunehmend dramatischen<br />
Geschichte, in der Geld eine<br />
wesentliche Rolle spielt: fehlendes,<br />
übermässiges und vor allem virtuelles.<br />
Auf packende Weise vermittelt Magnusson<br />
den Sog, der in den Finanz-Arenen<br />
entsteht und das Betrügen mit steigenden<br />
Beträgen abstrakter und einfacher<br />
werden lässt.<br />
Der auch als Dramatiker erfolgreiche<br />
Autor erweist sich erneut als sorgfältiger<br />
Architekt narrativer Zusammenhänge,<br />
forciert allerdings einige Stränge –<br />
etwa Henrys Bekanntschaft mit Elton<br />
John. Stellenweise schwächt er ausser-<br />
Kristof Magnusson<br />
beschreibt einsame<br />
Menschen in der<br />
Grossstadt, so einen<br />
deutschen Banker in<br />
Chicago.<br />
Roman Eine unaufgeregte<strong>Hommage</strong>andie tschechische Sportlegende Emil Zátopek<br />
Titander Leichtathletik<br />
Jean Echenoz: Laufen.<br />
Ausdem Französischen <strong>von</strong>Hinrich<br />
Schmidt-Henkel. Berlin-Verlag,<br />
Berlin 2009. 126 Seiten, Fr.31.50.<br />
Von Sandra Leis<br />
Persönlichkeiten <strong>von</strong> Weltruhm elektrisieren<br />
ihn: In «Die grossen Blondinen»<br />
(2002) sind es Marlene Dietrich, Marilyn<br />
Monroe und Brigitte Bardot, in «Ravel»<br />
(2007) ist es Maurice Ravel. Jetzt setzt er<br />
in «Laufen» dem tschechischen Langstreckenläufer<br />
Emil Zátopek ein Denkmal.<br />
Sport, so gibt Jean Echenoz, der 62jährige<br />
französische Meister des dosierten<br />
Spannungsbogens, zu Protokoll, habe<br />
ihn zeitlebens nie interessiert. Trotzdem<br />
hat er sich festgebissen an Zátopek, zu<br />
dessen spektakulärsten Leistungen der<br />
dreifache Olympiasieg 1952 in Helsinki<br />
gehört: Innerhalb weniger Tage gewann<br />
er über 5000 und 10 000 Meter sowie im<br />
Marathon die Goldmedaille.<br />
Echenoz durchforstete mehrere tausendNummernderZeitschrift«L’Equipe»<br />
der Jahrgänge 1946 bis 1957 und schrieb<br />
dann einen kleinen hübschen Roman<br />
über diesen Volkshelden und tschechischen<br />
Exportschlager im Kalten Krieg,<br />
der stets «ein gewissenhafter Junge» war,<br />
naiv und politisch unbedarft. Emil ist 17<br />
Jahre alt, aus dem Sportmuffel wird einer,<br />
der fanatisch bis über die Schmerzgrenze<br />
hinaus trainiert und die Emil-Methode<br />
perfektioniert. Sein Stil ist alles andere<br />
als elegant, aber legendär: Er kämpft sich<br />
voran, «schwer, zerquält, gemartert,<br />
ruckartig. Er verhehlt nicht, wie grausam<br />
er sich müht.» «Die tschechische Lokomotive»,<br />
so lautet sein Spitzname.<br />
Während Echenoz in «Ravel» Stationen<br />
des Künstlerlebens detailreich und<br />
höchst einfühlsam zu Papier brachte,<br />
nimmt er sich in «Laufen» sehr zurück.<br />
dem seine Erzähler, wenn er in erklärenden<br />
Ausführungen zu Facebook oder<br />
zum Chicagoer Valentinstag-Massaker<br />
als pflichtbewusster Autor zu dominant<br />
wird oder vereinzelt Vergleiche und<br />
Metaphern überfrachtet. So beschreibt<br />
er die Frisur einer Verlegerin wirkungsvoll<br />
als «einbetoniertes Baiser» und<br />
malt dann aus, «wie sie in ihrem schwarzen<br />
Mercedes-Cabriolet den Lake Shore<br />
Drive entlangbrauste und kein einziges<br />
Haar auch nur ins Zittern kam». Oder er<br />
lässt Meike die Klappe eines amerikanischen<br />
Briefkastens öffnen, «vorsichtig<br />
wie die Tür eines Backofens, nachdem<br />
die Schaltuhr geklingelt hatte und die<br />
Tiefkühllasagne nach fünfzig Minuten<br />
endlich fertig war».<br />
Die Moral <strong>von</strong> der Geschicht: Drei<br />
Menschen wollen sich mit Karriere,<br />
Ruhm und aussergewöhnlichen Lebensentwürfen<br />
profilieren, geraten aus dem<br />
Konzept, verlieren Geld, ruinieren ihren<br />
Ruf und werden weit weg <strong>von</strong> den Forderungen<br />
der Leistungsgesellschaft mit<br />
ganz wenig glücklich.<br />
Das mag ein wenig banal sein, gegen<br />
Schluss auch klischiert, aber es zeigt mit<br />
Humor und Schwung, wie sich individuelle<br />
Lebensentwürfe und gesellschaftliche<br />
Systeme erschöpfen und nach<br />
einer Krise neu entwickeln können. In<br />
diesem Sinn macht der Text eine Aussage<br />
zu unserer Zeit weit über die vielen<br />
konkreten Verortungen hinaus, die er<br />
vornimmt. ●<br />
Wir erfahren nicht, was Zátopek denkt<br />
oder fühlt, Echenoz fokussiert auf die<br />
Wettkämpfe – im Stil des Slapsticks,<br />
lakonisch und komisch, doch nie verräterisch.<br />
Sein Held liegt ihm am Herzen,<br />
und als Emil «in kurzer Hose und ausgewaschener<br />
Trainingsjacke» nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg als 24-Jähriger in<br />
Berlin die Weltbühne erobert, recken<br />
auch wir die Faust zum Triumph.<br />
Zwei historische Daten prägen das<br />
Leben <strong>von</strong> Zátopek: die Besetzung seiner<br />
Heimat 1939 durch die Deutschen<br />
und der Prager Frühling 1968, dem der<br />
Einmarsch der Russen ein brutales Ende<br />
setzt. Emil Zátopek, der «aufrichtig an<br />
die Tugenden des Sozialismus glaubt»,<br />
kämpft für eine freiheitliche Tschechoslowakei.<br />
Die Folgen sind fatal, Echenoz<br />
hakt sie auf dreieinhalb Seiten ab und<br />
verabschiedet seinen Helden mit dem<br />
Satz: «Ich habe es gewiss nicht anders<br />
verdient.» ●<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7<br />
Brian MurphY / aLaMY
Belletristik<br />
Kriminalroman Die Amerikanerin Zoë Ferraris schreibt über das Grauen unter der Scharia<br />
VerschleierteVerbrechen<br />
ZoëFerraris: Totenverse. Ausdem<br />
Amerikanischen <strong>von</strong>UlrikeWasel und<br />
Klaus Timmermann. Pendo,München<br />
2009. 384 Seiten, Fr.32.90.<br />
Von Pia Horlacher<br />
Vor zwei Jahren stach ein aussergewöhnliches<br />
Début aus der Flut der Kriminalromane<br />
hervor: «Die letzte Sure» der<br />
jungen Amerikanerin Zoë Ferraris führte<br />
uns dorthin, «wo eine Frau zuerst tot<br />
sein muss, bis sich ein Mann mit ihrem<br />
Leben beschäftigen darf» – in die totale<br />
Geschlechter-Apartheid der islamischen<br />
Gesellschaft Saudiarabiens. Das Verbrechen,<br />
das der einsame Wüstenführer<br />
Nayir und die rebellische Gerichtsmedizinlaborantin<br />
Katya damals aufklären<br />
mussten, ist das gleiche, das auch im<br />
neuen Roman eigentlich offen vor ihnen<br />
liegt: die Versklavung der Frau unter der<br />
Scharia. Auch in «Totenverse» kleidet<br />
es Ferraris geschickt in den Plot eines<br />
Leichenfunds am Strand <strong>von</strong> Jidda: Der<br />
grausam entstellte weibliche Körper<br />
gibt umso grössere Rätsel auf, als in dieser<br />
«City of Veils» (Stadt der Schleier,<br />
so der amerikanische Originaltitel) fast<br />
alles die Tötung einer Frau motivieren<br />
kann. Und fast nichts eine mögliche<br />
Sühne.<br />
Frauen als Sexobjekte<br />
Dass hier die junge Dokumentaristin<br />
Leila liegt und nicht eine der andern<br />
weiblichen Figuren, mit denen Ferraris<br />
uns dieses unmenschliche System nüchtern<br />
vor Augen führt, ist blosser Zufall.<br />
PopArt Aufbeiden Seiten des Eisernen Vorhangs<br />
Flugzeuge, Panzer und Raketeninknalligen Farben<br />
und einfachen Formen: So hatRoy Lichtenstein zu<br />
Beginn der 1960er JahreComics aufgegriffenund zu<br />
Ikonen der PopArt gemacht. Noch einen Tick greller<br />
und drastischer überrascht dieselbe Bildlichkeit beim<br />
ehemaligen Erzfeind: Martin Roemershat das fröhliche<br />
Durcheinander <strong>von</strong>Kriegsgerät im ehemaligen<br />
Kinosaal eines verlassenen sowjetischen Militärstützpunkts<br />
im OstenDeutschlands gefunden. Der globale<br />
Siegeszugder PopArt manifestiertsich auf der anderenSeiteder<br />
Front. Solche Überraschungen sind es,<br />
die dieses Buch über die Überbleibsel des Kalten Kriegesbemerkenswert<br />
vielschichtig machen. Der 1962im<br />
niederländischen Oldehove geborene Fotograf reiste<br />
elf Jahrelang durch die Länder auf beiden Seiten des<br />
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
Eisernen Vorhangsund besuchteRaketenabschussbasen,<br />
Flugzeughangars, Panzer,Turnhallen, Bunker,<br />
Kasernen, Spitäler,Ausbildungs- und Gefängnisräume.<br />
Die Bilder,die Roemers<strong>von</strong> seinen Reisen mitgebracht<br />
hat, sind aber weit mehr als Dokumenteeiner<br />
zurückliegenden Epoche globaler Konfrontation in<br />
Europa.Der renommierte Fotograf zeigt vielmehr,wo<br />
sich Ängsteauf beiden Seiten berühren und ganz ähnliche<br />
Formen der Abwehr hervorbringen. In der Serie<br />
<strong>von</strong>Tunnels findet sein archäologischer Blick eine<br />
Chiffreder Bedrohung und ein Mahnmal für die Hoffnung<br />
auf Frieden. GerhardMack<br />
Martin Roemers: Relics of the Cold War.<br />
Hrsg.Nadine Barth. Hatje Cantz, Ostfildern 2009.<br />
144Seiten, 73 Farbabbildungen, Fr.59.–.<br />
Denn sie alle verstossen gegen die patriarchalischen<br />
Sittengesetze einer sexuellen<br />
Paranoia, die schon kleinste weibliche<br />
«Überschreitungen» mit gröbster<br />
Gewalt ahndet. Allein die sündige Gegenwart<br />
einer Frau, wahrgenommen einzig<br />
als Sexobjekt und Verführungssubjekt,<br />
rechtfertigt die Fesseln <strong>von</strong> Burka und<br />
obligatorischer männlicher Begleitung.<br />
Nicht einmal ihre Unterwäsche dürfen<br />
diese Frauen alleine einkaufen.<br />
Die tote Leila zum Beispiel war<br />
eigentlich nur Hilfskraft bei einem Fernsehsender,<br />
aber sie hatte journalistische<br />
Ambitionen und verfolgte ausgerechnet<br />
ein Filmprojekt über die heuchlerische<br />
Doppelmoral der islamischen Männergesellschaft.<br />
Ihre kleinwüchsige Freundin<br />
Faruha hingegen ist als verachteter<br />
Krüppel zu ewigem Hausarrest verdammt.<br />
Während Katya behaupten<br />
muss, verheiratet zu sein, um ihre Stelle<br />
nicht zu verlieren. Und Fahu, die Ehefrau<br />
<strong>von</strong> Katyas liberalem Chef Osama,<br />
gefährdet ihre Ehe und ihre Existenz,<br />
weil sie keine weiteren Kinder mehr<br />
möchte. Miriam, die Amerikanerin, die<br />
ihrem Mann widerwillig zu einem<br />
beruflichen Aufenthalt nach Saudiarabien<br />
gefolgt ist, konstatiert mit zunehmender<br />
Bestürzung, wie ihr in diesem<br />
riesigen Frauenkerker der rassistischen<br />
Verschleierung und Segregation jedes<br />
westliche Selbstbewusstsein abhanden<br />
kommt. Dass es ihrem Mann hier – bis<br />
zu seinem plötzlichen Verschwinden,<br />
dem zweiten Strang der Geschichte –<br />
verdächtig gut gefällt, verunsichert sie<br />
zusätzlich.<br />
Doppelter Spannungsbogen<br />
Doch Ferraris spielt nicht auf der<br />
Schwarz-Weiss-Klaviatur des umgedrehten<br />
Geschlechterhasses: Die Menschenwürde<br />
ist unteilbar, und wo sie für<br />
die eine Hälfte der Gesellschaft nicht<br />
gilt, wird die andere auf ihre Art zum<br />
Opfer des Systems werden. So sind die<br />
männlichen Protagonisten in «Totenverse»<br />
keine Pappkameraden eines fundamentalistischen<br />
Islams, sondern als<br />
differenziert herausgearbeitete Figuren<br />
indirekt seine überzeugendsten Kritiker.<br />
Der tiefreligiöse Nayir etwa leidet heftig<br />
unter seiner Sehnsucht nach Liebe<br />
und weiblicher Gesellschaft – besonders<br />
derjenigen <strong>von</strong> Katya. Die Frage, wie<br />
und ob die beiden trotz Begegnungsund<br />
Sprechverbot zusammenkommen<br />
können, gibt dem Roman einen Spannungsbogen<br />
über den klassischen Krimi-<br />
Thrill hinaus. Ebenso wie das Eheproblem<br />
des sonst weltoffenen Kommissars,<br />
der fast die Liebe seiner Frau verliert,<br />
weil die sich nicht getraut, ihm ihre<br />
unweiblichen Wünsche nach einem<br />
Beruf statt mehr Kindern zu gestehen.<br />
Ganz offensichtlich kennt Zoë Ferraris<br />
die Verhältnisse aus eigener Anschauung.<br />
Miriam dürfte ihre eigenen Erfahrungen<br />
als ehemalige Ehefrau eines<br />
Palästinensers in Jidda am deutlichsten<br />
spiegeln – und unseren ungläubigen<br />
Blick auf diese Welt des alltäglichen<br />
Grauens. ●
Essay Thomas Manns «Betrachtungen eines Unpolitischen» liegen erstmals in einer umfassend<br />
kommentierten Ausgabe vor–und lesen sich nun ganz anders<br />
Schauspieler<br />
desDeutschtums<br />
Thomas Mann: Betrachtungen eines<br />
Unpolitischen. Hrsg. Hermann Kurzke.<br />
S. Fischer,Frankfurt a. M. 2009. 2Bände,<br />
645und 783 Seiten, Fr.133.–.<br />
Von Manfred Papst<br />
Mit diesem Buch hat Thomas Mann es<br />
seinen Gegnern leicht gemacht und seinen<br />
Freunden schwer. Die «Betrachtungen<br />
eines Unpolitischen» entstanden in<br />
den Weltkriegsjahren 1915 bis 1918 – die<br />
Arbeit am «Zauberberg» war unterbrochen<br />
– und wurden Ende September<br />
1918 publiziert, als sich der völlige<br />
Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs<br />
bereits abzeichnete. Thomas<br />
Mann wollte die Auslieferung des Werks<br />
noch stoppen, aber angesichts <strong>von</strong> 3000<br />
Vorbestellungen liess sein Verleger<br />
Samuel Fischer nicht mit sich reden.<br />
Das Werk erschien zum denkbar<br />
unglücklichsten Zeitpunkt.<br />
Die «Betrachtungen» sind ein widersprüchliches<br />
Konglomerat aus Zivilisationskritik<br />
und Kulturphilosophie. Sie<br />
verherrlichen den Krieg als inneres<br />
Erlebnis und reinigende Kraft. Sie polemisieren<br />
gegen genau jene Konzepte<br />
<strong>von</strong> Humanismus, Demokratie und<br />
Friedenspolitik, die Thomas Mann später<br />
so nachdrücklich vertreten sollte.<br />
Sie setzen deutsche Innerlichkeit und<br />
kernige Eigentlichkeit gegen französische<br />
Oberflächlichkeit, Verweichlichung<br />
und Dekadenz, auch gegen den<br />
kleinlichen Merkantilismus der Briten,<br />
sind aber frei <strong>von</strong> Antisemitismus. Sie<br />
wettern ohne Ende gegen den verächtlichen<br />
Typus des Zivilisationsliteraten<br />
und meinen am Ende doch nur den<br />
grossen Bruder Heinrich. Der steht<br />
freilich so wenig im Schützengraben<br />
wie Thomas Mann selbst. Was die beiden<br />
auf dem Papier ausfechten, ist nicht<br />
zuletzt ein Bruderzwist um die geistige<br />
Vorherrschaft.<br />
Verdrechselter Stil<br />
Thomas Manns Streitschrift ist <strong>von</strong><br />
einem deutschnationalen Patriotismus<br />
durchdrungen, der so anstössig wie unglaubhaft<br />
wirkt. Doch stehen in dem<br />
monströsen Buch auch viele kluge Sätze<br />
über Ironie und Musik, über Schopenhauer,<br />
Nietzsche und Wagner. Es ist<br />
glänzend geschrieben und doch so verkrampft<br />
wie kein anderes Werk dieses<br />
grossen Autors. Zudem merkt man ihm<br />
an, dass für Thomas Mann im Lauf des<br />
Schreibprozesses etliche seiner Überzeugungen<br />
– vor allem das Kriegspathos<br />
<strong>von</strong> 1914 – fragwürdig werden. Er ist<br />
also gezwungen, die Räder am fahrenden<br />
Zug zu wechseln, ohne dass es<br />
einer merkt. Das führt zu einem mäan-<br />
dernden, relativierenden, verdrechselten<br />
Stil.<br />
In all seinen Büchern ist Thomas<br />
Mann ein Spieler – ein Schau-, auch<br />
Taschenspieler, ein Gaukler, ein Artist.<br />
Er selbst hat immer wieder auf diesen<br />
Umstand hingewiesen. Unter der Oberfläche<br />
des grossbürgerlichen Glanzes,<br />
den er repräsentiert, bröckelt, bröselt,<br />
rieselt es. Das gilt es zu überspielen und<br />
gleichzeitig fühlbar zu machen. Solches<br />
leistet die Kunst der Ironie. Sie bringt<br />
Figuren wie Thomas Buddenbrook,<br />
Gustav Aschenbach und den Prinzen<br />
Klaus Heinrich hervor, die das Weiche,<br />
Flutende, auf Rausch, Entgrenzung, seliges<br />
Versinken Bedachte in sich selbst<br />
überwinden, indem sie sich eine Verfassung<br />
geben und eine Ordnung etablieren,<br />
die ihnen doch zutiefst suspekt ist.<br />
Aber ist Thomas Mann auch in den<br />
«Betrachtungen» ironisch? Bei rechtem<br />
Bedenken: ja. Er wirft sich in einer Weise<br />
in Positur, die jedem wachen Leser auffallen<br />
muss. Der notorisch Überemp-<br />
Thomas Mann<br />
(sitzend) mit seinem<br />
Bruder Heinrich<br />
Mann, um 1900 in<br />
München.<br />
thOMas Mann archiv / KeYstOne<br />
findliche, nicht zufällig wegen Nervosität<br />
und Magenschwäche Ausgemusterte<br />
spielt den strammen Patrioten. Was geht<br />
da vor?<br />
Rettung ins Grossbürgertum<br />
Der deutsche Germanist Hermann Kurzke,<br />
dem wir die nach wie vor beste<br />
Gesamtdarstellung <strong>von</strong> Thomas Manns<br />
Leben und Werk verdanken («Thomas<br />
Mann. Das Leben als Kunstwerk», 1999),<br />
lädt uns mit seiner neuen, umfassend<br />
kommentierten Edition der «Betrachtungen»<br />
ein, Thomas Manns Schmerzensbuch<br />
neu und anders als bisher zu<br />
lesen. Er versteht den Text als Rollenspiel<br />
– und als das «dunkle Zentrum» im<br />
Werk, «das alle Anziehungen und<br />
Abstossungen organisiert». Thomas<br />
Mann, so Kurzke sinngemäss, zwängt<br />
sich in das Korsett einer Überzeugung,<br />
gerade weil ihm der innere Halt fehlt. Er<br />
ist gar kein Gesinnungstäter, sondern<br />
bloss ein «Schauspieler des Deutschtums»<br />
– einer, der sich vor den eigenen<br />
Abgründen (Homosexualität, Bohème,<br />
verbummelte Jugend) in ein geordnetes<br />
Leben (grossbürgerliche Heirat, Familie,<br />
eiserne Arbeitsdisziplin) rettet. Doch im<br />
Grunde weiss Thomas Mann – das ist<br />
Kurzkes Überzeugung – um seine Unfähigkeit<br />
zum Vordenker des Patriotismus.<br />
Wenn es mit Volk und Vaterland so<br />
einfach bestellt wäre, müsste er seine<br />
Haltung nicht auf sechshundert Seiten<br />
gewunden erklären. Und deshalb<br />
betreibt er auch hier ein raffiniertes<br />
Spiel mit fremden Texten, mit Zitaten,<br />
die meist nicht kenntlich gemacht sind.<br />
Kurzke legt en détail dar, dass Aberhunderte<br />
<strong>von</strong> Passagen der «Betrachtungen»<br />
aus verschiedensten Quellen<br />
stammen, aus Zeitungen, Zeitschriften,<br />
Büchern, und dass Thomas Mann sich<br />
hier einmal mehr in der «Kunst des<br />
höheren Abschreibens» übt, dass er collagiert,<br />
arrangiert, Kulissen aufbaut:<br />
Nicht weniger als 4000 Zitate <strong>von</strong> rund<br />
400 verschiedenen Personen weist der<br />
Germanist in dem Buch nach.<br />
Man muss Hermann Kurzke, der sich<br />
seit seiner Dissertation ein Forscherleben<br />
lang mit den «Betrachtungen»<br />
beschäftigt hat, nicht in allen Punkten<br />
folgen. Seine Lektüre des Werks als<br />
eines biografischen Irrgartens birgt die<br />
Gefahr, dass die objektive politische<br />
Dimension der Kampfschrift verharmlost<br />
wird. Doch welche Schlüsse der<br />
Leser selbst auch ziehen mag – nie hat<br />
ihm dabei ein so sorgsam edierter und<br />
akribisch kommentierter Text zur Verfügung<br />
gestanden, nie hat er so genau<br />
nachvollziehen können, auf welch verschlungenen<br />
und schmerzlichen Wegen<br />
Thomas Mann schliesslich doch noch<br />
zum urbanen Demokraten wurde. ●<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik<br />
Roman Der deutsche Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil lernte erst mit sieben Jahren zu sprechen. In seinem<br />
stark autobiografischen Buch erzählt er die Geschichte einer symbiotischen Mutter-Sohn-Beziehung<br />
Mutterliebe wird zur Droge<br />
Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des<br />
Lebens. Luchterhand, München 2009.<br />
590Seiten, Fr 39.90.<br />
Von Angelika Overath<br />
«Die Erfindung des Lebens» ist ein stark<br />
autobiografischer Text. Gleich zu Beginn<br />
gerät der Leser in den Sog eines muffigeleganten<br />
Köln der 1950er Jahre, mit<br />
stundenlang vor sich hinkochenden<br />
köstlichen Elementarsuppen (Knochen,<br />
Gemüse, Mutterliebe), er stolpert durch<br />
die schwarze Pädagogik einer deutschen<br />
Nachkriegsschule, hört die alte Stille des<br />
noch fernsehfreien Wohnzimmers, wenn<br />
aus dem Radio rauschgestörte Hörspiele<br />
für Kinder kommen. Aber er überblickt<br />
diese Tableaus im hellen Rom der<br />
Gegenwart (Piazza di Santa Maria Liberatrice,<br />
im Viertel Testaccio) bei einem<br />
italienischen Kaffee mit porösem<br />
Schaum etwa, wo ein Mann, der Schriftsteller<br />
geworden ist, seine Kindheit und<br />
Jugend niederschreibt. Der Mann ist<br />
unschwer als der Autor selbst zu erkennen.<br />
Das Brot seiner frühen Jahre ist so<br />
romanhaft, dass es, um glaubwürdig<br />
geteilt zu werden, wiedergefunden werden<br />
muss. «Schritt für Schritt will ich<br />
mein Leben noch einmal ergründen und<br />
jedem kleinen Wink nachgehen. Letztlich<br />
folge ich dabei nur einigen Lichtsequenzen<br />
in einem grossen Dunkel.»<br />
Stummheit als Liebesband<br />
Erzählen erdet. Der Roman ist letztlich<br />
die Geschichte eines missbrauchten<br />
Kindes, das erst im Liebesverrat an der<br />
Mutter sprechen lernt und sein Ausgesetztsein<br />
über das (zunächst mütterlich<br />
begleitete) Klavierspiel und am Ende<br />
schreibend meistern wird. Aber so hart<br />
formuliert es der Autor nicht. Ortheil<br />
schreibt zärtlich suchend aus Kindersicht.<br />
Und der Leser begreift dicht an<br />
der Seite des Knaben tatsächlich erst<br />
mit der Zeit das Ausmass der Katastrophe.<br />
Das Ehepaar Catt, Vater Josef, Vermessungsingenieur<br />
bei der Bahn, Mutter<br />
Katharina, Hausfrau, verlor bei einem<br />
Bombenangriff in Berlin seinen erstgeborenen<br />
Sohn. Die Familie flieht aufs<br />
Land, wo bei Kriegsende ein verirrter<br />
Granatsplitter den zweiten, dreijährigen<br />
Sohn trifft. Er stirbt in den Armen der<br />
Mutter, die die Sprache verliert. Ihre<br />
beiden nächsten Söhne sind Totgeburten.<br />
Johannes ist ihr fünfter Sohn. Er<br />
wird ihr Einziges, ihr alles. Und er bleibt<br />
stumm, wie sie. Die Stummheit ist das<br />
Liebesband zwischen Mutter und Sohn.<br />
Die Mietwohnung im Kölner Norden<br />
umschliesst beide wie ein dunkler Uterus.<br />
In völligem Gleichklang leben sie<br />
hier einen ritualisierten Tag. Die Mutter<br />
liest und notiert Gedanken auf kleine<br />
Zettel, die sie mit einem Gummi zusammenfasst.<br />
Das Kind verhält sich still; es<br />
ist für die Mutter da. Bei den seltenen<br />
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
pLainpicture / wiLdcard<br />
Hanns-Josef Ortheil<br />
erzählt die Geschichte<br />
eines missbrauchten<br />
Kindes, das ins<br />
Klavierspiel flüchtet.<br />
Einkäufen versteht es sich als Begleitschutz,<br />
es bleibt «in unmittelbarer<br />
Reichweite (...), so dass wir überall, wo<br />
wir hinkamen, wirklich den Eindruck<br />
eines fest aneinandergeketteten Paars<br />
machten». Gegen Abend wartet das<br />
Kind am Fenster auf die Heimkunft des<br />
Vaters. Der liest am Küchentisch – der<br />
Höhepunkt des Tages – die Zettel der<br />
Mutter laut vor. Als es mit der Einschulung<br />
zum Einbruch in die finstere Idylle<br />
kommt (Mutter und Kind akzeptieren<br />
die Trennung nicht, der stumme Junge<br />
wird zum Idioten der Klasse), zieht der<br />
Vater die Reissleine und nimmt den<br />
Buben zu seinen Eltern aufs Land. Hier,<br />
in der natürlichen Umgebung eines<br />
grossen Bauernhofs, beginnt die Entwöhnung<br />
<strong>von</strong> der sedierenden Liebesdroge.<br />
Es ist anrührend zu lesen, wie der<br />
Vater sich in das stumme Kind einfühlt<br />
und entdeckt, dass der Junge über das<br />
Zeichnen nach der Natur schreiben lernen<br />
kann. Er hält ihn an, alles, was er<br />
beobachtet, in Kladden aufzuschreiben.<br />
Das Kind, das mit den Zetteln der Mutter<br />
gross geworden ist, folgt. Sein Sprechen<br />
beginnt bezeichnenderweise, nachdem<br />
der Junge heimlich die nachgereiste<br />
Mutter nackt im See sieht, wie sie<br />
schwimmt und singt. Am selben Abend<br />
ruft er fussballspielenden Kindern zu:<br />
«Gebt mal her.» Und als die Mutter spä-<br />
ter in der Gaststube Chopin spielt, inszeniert<br />
er eifersüchtig seinen eigenen<br />
Auftritt. Bevor das Essen beginnt,<br />
schliesst er die Augen und spricht eine<br />
unheimliche Inventur: «Das ist eine<br />
Suppenschüssel, und daneben ist eine<br />
Suppenkelle. Da ist ein Unterteller...»<br />
Lebensweg Schriftsteller<br />
Der Weg des Jungen führt später über<br />
ein Musikinternat nach Rom zum Klavierstudium;<br />
eine frühe, aussichtsreiche<br />
Karriere muss er jedoch wegen Sehnenscheidenentzündung<br />
abbrechen. Zurück<br />
bei den Eltern, weiss er nicht, was er tun<br />
soll. Die Mutter liest ihm französische<br />
Romane vor. In ihrer Nähe ist er ohne<br />
Hoffnung glücklich. Der Hinweis eines<br />
alten Lehrers, er habe doch immer schon<br />
gelebt wie ein Schriftsteller, wirkt erleuchtend.<br />
Dem einst aus Hingabe stummen<br />
Kind öffnet sich im Schreiben ein<br />
Lebensweg. Sorgfältig hat Ortheil eine<br />
kleine Pianisten-Spiegelgeschichte mit<br />
dem begabten römischen Nachbarmädchen<br />
Marietta eingeflochten, dem der<br />
Schriftsteller Johannes Klavierunterricht<br />
gibt. Das Buch endet mit einem<br />
Musikrausch. Nach dem Auftritt Mariettas<br />
gibt Johannes ein spontanes Konzert.<br />
Unter dem Applaus visioniert er die<br />
alten Eltern in der Ewigen Stadt. Die<br />
Liebe ist ein kostbares Leid. Und was<br />
anderes wäre die Kunst? ●
steFan JÄggi / KeYstOne<br />
Krimi Der Roman des Schweizer Autors<br />
Linus Reichlin handelt <strong>von</strong> Schicksal und<br />
Vorsehung – und einem Verbrechen<br />
Der Ermittler<br />
als Täter<br />
Linus Reichlin: Der Assistent der Sterne.<br />
Galiani, Berlin 2009. 384 Seiten, Fr.34.50.<br />
Von Christine Brand<br />
Ein frühpensionierter Polizeiinspektor,<br />
der als Deutscher im belgischen Brügge<br />
lebt, sich mehr für Quantenphysik als für<br />
Verbrechen interessiert und trotzdem<br />
erneut zielsicher in ein solches hineinkatapultiert<br />
wird: Das ist Hannes Jensen,<br />
den der Schweizer Autor Linus Reichlin<br />
in seinem mit dem Deutschen Krimipreis<br />
ausgezeichneten Erstling «Die Sehnsucht<br />
der Atome» geschaffen hat und dessen<br />
Geschichte, die keine alltägliche ist, sich<br />
im neuen Roman «Der Assistent der<br />
Sterne» turbulent weiterdreht.<br />
Eigentlich ist Jensen, bei dem man<br />
sich zuerst überlegen muss, ob man ihn<br />
mag oder nicht, ein Realist. Mit Esoterik<br />
hat er nichts am Hut. Übersinnliches tut<br />
er als Unsinniges ab. Und an Schicksal<br />
glaubt er sowieso nicht. Bis er auf mitunter<br />
skurrile Art und Weise erfahren<br />
muss, dass nicht alles rational erklärbar<br />
und manches womöglich sogar vorhersehbar<br />
ist.<br />
So dreht sich die Geschichte um ein<br />
Verbrechen, das noch gar nicht geschehen<br />
ist und in dessen Mittelpunkt Jensen<br />
nicht als Ermittler, sondern als möglicher<br />
Täter stehen wird. Das prophezeit<br />
ihm zumindest ein afrikanischer Wahrsager,<br />
der ihm rät, sich <strong>von</strong> einer gewissen<br />
Vera Laechert fernzuhalten. Jensen,<br />
der die Frau nicht kennt, ignoriert den<br />
Rat, begibt sich auf einen obskuren Trip<br />
nach Island und lässt sich dort auf eine<br />
Nacht mit einer Unbekannten ein, die<br />
ihn in den Hals beisst. Nur mit Mühe<br />
kann Jensen die Wunde vor seiner<br />
schwangeren Geliebten zu Hause verstecken;<br />
ihrer Blindheit sei Dank. Doch<br />
die Bisswunde scheint die Vorhersage<br />
wahr werden zu lassen: Der künftige<br />
Mörder <strong>von</strong> Vera Laechert, besagt diese,<br />
trage ein Mal am Hals. Je vehementer<br />
sich Jensen gegen den Lauf der Dinge<br />
stemmt, desto unabwendbarer erscheint<br />
das prophezeite Drama.<br />
Der Autor Linus Reichlin foutiert sich<br />
um das klassische Krimi-Schema; er<br />
wagt den Spagat zwischen den Genres.<br />
Der verschlungene Plot droht dabei<br />
zuweilen abzuheben und wirkt<br />
manchmal etwas gar konstruiert.<br />
Doch die Wirrungen sind packend,<br />
die eigenartigen Charaktere wachsen<br />
einem dann doch ans<br />
Herz, Reichlins stimmige<br />
Sprache überzeugt, und<br />
er hält die Spannung bis<br />
zum Schluss hoch. Sein<br />
Roman über Schicksal<br />
und Vorsehung ist eine –<br />
gelungene – Gratwanderung.<br />
●<br />
Kurzkritiken Belletristik<br />
Michael Herzig: Die Stunde der Töchter.<br />
Kriminalroman. Grafit, Dortmund 2009.<br />
285Seiten, Fr.17.50.<br />
Johanna <strong>von</strong> Orléans kämpfte gegen die<br />
Engländer, die Zürcher Polizistin Johanna<br />
di Napoli bietet der Mafia die Stirn.<br />
Michael Herzig schickt seine aus dem<br />
Emmental stammende und der Regionalwache<br />
Aussersihl als Quotenfrau<br />
aufgedrückte di Napoli zum zweiten<br />
Mal in den Kampf gegen Verbrechen<br />
und Männerbündelei. Diesmal geht es<br />
um illegalen Kulturgüterhandel und um<br />
die Folgen väterlicher Vernachlässigung.<br />
Di Napoli, Enddreissigerin sowohl<br />
mit Bindungsängsten wie -sehnsüchten,<br />
bewährt sich erneut als Kampfweib<br />
erster Güte, das Herz auf dem<br />
rechten Fleck. Der 44-jährige Herzig,<br />
hauptberuflich Leiter des Geschäftsbereichs<br />
Sucht und Drogen der Stadt<br />
Zürich, hat die verschiedenen Erzählstränge<br />
und den Spannungsbogen sicher<br />
in der Hand. So könnte man sich den<br />
geplanten Neustart eines schweizerischen<br />
«Tatorts» vorstellen.<br />
Regula Freuler<br />
Juan Carlos Onetti: Der Schacht. Für<br />
diese Nacht. Niemandsland. Suhrkamp,<br />
Frankfurt a.M. 2009. 611 Seiten, Fr.54.90.<br />
Der Uruguayer Erzähler Juan Carlos<br />
Onetti (1909–1994) zählt mit dem Argentinier<br />
Jorge Luis Borges zu den Begründern<br />
der modernen lateinamerikanischen<br />
Literatur. Im Rahmen der hoch<br />
zu lobenden fünfbändigen Werkausgabe,<br />
die der Suhrkamp-Verlag ihm widmet,<br />
sind nun die ersten drei Bücher des<br />
an Conrad, Céline und Faulkner geschulten<br />
Romanciers erschienen: der so ungestüme<br />
wie knappe Erstling «Der<br />
Schacht» (1939), der Grossstadtroman<br />
«Niemandsland» (1941) und der Bürgerkriegsroman<br />
«Für diese Nacht». Letzterer<br />
erzählt aufs Packendste <strong>von</strong> einem<br />
Mann, der in einer eingekesselten<br />
Hafenstadt vor seinen Gegnern durch<br />
die Nacht flieht. Onetti, der zur Zeit der<br />
Entstehung dieser Texte als Journalist<br />
für eine politische Zeitschrift sowie als<br />
Redaktor für die Nachrichtenagentur<br />
Reuters in Montevideo arbeitete, zeigt<br />
sich schon hier als so genuiner wie<br />
formbewusster Autor.<br />
Manfred Papst<br />
Eudora Welty: Ein Vorhang aus Grün.<br />
Erzählungen. Kein &Aber,Zürich 2009.<br />
368 Seiten, Fr 34.50.<br />
Geboren 1909 in Jackson, Mississippi,<br />
gestorben 2001 in Jackson, Mississippi.<br />
Doch so wie andere die Welt bereisen<br />
und nichts zu erzählen haben, wusste<br />
(die durchaus weitgereiste) Eudora<br />
Welty aus ihrer Heimat in den Südstaaten<br />
und seinen Bewohnern die<br />
Welt (und innere Welten) zu ersinnen.<br />
Sie war Vorbild für literarische Grössen<br />
wie Truman Capote und Richard<br />
Ford, gewann 1973 den Pulitzerpreis<br />
und fotografierte. Ihre Kurzgeschichtensammlung<br />
«A Curtain of Green»<br />
erschien erstmals 1941 auf Englisch, die<br />
letzten beiden Texte in dieser Ausgabe<br />
liest man aber nun zum ersten Mal auf<br />
Deutsch. Allesamt sind es wundersam<br />
poetische Geschichten, die <strong>von</strong> Beobachtungsleidenschaft<br />
zeugen. Schön,<br />
dass der Verlag sie wieder greifbar<br />
macht; schade, dass er die Gelegenheit<br />
zu einer ausführlicheren Biografie verpasst.<br />
Regula Freuler<br />
Lioba Happel: Land ohne Land. Gedichte.<br />
Edition Pudelundpinscher,Unterschächen<br />
2009. 83 Seiten, Fr.28.–.<br />
Lioba Happels Werk ist schmal. 1989<br />
machte die 1957 im fränkischen Aschaffenburg<br />
geborene Autorin bei Suhrkamp<br />
mit dem Gedichtband «Grüne Nachmittage»<br />
auf sich aufmerksam, 1991 folgte<br />
die Erzählung «Ein Hut wie Saturn».<br />
Doch nach einem weiteren Gedichtband,<br />
«Der Schlaf überm Eis» (Schöffling,<br />
1995) wurde es schon wieder still um die<br />
begabte, eigenwillige Autorin, die inzwischen<br />
hauptsächlich in Lausanne lebt.<br />
Fast fünfzehn Jahre sollten verstreichen<br />
bis zu ihrem neuen Gedichtband, «Land<br />
ohne Land». Der Ton ist indes unverkennbar<br />
der gleiche geblieben: Romantische<br />
Phantasien treffen auf Alltagsszenen,<br />
stark rhythmisierte Langgedichte<br />
wechseln ab mit enigmatischen Versund<br />
Gedankensplittern. Im Schlaf und in<br />
Tagträumen steigen Erinnerungen auf,<br />
deuten sich Glück und Liebesleid an.<br />
Keine leichte Lektüre, aber eine auf<br />
inspirierende Weise irritierende und<br />
ergiebige.<br />
Manfred Papst<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay<br />
Wer sich einmal auf das Romanwerk <strong>von</strong> <strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> einlässt, kommt<br />
kaum mehr <strong>von</strong> ihm los. Was macht den einzigartigen Zauber dieses<br />
Erzählers aus? <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> bekennt sich zu seiner Obsession<br />
Ansichteneines<br />
stubenhockerischen<br />
<strong>Proust</strong>ianers<br />
Andere Leser lesen Bücher, und hin und wieder<br />
lesen sie, vielleicht, auch ein Buch <strong>von</strong> <strong>Marcel</strong><br />
<strong>Proust</strong>. Der <strong>Proust</strong>ianer tut das Gegenteil: Er<br />
liest <strong>Proust</strong> und hin und wieder, vielleicht, auch<br />
das Buch eines anderen Autors. Keinen Satz<br />
hält er für wahrer als Roland Barthes’ Feststellung,<br />
die «Recherche» (also <strong>Proust</strong>s 7-bändiger<br />
Roman «Auf der Suche nach der verlorenen<br />
Zeit») sei für den <strong>Proust</strong>ianer, was die Bibel für<br />
den Christen: Er liest jeden Tag in ihr, und sie<br />
spendet ihm Trost in allen Lebenslagen, ob er<br />
nun jung oder alt, verliebt oder todtraurig,<br />
spottlustig oder erleuchtungsbedürftig, auf Reisen<br />
oder in der Stube, eigenbrötlerisch oder<br />
Auswahl des <strong>Proust</strong>ianers<br />
Jean-Yves Tadié: <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>. Biografie.<br />
Suhrkamp,2008. 1266 Seiten, Fr.110.–.<br />
Luzius Keller: <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>Enzyklopädie.<br />
Hoffmann und Campe,2009.1018S., Fr.163.–.<br />
<strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>: Cahiers1à75. Bibliothèque<br />
nationale de France/Brepols.ImFebruar<br />
erscheintCahier 71, €200.–.<br />
Eric Karpeles: <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>und die Gemälde<br />
aus der Verlorenen Zeit. Du Mont, 2010.196 Abb.,<br />
352Seiten, Fr.58.– (ab22. 2. im Handel).<br />
Michael Maar: <strong>Proust</strong>s Pharao. Berenberg,<br />
2009.80Seiten, Fr.34.90.<br />
Cher ami... <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>imSpiegel seiner<br />
Korrespondenz. Hrsg.JürgenRitte und Reiner<br />
Speck. Snoeck, 2009.390 Seiten, Fr.80.90.<br />
Stéphane Heuets Comics zur«Recherche».<br />
Bisjetzt 5Bände.Delcourt, seit 1998, je Fr.25.–.<br />
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
salongängerisch ist. Die «Recherche» spendet<br />
diesen Trost übrigens nicht nur ästhetisch, weil<br />
<strong>Proust</strong> nun einmal die schönsten (wenn auch,<br />
zugegeben, die längsten) Sätze der Weltliteratur<br />
schreibt und die besten Metaphern zur<br />
Hand hat. Sie spendet ihn, ganz wie die Bibel,<br />
auch durch ihre Wahrheit. Denn die «Recherche»<br />
ist, da kennt der <strong>Proust</strong>ianer keinen Zweifel,<br />
auch eines der feinsten philosophischen<br />
Werke. Nur verkündet es seine Wahrheiten<br />
nicht in allgemeinen Begriffen, sondern in einer<br />
Folge detailliert und lebensnah geschilderter<br />
Desillusionierungen. Welcher Philosoph hat je<br />
so viele Täuschungen, also Unwahrheiten, aufgeklärt<br />
wie <strong>Proust</strong>? Und welcher lässt seine<br />
Figuren nach aller mitleidlosen, spöttischen,<br />
messerscharfen Decouvrierung zugleich so zart<br />
und menschlich aussehen wie <strong>Proust</strong>? Er ist<br />
nicht nur stilistisch und stofflich der universalste<br />
Autor, er ist auch der menschlichste.<br />
<strong>Proust</strong>forschung wächst<br />
Man muss sich den <strong>Proust</strong>ianer als einen glücklichen<br />
Menschen vorstellen. Was anderen<br />
Lesern eine unerträgliche Qual wäre, das<br />
Durchblättern tausendseitiger Wälzer, ist ihm<br />
die reine <strong>Freud</strong>e. Anders als <strong>Proust</strong>, der kein<br />
Sammler war, in seinem Zimmer kaum ein Bild<br />
hängen hatte und nur wenige Bücher besass,<br />
kommt der <strong>Proust</strong>ianer über die Jahre zu einer<br />
platzraubenden Kollektion <strong>von</strong> Text- und Tafelwerken.<br />
21 Brief- und 20 Textbände, alle reich<br />
kommentiert, bilden den Grundstock, zahllose<br />
Bildbände dienen dem Vergnügen des Auges,<br />
und jedes Jahr kommen ein paar hundert,<br />
in guten Jahren gar ein paar tausend Seiten<br />
<strong>Proust</strong>forschung dazu. Vorletztes Jahr etwa die<br />
1266 Seiten der deutschen Ausgabe <strong>von</strong> Tadiés<br />
<strong>Proust</strong>-Biografie und der sündhaft teure erste<br />
Doppelband der Faksimile-Ausgabe der<br />
«Cahiers», der handschriftlichen Notiz- und<br />
Entwurfshefte <strong>Proust</strong>s, diesen Winter die 1018<br />
Seiten <strong>von</strong> Luzius Kellers «<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> Enzyklopädie».<br />
Für den Frühling erwartet der <strong>Proust</strong>ianer<br />
die deutsche Ausgabe <strong>von</strong> Eric Karpeles’<br />
Tafelwerk mit allen in der «Recherche» erwähnten<br />
Gemälden. Wahrscheinlich kann man kaum<br />
einen Autor der Weltliteratur so genau kennen<br />
wie <strong>Proust</strong>, jeder Tag seines Lebens und jede<br />
«Auf der Suche nach der<br />
verlorenen Zeit» ist eines<br />
der feinsten philosophischen<br />
Werke. Es verkündet die<br />
Wahrheiten in einer Folge<br />
<strong>von</strong> Desillusionierungen.<br />
Zeile seines Schreibens scheint mehrfach hinund<br />
hergewendet, und gewiss wäre jeder andere<br />
Autor auf diese Weise längst zu Tode kommentiert.<br />
Nicht so <strong>Proust</strong>! Es bestätigt den<br />
<strong>Proust</strong>ianer in seiner Idolatrie, dass <strong>Proust</strong>s<br />
Werk durch alles, was man über es erfährt, nur<br />
immer facettenreicher, tiefgründiger und wunderähnlicher<br />
wird.<br />
Nehmen wir die Facetten. Gab es da im<br />
18. Band der Korrespondenz nicht diesen denkwürdigen<br />
Brief, in dem <strong>Proust</strong> sich über den<br />
geräuschvollen Sex seiner Nachbarn an der
Der französische Schriftsteller <strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> (1871–1922), knieend, mit seiner Familie in den Ferien in Neuilly, um 1892.<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13<br />
rue des archives / süddeutsche zeitung
Essay<br />
1983 wurde <strong>Proust</strong>s Erzählung «Un amour de Swann» <strong>von</strong> Volker Schlöndorff verfilmt. Die Hauptrollen spielten<br />
Jeremy Irons und Fanny Ardant (beide im Vordergrund).<br />
rue Laurent-Pichat beklagte? «Die Nachbarn<br />
treiben jeden Tag Liebe mit einer Raserei, die<br />
mich eifersüchtig macht. Wenn ich daran denke,<br />
dass diese Empfindung für mich noch schwächer<br />
ist als die, ein Glas kühles Bier zu trinken,<br />
beneide ich die Leute, die solche Schreie ausstossen,<br />
dass ich beim ersten Mal an einen Mord<br />
dachte, doch der Schrei der Frau, eine Oktave<br />
tiefer vom Mann wiederholt, hat mir über das<br />
Geschehen bald Gewissheit verschafft.» Und<br />
gab es nach dieser Passage in der Briefausgabe<br />
nicht merkwürdige Auslassungen in eckigen<br />
Klammern? Was da wohl noch gekommen wäre?<br />
Wenn der <strong>Proust</strong>ianer auf seiner Lustreise<br />
durch Tadiés Wälzer auf Seite 821 angekommen<br />
ist, löst sich das Rätsel – Tadié liefert die Textlücken<br />
nach. Er hat sich, wo, sagt er nicht, das<br />
Brieforiginal angesehen, das der Herausgeber<br />
der Korrespondenz noch nach einem unvollständigen<br />
Auktionskatalog zitiert hatte, und er<br />
hat einen bemerkenswerten Fund getan. «Der<br />
letzte Schrei ist noch nicht ganz ausgestossen»,<br />
heisst es in den ausgelassenen Sätzen, «da stürzen<br />
sie sich auf ein Sitzbad und der Krach endet<br />
mit einem Geräusch fliessenden Wassers.»<br />
Neue Facetten blitzen auf<br />
So weit so gut; das hatte auch schon Keller in<br />
seinem Kommentar zur «Recherche» nachgetragen.<br />
Doch dann wartet <strong>Proust</strong> mit einem<br />
Geständnis auf, dessen Unverblümtheit bei<br />
einem, der seine Homosexualität immer ebenso<br />
kunstvoll lebte wie verbarg, mehr als erstaunt.<br />
«Das völlige Fehlen eines Übergangs strengt<br />
mich an ihrer Stelle an, denn wenn es etwas<br />
gibt, das ich danach verabscheue, oder zumindest<br />
sofort danach, dann ist es, sich zu bewegen.<br />
Welcher Egoismus auch darin enthalten<br />
sein mag, die milde Wärme eines Mundes, der<br />
nichts mehr aufzunehmen hat, an derselben<br />
Stelle festzuhalten.»<br />
Das ist auch für die, die <strong>Proust</strong>s ebenso masochistische<br />
wie witzige Bordellszenen gelesen<br />
haben, eine nette Facette im Bild ihres <strong>von</strong> manchen<br />
für einen reinen Ästheten gehaltenen<br />
Autors. Was hätte man darum gegeben, Ähn-<br />
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
liches einmal in einem der feinsinnigen Bücher<br />
über den halbseidenen Stefan George zu lesen?<br />
Aber Tadié bringt diese Passage nicht um der<br />
knisternden Anekdote willen. Er erwähnt sie,<br />
weil sie für die überzeugende Methode seiner<br />
Biografie notwendig ist. Für Tadié ist die<br />
«eigentliche Biografie eines Schriftstellers»<br />
nicht spekulatives Stochern in der Vita des<br />
Künstlers, sondern die wohlbegründete «Biografie<br />
seines Werkes». Also zeigt er, wie <strong>Proust</strong><br />
seine Briefbemerkungen vom Juli 1919 fast<br />
Die Biografie sammelt die<br />
scheinbar unbedeutendsten<br />
Mosaiksteinchen und fügt<br />
sie zur Geschichte der<br />
Entstehung der berühmten<br />
«Recherche».<br />
wortwörtlich flugs in die Druckvorlage des<br />
Romanbandes «Sodom und Gomorrha» einfügte,<br />
in dessen Manuskript sie noch nicht standen.<br />
Und wie er in der 2.Auflage des Bandes mit<br />
handschriftlichen Randnotizen nochmals am<br />
Wortlaut der Stelle herumfeilte.<br />
Das ist das Wunder <strong>von</strong> Tadiés Biografie:<br />
Sie sammelt akribisch noch die scheinbar<br />
unbedeutendsten Mosaiksteinchen und fügt sie<br />
geduldig zur Entstehungsgeschichte der<br />
«Recherche» zusammen. Welche Einflüsse<br />
formten das so überwältigende Erkenntnisinstrument,<br />
als das uns <strong>Proust</strong>s Stil erscheint?<br />
Wie baute er seine so plastischen und so<br />
abgründigen Figuren auf, etwa den schwulen<br />
Baron Charlus, eine Figur, die auch Shakespeare<br />
wohl angestanden hätte? Tadié zeigt mit einem<br />
immensen Reichtum an Fakten, welch unglaubliches<br />
Quantum an Erfahrungen aller Art <strong>Proust</strong><br />
in sich aufnahm, um es in seinen Romankosmos<br />
umzuformen. Die Lektüre dieses Riesenwerkes<br />
gleicht freilich einer Winterwanderung in tie-<br />
pwe<br />
fem nassem Schnee, immer wieder sinkt man<br />
ein, oft verliert man den Weg. Erzählen kann<br />
Tadié wirklich nicht. Seine Biografie ist der Fall<br />
eines streckenweise fast unlesbaren, aber hundertprozentig<br />
unentbehrlichen Buches. Man<br />
ärgert sich nicht selten grün und blau – und<br />
wird zum Nachlesen doch stets zu diesem Standardwerk<br />
zurückkehren.<br />
Wie anders wird es dem <strong>Proust</strong>ianer, wenn<br />
er sich der vom Zürcher Romanistikprofessor<br />
und <strong>Proust</strong>forscher Luzius Keller herausgegebenen<br />
«<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> Enzyklopädie» zuwendet.<br />
Durch dieses Buch summt er wie eine Biene<br />
durch das Blütenmeer einer sonnenwarmen<br />
blühenden Alpenwiese. Was immer er während<br />
seiner <strong>Proust</strong>-Lektüre genauer wissen möchte<br />
– Keller weiss es. Ihn frappiert der Konversationsstil<br />
in <strong>Proust</strong>s Salonszenen? Kellers Konversationsartikel<br />
klärt ihn zuverlässig auf. Er<br />
fragt sich, was es mit den Monokeln auf sich<br />
hat, mit denen die Salonlöwen so wichtigtun?<br />
In der «Enzyklopädie» steht es. Was es mit den<br />
Figuren auf sich hat, die sich in den Salons tummeln,<br />
wer ihre Vorbilder sind – Keller fragen.<br />
Enzyklopädisches Wissen<br />
Das Nachschlagen summiert sich mit der Zeit<br />
zu einer überraschungsreichen Reise durch die<br />
Kulturgeschichte Frankreichs. Fast jeder Eintrag<br />
«vaut un détour», michelinisch gesprochen.<br />
Wir erfahren nicht nur, wie sich in <strong>Proust</strong>s<br />
Umgang mit Racines jüdischer Dramenheldin<br />
Esther sein Verhältnis zu seinem eigenen Judentum<br />
verpuppte. Wir werden <strong>von</strong> Keller auch auf<br />
einen ganz eigenen Lektüre- und Suchparcours<br />
gewiesen. Im Konversationsartikel lesen wir:<br />
«Wir sprechen für die anderen. Doch wir<br />
schweigen für uns selbst. Deshalb trägt das<br />
Schweigen, im Gegensatz zum Sprechen, nicht<br />
die Spur unserer Fehler und unserer Grimassen.<br />
Es ist rein.»<br />
Wie konnte man diese Sätze aus «Tage des<br />
Lesens» vergessen; man geht hin und liest nach.<br />
Und nicht selten legt man die «Enzyklopädie»<br />
mit lautem Lachen aus der Hand. Wer wusste<br />
schon, «dass <strong>Proust</strong> bis um 1900 prou ausgesprochen<br />
wurde, dass mit dem gleichlautenden<br />
‹prout› das Geräusch eines Furzes bezeichnet<br />
wird und dass ‹prout› als Interjektion Schwulheit<br />
evoziert»?<br />
In der französischen Originalausgabe der<br />
«Enzyklopädie» sucht man die feinsten Einsichten<br />
der deutschen indes vergeblich. Keller<br />
hat das <strong>von</strong> den besten <strong>Proust</strong>forschern verfasste<br />
Kollektivwerk für die deutsche Ausgabe<br />
<strong>von</strong> recht vielen schwachen Artikeln befreit<br />
und zahllose neue eigene beigesteuert. Das ist<br />
Kellers Stil: Diskret liefert er sein Hauptwerk in<br />
Gestalt eines fast anonym daherkommenden<br />
Sammelwerkes ab, in dem, wenn man genauer<br />
hinsieht, zufällig einfach ein paar hundert Seiten<br />
<strong>von</strong> ihm verfasst sind. Sein zweites Hauptwerk<br />
übrigens; das erste waren die 14 Bände der<br />
Frankfurter <strong>Proust</strong>-Ausgabe, die er herausgegeben,<br />
kommentiert und übersetzerisch revidiert<br />
hat – gibt es für so was eigentlich keine<br />
Literaturpreise?<br />
Was tut der <strong>Proust</strong>ianer, wenn er lesensmüde<br />
wird? Er reist im Mai nach Illiers, das <strong>Proust</strong> als<br />
Combray verewigt hat, schnuppert durchs Haus<br />
der <strong>Proust</strong>s, bummelt der Vi<strong>von</strong>ne entlang, die<br />
in Wirklichkeit Loir heisst, bewundert den Flieder<br />
und reist weiter ins <strong>Proust</strong>sche Seebad<br />
Balbec, das in Wirklichkeit Cabourg heisst,<br />
mietet sich im Grand-Hotel ein und sieht aufs<br />
Meer. Wenn ihn die tröstliche Einsicht überkommt,<br />
dass <strong>Proust</strong> das alles viel schöner<br />
beschrieben hat, als es ist, dass die Literatur<br />
also dem (Reise-)Leben vorzuziehen sei, reist<br />
er heim und macht weiter wie immer. Man<br />
muss sich den <strong>Proust</strong>ianer eben als einen glücklichen<br />
Menschen vorstellen. ●
gaËtan BaLLY / KeYstOne<br />
Kolumne<br />
Charles Lewinskys Zitatenlese<br />
Charles Lewinsky,<br />
63, ist Schriftsteller,<br />
Radio- und TV-Autor<br />
und lebt in Frankreich.<br />
Sein neues Buch<br />
«Doppelpass» ist<br />
kürzlich bei Nagel &<br />
Kimche erschienen.<br />
Ein Roman ist ein<br />
Roman, wie ein Pudding<br />
ein Pudding ist. Bei<br />
beiden besteht die<br />
Aufgabe darin, sie so zuzubereiten,<br />
dass sie gerne verzehrt werden.<br />
Henry James<br />
Man nehme, je nach geplantem Buchumfang,<br />
drei bis sieben gut abgehangene<br />
Charaktere, vorzugsweise aus<br />
eigener Jagd in freier Wildbahn. Sollten<br />
Sie wegen anderweitiger Verpflichtungen<br />
wie Lesungen und Autogrammstunden<br />
zum Selberjagen – oder, wie<br />
der Fachmann das nennt: Erleben –<br />
keine Zeit haben, so ist das auch nicht<br />
weiter schlimm. Sie können bei der<br />
Besorgung Ihrer Protagonisten selbstverständlich<br />
auch auf Konserven<br />
zurückgreifen, wobei sich die grossen<br />
Marken wie Homer oder Shakespeare<br />
schon bei vielen Literaturköchen<br />
bewährt haben. Falls Ihren Charakteren<br />
die Wiederverwertung allzu deutlich<br />
anzumerken ist, empfiehlt es sich,<br />
stilistisch entsprechend kräftiger zu<br />
würzen.<br />
In alten Kochbüchern wird oft auch<br />
noch eine sogenannte Handlung als<br />
unabdingbarer Bestandteil jedes<br />
Buches genannt. In der modernen<br />
Küche sieht man das jedoch nicht mehr<br />
so eng.<br />
Ganz wichtig ist aber die Wahl des<br />
richtigen Gefässes für Ihr Menu. Wenn<br />
Sie sich für ein zu grosses Format entscheiden,<br />
besteht die Gefahr, dass ihre<br />
Figuren allzu sehr ausgekocht werden<br />
müssen und entsprechend blutleer werden.<br />
Merke: Eine prägnant angerichtete<br />
Kurzgeschichte mundet oft besser als<br />
ein mit zu viel Wortsauce gestreckter<br />
Roman.<br />
Bevor Sie die Figuren in das ausgewählte<br />
Gefäss packen, sollten diese in<br />
der gewünschten Duftnote mariniert<br />
werden. Die beliebteste Geschmacksrichtung<br />
ist nach wie vor Liebe (in<br />
jedem guten Arztroman erhältlich).<br />
Aber auch Weltschmerz, Tragik oder<br />
junges Glück werden immer wieder<br />
gern genommen. Wenn Sie eine grössere<br />
Zahl <strong>von</strong> Kunden verpflegen wollen,<br />
ist es in der Regel ratsam, auf allzu<br />
pikante Gewürze wie Zynismus oder<br />
Pornografie zu verzichten.<br />
Hacken Sie das Ganze in nicht allzu<br />
lange Sätze, weil diese ungeübten<br />
Lesern beim Verzehr oft Probleme<br />
bereiten. In Ihrer persönlichen Stil-<br />
Bouillon sautieren und bei mittlerer<br />
Hitze kochen. Allzu grosses Feuer ist<br />
nur bei Abenteuerromanen und Biografien<br />
<strong>von</strong> Brandstiftern zu empfehlen.<br />
Und dann: rühren, rühren, rühren.<br />
Denken Sie immer an die Devise der<br />
Meisterköchin Hedwig Courths-<br />
Mahler: «Zu viel Rührung kann es gar<br />
nicht geben.»<br />
Das fertige Buch mit einem gut<br />
gestalteten Umschlag und ein paar hübschen<br />
Klappentexten<br />
garnieren und rechtzeitig<br />
vor der Buchmesse<br />
servieren.<br />
Auf gutes Gelingen!<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
Giorgio Vasari: Das Leben des<br />
Michelangelo. Wagenbach, Berlin 2009.<br />
576 Seiten, Fr.43.70.<br />
Nicht Leonardo da Vinci oder Sandro<br />
Botticelli, sondern Michelangelo Buonarroti<br />
war für Giorgio Vasari der grösste<br />
Künstler. In ihm gipfelt für den Biografen<br />
die Entwicklung der Kunst, er<br />
erfüllt am reinsten den universalen<br />
Anspruch der Renaissance. Vasari rückt<br />
den Michelangelo des David, seines<br />
jugendlichen Bravourstücks in Florenz,<br />
ebenso vor uns wie den Künstler der<br />
Päpste. Ein Tausendsassa und Energiebolzen,<br />
der den jüngeren Künstlern Vorbild<br />
sein sollte und den wir heute eher<br />
mit gemischten Gefühlen betrachten.<br />
Uns faszinieren eher die Brüche in der<br />
Biografie. Diese rückt der Kunsthistoriker<br />
Horst Bredekamp ins Zentrum seiner<br />
fünf Essays zum Künstler («Michelangelo»,<br />
Wagenbach 2009). Vom unzuverlässigen<br />
Vertragspartner bis zum<br />
exorbitant bezahlten Architekten des<br />
Petersdoms entsteht das Bild einer faszinierenden<br />
Persönlichkeit.<br />
Gerhard Mack<br />
Christine Kopp: Schlüsselstellen.<br />
49 Geschichten aus den Bergen. Filidor,<br />
Reichenbach 2009. 112 Seiten, Fr.28.–.<br />
«Die Puddingschlange» oder «Gipfelkuss<br />
mit Schweizer Armee»: Nicht nur<br />
die Titel der Kurzgeschichten sind ausgefallen.<br />
Auch deren Inhalt mitsamt den<br />
gelungenen Schwarzweissfotomontagen<br />
<strong>von</strong> Alex Luczy sind es. «Schlüsselstellen»<br />
heisst das kleine, feine Büchlein –<br />
gemeint sind eher Schlüsselerlebnisse.<br />
Jene, die wir aus den Bergen nach Hause<br />
nehmen oder <strong>von</strong> anderen berichtet<br />
erhalten. Spätestens beim Kapitel über<br />
«Die schönen blauen Schuhe» weiss die<br />
Leserschaft: Die Schlüsselstellen in den<br />
Bergen, die uns so oft herausfordern,<br />
haben ihren Ursprung anderswo. Und<br />
nicht selten «setzt der Mensch immer<br />
wieder selber erschütternde Denkmale<br />
seines Tuns» in den Bergen. Die Sehnsucht<br />
nach der Bergwelt, die heilende<br />
Wirkung ausübt, ist für die Alpinistin<br />
Christine Kopp Gewissheit genug, dass<br />
wir immer wieder aufbrechen.<br />
Charlotte Jacquemart<br />
Hans-Peter Bärtschi: Industriekultur im<br />
Kanton Zürich.<br />
Rotpunkt, Zürich 2009. 299 Seiten, Fr.42.–.<br />
Drei Jahre nach der «Industriekultur im<br />
Kanton Bern» folgt nun das Pendant für<br />
den Kanton Zürich. Wieder beackert der<br />
Architekt und Wirtschaftshistoriker<br />
Hans-Peter Bärtschi sein Spezialgebiet<br />
mit Engagement und Begeisterung. Entstanden<br />
ist ein Wanderführer der anderen<br />
Art, der zu Spinnereien im Tösstal<br />
oder zur Winterthurer Schwerindustrie<br />
führt. Bärtschi macht klar, dass auch die<br />
Industrie Teil unserer Kultur ist, dass<br />
deren Anlagen zu pflegen, zu inventarisieren<br />
und vor dem Vergessen zu bewahren<br />
sind. Maschinenfabriken, Rangierbahnhöfe<br />
und Arbeitersiedlungen haben<br />
durchaus ihren architektonischen Reiz,<br />
der im Umbau weitläufiger Fabrikhallen<br />
in teure Lofts gipfelt. Bärtschi verschweigt<br />
auch nicht das Arbeiterelend<br />
im 19.Jahrhundert mit Wochenarbeitszeiten<br />
<strong>von</strong> bis zu 84 Stunden. Der Führer<br />
liefert Routenbeschreibungen, Karten,<br />
Literatur- und Internethinweise.<br />
Geneviève Lüscher<br />
Gerhard Jelinek: Reden, die die Welt<br />
veränderten. Ecowin, Salzburg2009.<br />
310 Seiten, Fr.34.50.<br />
Einige der Reden kennt man, andere<br />
überraschen – Marie Curies Plädoyer für<br />
Radium etwa oder Steve Jobs Rede über<br />
den Tod, nach der Krebsdiagnose. Längst<br />
nicht alle hier versammelten Reden<br />
haben die Welt verändert, wie der Titel<br />
verspricht. Doch für einen geschichtlichen<br />
oder gesellschaftlichen Moment<br />
stehen sie allemal. Es ist deshalb frappierend,<br />
wie ihre chronologische Abfolge<br />
die Zeit ins Bewusstsein ruft, die <strong>von</strong><br />
der langen Bergpredigt Jesu bis zum<br />
kurzen Satz Neil Armstrongs auf dem<br />
Mond und zu Barack Obamas «Yes, we<br />
can» verflossen ist. Die meisten Reden<br />
sind begreiflicherweise stark gekürzt<br />
wiedergegeben, alle werden <strong>von</strong> einem<br />
einordnenden Text des Autors begleitet.<br />
Und ab der «Balkonrede» Kaiser Wilhelms<br />
II. vom 1.August 1914 kann man<br />
sie, über die entsprechenden Links im<br />
Quellenverzeichnis, sogar live hören.<br />
Kathrin Meier-Rust<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch<br />
Psychiatrie Der Briefwechsel zwischen Sigmund <strong>Freud</strong> und seinem Mitstreiter<br />
KarlAbraham erlaubt einen Blick in die Pionierzeit der Psychoanalyse. Undzeigt<br />
die Bedeutung des Burghölzli für die Weiterverbreitung der neuen Wissenschaft<br />
Männerfreundschaft<br />
mitseelischem Tiefgang<br />
ErnstFalzeder,Ludger M. Hermanns<br />
(Hrsg.): Sigmund <strong>Freud</strong>/Karl Abraham.<br />
Briefwechsel 1907–1925. Vollständige<br />
Ausgabe. 2Bände. Turia+Kant, Wien<br />
2009. 943Seiten, Fr.93.40.<br />
Von Sabine Richebächer<br />
Im Nachruf auf seinen viel jüngeren, am<br />
Weihnachtstag 1925 unerwartet verstorbenen<br />
Mitstreiter Karl Abraham schreibt<br />
Sigmund <strong>Freud</strong>: «Mit diesem Manne –<br />
integer vitae scelerisque purus – begraben<br />
wir eine der stärksten Hoffnungen<br />
unserer jungen, noch so angefochtenen<br />
Wissenschaft, vielleicht ein uneinbringliches<br />
Stück ihrer Zukunft.» Karl Abraham<br />
gehörte zur ersten Schülergruppe<br />
um <strong>Freud</strong>. Er blieb stets loyal, war <strong>Freud</strong><br />
und «der Sache» treu ergeben und hatte<br />
einen hervorragenden Leistungsausweis<br />
im Hinblick auf wissenschaftliche und<br />
organisatorischeTätigkeiten,diewesentlich<br />
zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse<br />
beigetragen haben. Im Gegensatz<br />
zu <strong>Freud</strong>-Schülern wie C.G.Jung, Sándor<br />
Ferenczi und Wilhelm Reich wurde es<br />
Klinik Burghölzli<br />
Der Arzt und PsychiaterEugen Bleuler<br />
(1857–1937)war <strong>von</strong>1898bis 1927<br />
Direktor der psychiatrischen Klinik<br />
Burghölzli in Zürich und der ersteeuropäische<br />
Klinikleiter,der sich mit der Psychoanalyse<br />
<strong>von</strong>Sigmund <strong>Freud</strong><br />
auseinandersetzte. Bleuler kannte<strong>Freud</strong>s<br />
Publikationen und rezensierte frühe Studien<br />
zurHysterie. Dadurch wurde das<br />
Burghölzli zu einem Zentrum des<br />
psychoanalytischen Denkens, das junge<br />
Forscher anzog:Neben Karl Abraham<br />
warendies vorallem Carl GustavJung<br />
sowie Ludwig Binswanger.<br />
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
um Abraham nach dessen Tod bald still.<br />
Umso erfreulicher ist, dass der vollständige<br />
Briefwechsel zwischen <strong>Freud</strong> und<br />
Abraham jetzt auch im deutschen Original<br />
vorliegt: Es handelt sich um 497<br />
Briefe, Karten und Mitteilungen, die<br />
eine Zeitspanne <strong>von</strong> 18 Jahren, vom Juni<br />
1907 bis zum November 1925, umfassen.<br />
Psychofreundliches Klima<br />
Karl Abraham wurde 1877 als zweiter<br />
Sohn einer orthodoxen jüdischen Kaufmannsfamilie<br />
in Bremen geboren.<br />
Sprachlich begabt und sprachwissenschaftlich<br />
interessiert, entschied er sich<br />
gleichwohl für das Medizinstudium. Von<br />
1901 bis 1904 arbeitete er als Oberarzt an<br />
der Irrenanstalt Dalldorf, nördlich <strong>von</strong><br />
Berlin gelegen. Sein grosser Wunsch, an<br />
der damals fortschrittlichen Kantonalen<br />
Irrenheilanstalt Burghölzli in<br />
Zürich zu arbeiten, ging Ende 1904 in<br />
Erfüllung, nachdem Klinikdirektor Professor<br />
Eugen Bleuler sich beim Zürcher<br />
Regierungsrat für ihn stark gemacht<br />
hatte: «Ein bisschen Auffrischung durch<br />
neue Ideen thut gewiss jeder Irrenanstalt,<br />
vor allem aber einer Klinik gut.<br />
Unter allen Umständen aber ist ein<br />
tüchtiger Fremder einem schlappen Einheimischen<br />
vorzuziehen.»<br />
Am Burghölzli sorgte Bleuler für ein<br />
psychoanalysefreundliches Klima und<br />
regte Mitarbeiter und Studenten dazu<br />
an, <strong>Freud</strong>s Schriften zu lesen, mit dem<br />
neuen psychoanalytischen Gedankengut<br />
zu experimentieren. Wie zahlreiche<br />
frühe Psychoanalytiker kam auch Abraham<br />
über die Zürcher Klinik zu <strong>Freud</strong>,<br />
den er im Sommer 1907 erstmals brieflich<br />
kontaktiert; sein erster Besuch in<br />
Wien findet im Dezember des gleichen<br />
Jahres statt. Da für Abraham als Nichtschweizer<br />
in der Schweiz beruflich kein<br />
Fortkommen ist, hat er sich entschieden,<br />
nach Berlin zu gehen. Er möchte dort als<br />
Nervenarzt und als <strong>Freud</strong>s Schüler Fuss<br />
fassen und bittet um dessen Empfeh-<br />
lung: «Ich weiss, wie schwer es im medizinischen<br />
Berlin ist, gegen eine Schulmeinung<br />
aufzukommen. In Zürich habe<br />
ich aufgeatmet. Keine Klinik in Deutschland<br />
hätte mir auch nur einen Teil dessen<br />
geboten, was ich hier vorgefunden<br />
habe.» <strong>Freud</strong> verspricht, energisch für<br />
Abraham einzutreten und bemerkt:<br />
«Dass Sie es als Jude schwerer haben,<br />
wird wie bei uns allen die Wirkung<br />
haben, alle Ihre Leistungsfähigkeit zum<br />
Vorschein zu bringen.»<br />
Betrachtet man die Pionierzeit der<br />
Psychoanalyse unter ihren eigenen<br />
Begrifflichkeiten wie Vatermord, Brudermord<br />
und anderen ödipalen Verwicklungen,<br />
so begegnen wir allenthalben<br />
deren Realisierung in den Bündnissen<br />
und Rivalitäten der beteiligten<br />
Männer untereinander. <strong>Freud</strong>s Beziehungen<br />
zu seinen Schüler-Söhnen<br />
verliefen in der Regel unglücklich, <strong>von</strong><br />
grosser Zuneigung über Konflikte und<br />
Enttäuschungen hin zu schmerzlichen<br />
Brüchen und Sezessionen. Mit Karl<br />
Abraham war das anders, vielleicht weil<br />
<strong>Freud</strong> nie so für ihn entbrannte wie beispielsweise<br />
für C. G. Jung oder Ferenczi.<br />
Der erste Teil des Briefwechsels<br />
dokumentiert die psychoanalytische<br />
Frühgeschichte, die Zeit der grossen<br />
Entdeckungen, eine Zeit auch des rapide<br />
wachsenden, internationalen Interesses<br />
an der neuen Wissenschaft. In dieser<br />
Phase ist Abraham der Lernende und<br />
Empfangende – <strong>Freud</strong> der Lehrer, dessen<br />
Entdeckungen und Hinweise begierig<br />
aufgenommen und teilweise bereits<br />
weiterentwickelt werden auf Abrahams<br />
besonderem Interessengebiet, der Psychiatrie,<br />
vor allem hinsichtlich Melancholie<br />
und manisch-depressiver Erkrankungen.<br />
Mit der spannenden Analyse<br />
<strong>von</strong> Giovanni Segantinis Leben und<br />
Werk führt Abraham das später so<br />
bedeutende Konzept der «frühen Mutter»<br />
in die Psychoanalyse ein. Die Briefe<br />
können auch als eine Dreiecksgeschich-<br />
LeeMage / MaXppp
te zwischen <strong>Freud</strong>, Jung und Abraham<br />
gelesen werden, wobei sich Letzterer –<br />
zu <strong>Freud</strong>s grossem Unmut – in seiner<br />
zukünftigen Rolle als Warner und Wächter<br />
der richtigen Lehre profiliert. <strong>Freud</strong><br />
klagt: «Warum kann ich Sie beide, Jung<br />
und Sie, Ihre Schärfe und seinen<br />
Schwung, nicht zusammenpassen?»<br />
Trost durch den Jüngeren<br />
<strong>Freud</strong>s Wunsch wird sich nicht erfüllen.<br />
1913 zieht Jung mit seinen Anhängern<br />
aus der neugegründeten Internationalen<br />
Psychoanalytischen Vereinigung (IPV)<br />
aus. Statt eines Kronprinzen soll hinfort<br />
ein Geheimes Komitee über die Psychoanalyse<br />
wachen; Abraham, nunmehr <strong>von</strong><br />
<strong>Freud</strong> als Dialogpartner geschätzt, wird<br />
in den inneren Führungszirkel der Psy-<br />
choanalyse berufen. Der Erste Weltkrieg<br />
bringt die Entwicklung der psychoanalytischen<br />
Bewegung zum Erliegen. Psychoanalytiker<br />
kämpfen an beiden Seiten<br />
der Front.<br />
Kriegsbegeisterung und Siegesvorfreude<br />
werden bald abgelöst <strong>von</strong> Sorgen<br />
um Freunde und, im Falle <strong>Freud</strong>s, um<br />
zwei Söhne und den Schwiegersohn.<br />
Abrahams «gleichmässiges Temperament»<br />
und «unzerstörbare Lebensbereitschaft»<br />
bringen dem Älteren ein<br />
wenig Trost, derweil die Psychoanalyse<br />
sich dank der speditiven Heilung <strong>von</strong><br />
Kriegsneurosen akademische Anerkennung<br />
verschafft. Nach Kriegsende entwickelt<br />
sich Berlin unter Abrahams Führung<br />
zum bedeutendsten psychoanalytischen<br />
Zentrum Europas: Das Berliner<br />
Psychoanalytische Institut und eine<br />
psychoanalytische Poliklinik werden gegründet;<br />
der erste systematische Ausbildungsgang<br />
zum Psychoanalytiker wird<br />
entwickelt, der in Grundzügen bis heute<br />
gilt. Abraham wird Präsident der IPV<br />
und weist bedeutende wissenschaftliche<br />
Publikationen auf – eine steile Karriere,<br />
die der frühe Tod beendet.<br />
Die einleitenden Bemerkungen zur<br />
Editionsgeschichte des Briefwechsels<br />
hätten ausführlicher sein können. Es<br />
gibt ein nützliches Personenregister;<br />
Sachregister, eine Zeittafel und Korrespondenzübersicht<br />
hingegen fehlen.<br />
Insgesamt ist die vorliegende Edition<br />
eine bedeutsame Dokumentation. ●<br />
Sabine Richebächer lebt als Psychoanalytikerin<br />
und Autorin in Zürich.<br />
Sigmund <strong>Freud</strong> (mit<br />
Zigarre) mit Sándor<br />
Ferenczi (sitzend,<br />
Mitte) und Karl<br />
Abraham (Zweiter <strong>von</strong><br />
links, stehend) im<br />
Kollegenkreis, 1922.<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch<br />
Erwerbslosigkeit Je mehr Langzeitarbeitslose,destomehr Fantasie braucht die Gesellschaftzur<br />
Lösung der sozialen Frage. Die Stiftung für Arbeit in St.Gallen zeigt, wie es funktionieren kann<br />
Arbeiten istmehr<br />
alsblosse Beschäftigung<br />
Lynn Blattmann, Daniela Merz:<br />
Sozialfirmen. Plädoyerfür eine<br />
unternehmerische Arbeitsintegration.<br />
Rüffer&Rub,Zürich 2010.176 S., Fr.38.–.<br />
Von Charlotte Jacquemart<br />
Wäre das Buch «Sozialfirmen» lediglich<br />
eine weitere theoretische Abhandlung:<br />
Wir würden es an dieser Stelle<br />
kaum besprechen. Doch es ist glücklicherweise<br />
weit mehr als graue Theorie.<br />
Es ist eine präzise Handlungsanleitung<br />
für alle, die versuchen, Langzeitarbeitslose<br />
in eine Art «zweiten» Arbeitsmarkt<br />
zu integrieren. Zudem beruht<br />
die verständlich geschriebene Anleitung<br />
nicht auf betriebswirtschaftlicher<br />
Theorie aus dem Elfenbeinturm der<br />
Wissenschaft, sondern auf praktischen<br />
Erfahrungen der «Stiftung für Arbeit»<br />
in St.Gallen, die seit 2002 das Konzept<br />
mit viel Erfolg umsetzt. Die Geschäftsführerin<br />
Daniela Merz – Schwiegertochter<br />
<strong>von</strong> Bundesrat Merz – hat das<br />
Buch zusammen mit ihrer Stellvertreterin<br />
Lynn Blattmann denn auch gleich<br />
selbst geschrieben.<br />
Niemand zweifelt daran, dass auch in<br />
der Schweiz neue Modelle zum Umgang<br />
mit der Sockelarbeitslosigkeit nötig<br />
sind. Denn diese steigt auch hierzulande<br />
an. Zwischen drei und vier Prozent der<br />
im Erwerbsalter stehenden Personen<br />
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
Karin hOFer<br />
sind ausgesteuert; 233484 Personen<br />
lebten 2007 <strong>von</strong> der Sozialhilfe. Zählt<br />
man die Bezüger <strong>von</strong> Invalidenrenten<br />
und Arbeitslosenentschädigungen dazu,<br />
wird deutlich, dass um die zehn Prozent<br />
der Bevölkerung im erwerbsfähigen<br />
Alter dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen<br />
sind. Weil sich selbst reiche<br />
Staaten wie die Schweiz steigende<br />
Sozialkosten kaum mehr leisten können,<br />
dürfte die Idee <strong>von</strong> marktwirtschaftlich<br />
geführten Sozialfirmen in Zukunft an<br />
Bedeutung gewinnen. Heute schon gibt<br />
die Schweiz über 3,2 Mrd. Franken für<br />
Sozialhilfe aus. Nur wenn die Betroffenen<br />
mit eigener Arbeit ein anständiges<br />
Daniela Merz, Chefin<br />
der Stiftung für Arbeit<br />
in St. Gallen.<br />
Einkommen erzielen, können diese Kosten<br />
gesenkt werden.<br />
Das Sozialunternehmen tritt an die<br />
heute nur ungenügend funktionierende<br />
Schnittstelle zwischen Staat und Privaten:<br />
Indem man Menschen, die heute<br />
vom «ersten» Arbeitsmarkt ausgeschlossen<br />
sind, eine sinnvolle und<br />
bezahlte Tätigkeit im «zweiten» Arbeitsmarkt<br />
anbietet, gelingt es nicht nur, den<br />
Betroffenen wieder einen Lebensinhalt<br />
zu geben, sondern man verbessert<br />
zusätzlich die Gesamtleistung einer<br />
Gesellschaft. Ziel ist, dass möglichst<br />
viele, die sich erfolgreich in eine Sozialfirma<br />
integrieren können, den Sprung<br />
zurück in den normalen Arbeitsmarkt<br />
finden. Das Beispiel St.Gallen zeigt, dass<br />
es möglich ist, Firmen zu finden, die<br />
Aufträge an Sozialfirmen vergeben. Und<br />
zwar nachhaltig: Waren beim Start im<br />
Jahr 2002 weit unter 100 Mitarbeiter mit<br />
dabei, sind es heute über 700 in St. Gallen,<br />
Arbon, Zürich und Winterthur.<br />
Vor allem im Bereich der industriellen<br />
oder industrienahen Arbeiten orten<br />
die Autorinnen ein grosses Potenzial für<br />
Aufträge an Sozialfirmen. Doch auch für<br />
Sozialfirmen gilt: Niemand vergibt<br />
Arbeitsaufträge aus sozialen Gründen –<br />
Qualität und Leistung der Arbeit müssen<br />
stimmen. Gerade darauf dürfte der<br />
Erfolg des St. Galler Modells beruhen.<br />
Bleibt zu hoffen, dass das Beispiel weiter<br />
Schule macht. ●<br />
Schweiz Nunbefasst sich auch der Wissenschaftsbetriebmit 1968 –eine Nachzügler-Publikation<br />
Das«bewegte» Jahrzehntinder Analyse<br />
Janick Marina Schaufelbuehl (Hrsg.):<br />
1968–1978. Ein bewegtes Jahrzehnt in<br />
der Schweiz. UnterMitarbeit <strong>von</strong>Nuno<br />
Pereiraund Renate Schär.<br />
Chronos, Zürich 2009. 333 Seiten, Fr.48.–.<br />
Von Urs Rauber<br />
Ein halbes Dutzend Bücher sind vor<br />
knapp zwei Jahren zum 40. Jahrestag <strong>von</strong><br />
1968 in der Schweiz erschienen, vornehmlich<br />
aus der Feder <strong>von</strong> Altachtundsechzigern.<br />
Inzwischen ist das<br />
Geschichtskapitel definitiv zum Forschungsgebiet<br />
der Wissenschaft geworden.<br />
Ein vom Nationalfonds unterstützter<br />
neuer Sammelband vereinigt 19<br />
Beiträge, die vor allem auf Lizentiatsarbeiten<br />
und Dissertationen der letzten<br />
Jahre fussen. Ging es den schreibenden<br />
Veteranen noch darum, sich die Deutungshoheit<br />
über ihre Geschichte nicht<br />
entreissen zu lassen, gehen jüngere Historiker<br />
nun unbefangener ans Werk.<br />
Eingeleitet wird der Reader zum<br />
«bewegten Jahrzehnt» durch einen Aufsatz<br />
der Berner Geschichtsordinaria<br />
Brigitte Studer und der Lausanner Historikerin<br />
Janick Marina Schaufelbuehl.<br />
Ihre Behauptung, in der Schweiz seien<br />
«die biografischen und subjektiven Ebenen»<br />
der 68er Bewegung noch «kaum<br />
erschlossen», überzeugt indes nicht.<br />
Verwiesen sei etwa auf die Biografiensammlung<br />
<strong>von</strong> Heinz Nigg «Wir sind<br />
wenige, aber wir sind alle» (Limmat,<br />
Zürich 2008) und andere Publikationen.<br />
Den Abschluss des Bandes bildet ein<br />
länglicher Syntheseversuch des Wirtschafts-<br />
und Sozialhistorikers Jean<br />
Batou, der an der Uni Lausanne Oral-<br />
History-Seminare zum Thema durchgeführt<br />
hat.<br />
Die übrigen, kürzeren Beiträge kreisen<br />
um vier Themenkomplexe: den globalen<br />
Kontext der schweizerischen 68er<br />
Bewegung, die Dritte-Welt-Solidarität<br />
(«Tiermondismus»), die Geschlechterbeziehungen<br />
sowie Äusserungen der<br />
Alternativkultur. Darin finden sich etliche<br />
kritische Töne – zum Revolutionsromantizismus<br />
etwa oder zur Fehleinschätzung<br />
der Befreiungsbewegungen<br />
durch die 68er Aktivisten.<br />
Leider steht jeder Aufsatz für sich, so<br />
dass kein Buch aus einem Guss entstanden<br />
ist. Zu bedauern ist ferner, dass<br />
mehrere Beiträge im Jargon universitärer<br />
Seminararbeiten geschrieben sind<br />
und kaum zu neuen Erkenntnissen vorstossen.<br />
Wenig zu befriedigen vermag<br />
auch das Konzept der Zweisprachigkeit:<br />
Während die Kapiteleinleitungen in<br />
Deutsch und Französisch publiziert<br />
werden, vermisst man die Übersetzung<br />
oder zumindest eine Zusammenfassung<br />
in der jeweils anderen Sprache beim<br />
Einleitungs- und Schlussbeitrag. Da<br />
auch eine zentrale Bibliografie, ein Sachund<br />
Personenregister sowie Angaben zu<br />
den weitgehend unbekannten Autorinnen<br />
und Autoren fehlen, drängt sich die<br />
Bewertung auf: trotz einzelnen Pluspunkten<br />
eher misslungen. ●
JürgSchoch (Hrsg.): In den<br />
Hinterzimmern des Kalten Krieges.<br />
Die Schweiz und ihr Umgang mit<br />
prominenten Ausländern 1945–1960.<br />
Orell Füssli, Zürich 2009. 286 S., Fr.48.–.<br />
Von Peter Studer<br />
Weshalb gerade die Zeitspanne <strong>von</strong> 1945<br />
bis 1960? Herausgeber Jürg Schoch und<br />
seine vier Mitautoren – allesamt pensionierte<br />
«Tages-Anzeiger»-Redaktoren<br />
– beleuchten mit Bedacht die Zwischenzeit<br />
nach dem Ende der nationalsozialistischen<br />
Bedrohung bis fast zum Höhepunkt<br />
des Kalten Krieges. Es fiel der<br />
Schweizer Regierung damals «nicht<br />
leicht, überhaupt ihre Rolle zu finden:<br />
Das Land stand ziemlich verloren zwischen<br />
den Blöcken.» Obwohl neutral,<br />
lehnte es sich bald an den Westen an, wo<br />
es aber auch auf Misstrauen stiess.<br />
Aus der Reise der fünf Autoren in<br />
Bibliotheken und Archive – jeweils vorbildlich<br />
dokumentiert – ist ein Dutzend<br />
Momentaufnahmen entstanden: <strong>von</strong><br />
Menschen, die sich noch hier befanden,<br />
wie dem kommunistischen Stardirigenten<br />
Hermann Scherchen (Winterthur)<br />
oder dem Altnazi und Germanistikprofessor<br />
Helmut de Boor (Bern). Von eher<br />
unerwünschten Durchreisenden wie<br />
den kommunistischen Paradeschriftstellern<br />
Ilja Ehrenburg (UdSSR) und<br />
Stephan Hermlin (DDR).<br />
Mitunter stellt sich ein beklemmendes<br />
«Déjà-vu» ein. So bei Schochs Bericht<br />
über «Die Neutralität und die Macht des<br />
Faktischen». Er dreht sich um die Waffenexportgeschäfte<br />
<strong>von</strong> Emil Georg<br />
Bührle. Der Bundesrat war sich der<br />
Spannung zwischen Neutralitätsrecht<br />
und Neutralitätspolitik bewusst. Um<br />
Neutralität, Geld und Arbeitsplätze<br />
drehten sich zahlreiche Bundesratssitzungen<br />
zu Beginn des Koreakriegs (1950).<br />
Die Protokolle sind heute einsehbar.<br />
Bührle, der mit seiner Waffenindustrie<br />
in Oerlikon nach Kriegsende eine Durst-<br />
1<br />
Sommerakademie Centre Dürrenmatt Neuchâtel Hg. vom Schweizerischen Literaturarchiv<br />
Kalter Krieg Wiedie Schweizer Behörden nach 1945 mit prominenten Ausländern umgingen<br />
ZündstoffimBundesrat<br />
Herausgegeben <strong>von</strong><br />
Peter Gasser, Elio Pellin<br />
und Ulrich Weber<br />
»Es gibt<br />
kein größeres<br />
Verbrechen<br />
als die<br />
Unschuld«<br />
Zu den Kriminalromanen <strong>von</strong><br />
Glauser, Dürrenmatt,<br />
Highsmith und Schneider<br />
WALLSTEIN<br />
strecke hinter sich hatte, wurde <strong>von</strong> der<br />
US-Luftwaffe um Lieferungen <strong>von</strong><br />
240000 Luft-Boden-Raketen bestürmt.<br />
Ausfuhr bewilligen? Einige Bundesräte<br />
reagierten skeptisch, andere hingegen<br />
warnten vor der «Behinderung Bührles»<br />
und Vergeltungsmassnahmen der USA.<br />
Bührle drohte, den Betrieb vollends ins<br />
Ausland zu verlegen. Max Weber (Finanzen,<br />
SP) schwankte: «Grundsätzlich<br />
sollte die Schweiz kein Kriegsmaterial<br />
ausführen, aber man kann diesen Grundsatz<br />
nicht durchführen.» 1953 bewilligte<br />
der Bundesrat der Firma Bührle schliesslich<br />
den ganzen Auftrag. Als Gegenleistung<br />
versprach Bührle, «dieses Jahr<br />
keine nennenswerten Arbeiterentlassungen<br />
durchzuführen». Immer wieder<br />
ähnliche Dilemmata und dieselben<br />
Argumente, auch vor der Abstimmung<br />
über die Initiative gegen den Waffenexport<br />
2009.<br />
Sind sich Schochs Autoren, nämlich<br />
Silvia Höner, Christoph Kuhn, Emanuel<br />
stuDEr, bärlaCh,<br />
hunkElEr &Co.<br />
kriminalromanE<br />
untEr DEr lupE<br />
Peter Gasser,Elio Pellin,<br />
Ulrich Weber (Hg.)<br />
»Es gibt kein grösseres<br />
verbrechen als die unschuld«<br />
Zu den Kriminalromanen <strong>von</strong><br />
Glauser,Dürrenmatt, Highsmith<br />
und Schneider<br />
2009. 144 S. 6Abb.Br. CHF 23<br />
Paul Altheer<br />
Die 13 Katastrophen<br />
Detektivroman<br />
10CEXKuw2AMAwFwIliPdvYIbjMp4oQAsT-oyDRUFx3c4YRPrXvdz-DgcUSirtaWDGS7MFFKJsHWETA2FhVUczX-HeqLV3AAB4wHW28HHd_Xl0AAAA=<br />
10CAsNsjY0MDAx1TWwNDMzNgUAIGGibA8AAAA=<br />
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen <strong>von</strong><br />
Paul Ott, Kurt Stadelmann und Dominik Müller<br />
Seine Exporte sorgten<br />
für hitzige Diskussion<br />
im Bundesrat: Emil<br />
Bührle (rechts) an<br />
einer Waffenschau in<br />
Walenstadt, 1950.<br />
La Roche und Konrad Rudolf Lienert,<br />
bei aller Sympathie für die oft kleinlich<br />
ausspionierten Progressiven der damals<br />
auch realen Bedrohungsangst bewusst?<br />
Misstrauen sie nicht nur dem grossdeutschen<br />
Patriotismus, sondern auch der<br />
devoten Stalin-Begeisterung oder der<br />
Friedensnaivität, die einige der streng<br />
beobachteten Besucher ausstrahlten? Es<br />
gelingt – ausser beim allzu blass bleibenden<br />
Nobelpreisträger Frédéric Joliot-<br />
Curie – ganz gut. Niemand wird zum<br />
Helden aufmontiert. Dirigent Scherchen<br />
war menschlich ein Ekel, Büchersammler<br />
Pinkus ritt gewandt auf allen kommunistischen<br />
Wellen.<br />
Was den Autoren besonders hoch<br />
anzurechnen ist: Die präzise Sprache<br />
und der Verzicht auf einen besserwisserischen<br />
Modus der Spätgeborenen. ●<br />
Peter Studer war Chefredaktor des<br />
«Tages-Anzeigers», danach des<br />
Schweizer Fernsehens. Heute doziert der<br />
Rechtsanwalt Medienrecht und -ethik.<br />
Ein DEtEktivroman<br />
nEu EntDECkt<br />
ironisCh unD<br />
spritzig<br />
Paul Altheer<br />
Die 13 katastrophen<br />
Ein Detektivroman. Nachdruck<br />
der Erstausgabe <strong>von</strong> 1928.<br />
2010. 126 S. Geb.CHF 34<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19<br />
phOtOpress<br />
Chronos<br />
seit 25 Jahren<br />
Bücher<br />
zur Zeit<br />
Chronos Verlag<br />
Eisengasse 9<br />
8008 Zürich<br />
www.chronos-verlag.ch<br />
info@chronos-verlag.ch
Sachbuch<br />
Suchtpolitik Geschichteder Drogenszene am Zürcher Platzspitz –aus medizinischer Sicht<br />
Sieben Millionen Spritzen<br />
PeterJ.Grob: Zürcher «Needle-Park».<br />
Ein Stück Drogengeschichteund -politik<br />
1968–2008. Chronos, Zürich 2009.<br />
160 Seiten, Fr.32.–.<br />
Von Willi Wottreng<br />
Das Platzspitzareal beim Zürcher Hauptbahnhof<br />
war zwischen 1988 und 1992<br />
die grösste offene Drogenszene Europas.<br />
Hier wurde konsumiert, gedealt, hier<br />
wurde gelitten und gestorben.<br />
Der Autor Peter J. Grob, emeritierter<br />
Professor für Medizin und vielfach tätig<br />
gewesen in der Bekämpfung <strong>von</strong> Hepatitis<br />
und Aids, beschreibt, wie die «Drogenepidemie»<br />
eingedämmt und «eine<br />
tragfähige Lösung im Umgang mit der<br />
Sucht» gefunden wurde, gelang es doch,<br />
das Thema der Parteipolitik wegzunehmen,<br />
so dass Expertinnen und Experten<br />
verschiedener Fachrichtungen tätig<br />
werden konnten. Diese gaben den Drogenabhängigen<br />
saubere Spritzen, Methadon<br />
und – wenn Betroffene schwerstsüchtig<br />
waren – Heroin ab. Eine Lösung,<br />
die wenig zuvor manchen als wahnwitzig<br />
erschienen wäre.<br />
Verbot sauberer Spritzen<br />
Die Hippiebewegung hatte Haschisch<br />
und Marihuana zu konsumieren begonnen.<br />
Später kamen LSD hinzu, Heroin<br />
und Kokain. Seit 1971 war Drogenbesitz<br />
und Drogenkonsum zwar für strafbar<br />
erklärt, doch der Drogenkonsum stieg.<br />
Mitte der achtziger Jahre schätzte man<br />
die Zahl der Drogenkonsumierenden<br />
landesweit auf 10 000. Jährlich gab es<br />
über 100 Drogentote. Die offizielle Politik<br />
wollte jeden Konsum illegaler Drogen<br />
unterbinden, Konsumierende wurden<br />
vertrieben, wo man sie antraf. Um<br />
die Szene auszutrocknen, verbot der<br />
Zürcher Kantonsarzt, Fixern saubere<br />
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
Szenen aus dem<br />
«Needle-Park» beim<br />
Zürcher Platzspitz,<br />
1988 bis 1992.<br />
Spritzen abzugeben, woran sich viele<br />
Ärztinnen und Ärzte nicht halten wollten.<br />
Zeigte sich doch, dass die Mehrfachbenutzung<br />
<strong>von</strong> Nadeln mithalf, das Aids-<br />
Virus HIV zu verbreiten.<br />
Als 1986 in Zürich die Vertreibungsstrategie<br />
aufgegeben wurde, verlagerte<br />
sich die offene Drogenszene ins Platzspitzareal,<br />
wo sich tagsüber Hunderte<br />
trafen und manche gar in Verschlägen<br />
Tauchen Reise in die paradiesischen Tiefen der Meere<br />
Bedrohte Schönheiten unterWasser<br />
Julia Whitty:Riff. Begegnungen mit<br />
verborgenen Welten zwischen Land und<br />
Wasser.Mare, Hamburg2009.<br />
334 Seiten, Fr.37.90.<br />
Von Georg Sütterlin<br />
Wenn Julia Whitty die Korallenriffe als<br />
«Regenwälder des Meeres» bezeichnet,<br />
dann deshalb, weil dieses aquatische<br />
Ökosystem eine vergleichbar hohe Biodiversität<br />
aufweist und ebenfalls bedroht<br />
ist: durch Klimaerwärmung und direkte<br />
menschliche Einflussnahme wie Überfischung,<br />
Verschmutzung und Verbauung<br />
der Küsten. Ihr Buch «Riff», eine<br />
Art populärwissenschaftliche Reisereportage,<br />
ist aber nicht in erster Linie<br />
eine Klage über die vielfältigen Gefah-<br />
ren, die den Korallenatollen weltweit<br />
drohen, sondern eine Huldigung an ihre<br />
paradiesische Schönheit. Hier liegt denn<br />
auch die eigentliche Stärke der Autorin:<br />
solide Sachkenntnis kombiniert mit<br />
einem Auge für das Ästhetische.<br />
An drei Schauplätzen demonstriert<br />
die 52-jährige Dokumentarfilmerin, Journalistin<br />
und Schriftstellerin verschiedene<br />
Aspekte der korallenen Unterwasserwelt:<br />
auf Rangiroa und Moorea in<br />
Französisch-Polynesien sowie auf Funafuti<br />
im Ministaat Tuvalu. Dabei gelingt<br />
es der Autorin, auch komplexe Sachverhalte<br />
so zu schildern, dass der interessierte<br />
Laie zu folgen vermag.<br />
Besonders faszinierend sind neue<br />
ökologische Erkenntnisse, die zeigen,<br />
wie weitreichend sich Störungen des<br />
biologischen Gleichgewichts auswirken<br />
FOtOs: gertrud vOgLer<br />
lebten. Mitte 1988 wurde das Projekt<br />
Zipp-Aids entwickelt, dessen Kernidee<br />
war, Neuinfektionen zu verhindern<br />
durch die Abgabe <strong>von</strong> sterilem Injektionsmaterial<br />
sowie durch medizinische<br />
Hilfeleistung. Dutzende Helferinnen<br />
und Helfer standen im Einsatz, in den<br />
drei Jahren des «Needle-Parks» wurden<br />
über sieben Millionen Spritzen und<br />
Nadelsets abgegeben.<br />
Trockenes, präzises Fachbuch<br />
Allmählich konnten die Infektionen<br />
gestoppt werden, und die Anzahl Todesfälle<br />
begann zu sinken. Der Platzspitz<br />
wurde dann abrupt geschlossen. Doch<br />
gaben die Erfahrungen, wie der Buchautor<br />
schreibt, der schweizerischen Drogenpolitik<br />
«einen wesentlichen Anstoss<br />
zu einer Kehrtwende». Von der Repression<br />
zu einer Politik, die aus vier Säulen<br />
besteht: Prävention, Therapie, Überlebenshilfe<br />
und Repression oder Kontrolle.<br />
Eine Politik, die 2008 mit der erneuten<br />
Revision des Betäubungsmittelgesetzes<br />
<strong>von</strong> der schweizerischen Stimmbevölkerung<br />
gutgeheissen wurde und europaweit<br />
Beachtung fand.<br />
Das Buch ist keine spannende Schilderung<br />
der dramatischen Geschehnisse<br />
auf dem Platzspitz, aber ein verständlich<br />
geschriebenes Fachbuch, streckenweise<br />
in seiner trockenen Art etwas mühsam<br />
zu lesen, in einzelnen Kapiteln wirkt<br />
es wie ein Rechenschaftsbericht der<br />
Projektverantwortlichen <strong>von</strong> Zipp-Aids.<br />
Das Verdienst liegt aber in der präzisen<br />
Nennung der Fakten und in der medizinischen<br />
Fachkenntnis, mit der sie<br />
betrachtet werden.<br />
Die Fotos <strong>von</strong> Gertrud Vogler gleichen<br />
die Schwäche aus: Sie rücken die<br />
Menschen in den Vordergrund. Es sind<br />
Zeitdokumente ersten Ranges, geprägt<br />
<strong>von</strong> Vertrautheit und menschlichem<br />
Respekt zugleich. ●<br />
können. Überraschend (und etwas zeitgeistig)<br />
mutet hingegen der Mix an, mit<br />
dem die Autorin Forschungsergebnisse<br />
und östliche Spiritualität verquickt. Eine<br />
solche Synthese strebte Irenäus Eibl-<br />
Eibesfeldt nicht an, als er «Im Reich der<br />
tausend Atolle» (1964) schrieb. Doch<br />
auch in der nüchternen Sicht dieses<br />
österreichischen Verhaltensforschers<br />
wird die beglückende Erfahrung spürbar,<br />
welche die leuchtende, farbenprächtige<br />
Welt der Riffe und Lagunen allen<br />
bietet, die den Blick durch eine Tauchermaske<br />
unter die Wasseroberfläche richten.<br />
Wir wollen aber nicht kritteln:<br />
«Riff» ist ein lehrreiches und immer<br />
wieder überraschendes Vademecum für<br />
das Tauchen in den Tropen – oder ein<br />
vertröstender und bewusstseinserweiternder<br />
Ersatz dafür. ●
Musik Zwei unterschiedliche Monografien widmen sich den beiden Rebellen<br />
der modernen Oper: Nikolaus Harnoncourt und Hans Werner Henze<br />
Grossmeisterder Klangwelt<br />
Johanna Fürstauer,Anna Mika: Oper<br />
sinnlich. Die Opernwelten des Nikolaus<br />
Harnoncourt. Residenz, St.Pölten 2009.<br />
400Seiten, Fr.49.50.<br />
Jens Rosteck: Hans Werner Henze.<br />
Rosen und Revolutionen. Propyläen,<br />
Berlin 2009. 576 Seiten, Fr.47.50.<br />
Von Corinne Holtz<br />
Sie gelten als Grossmeister und schreiben<br />
seit einem halben Jahrhundert<br />
Musik- und Zeitgeschichte: Nikolaus<br />
Harnoncourt, Dirigent und Musikforscher<br />
aus Graz, ist die zentrale Figur der<br />
Erneuerung der Aufführungspraxis nach<br />
1950; Hans Werner Henze, Komponist<br />
und Essayist aus Gütersloh, ist als Poet<br />
allein unter den Avantgardisten und<br />
steht seit 1957 unter dem Generalverdacht<br />
des Schöntöners. Die beiden<br />
trennt mehr als das, was sie generationsmässig<br />
verbindet, und doch eröffnen<br />
sich beim Lesen der zwei völlig unterschiedlich<br />
angelegten Bücher Gemeinsamkeiten:<br />
Beide blicken auf ein rebellisch<br />
verteidigtes Lebenswerk zurück,<br />
das polarisiert, und beide sind Publikumsmagneten,<br />
die nach wie vor für<br />
Gesprächsstoff sorgen.<br />
Die Oper: neu interpretiert<br />
Die Publizistinnen Johanna Fürstauer<br />
und Anna Mika greifen ein Thema kaum<br />
aufgearbeiteterInterpretationsgeschichte<br />
auf, indem sie Harnoncourts Erneuerung<br />
der Operninterpretation zum<br />
Thema machen. Dabei lassen sie in<br />
«Oper sinnlich» vor allem Dritte sprechen:<br />
Entlang den <strong>von</strong> Harnoncourt aufgeführten<br />
Opern <strong>von</strong> Monteverdi über<br />
Mozart bis Gershwin zitieren die Autorinnen<br />
Musiker, Sängerinnen, Intendanten<br />
und Journalisten, verzichten<br />
auf eigene Einordnungen, vermitteln<br />
aber musikhistorische Hintergründe der<br />
Werke. Der Monteverdi-Zyklus am<br />
Opernhaus Zürich etwa wird <strong>von</strong> aufgeschlossenen<br />
Musikern kommentiert, die<br />
dabei waren, als andere noch den Misserfolg<br />
fürchteten. Der Fagottist Erich<br />
Zimmermann berichtet <strong>von</strong> den Berührungsängsten<br />
der Orchestermusiker und<br />
erinnert sich an die Rekrutierung für<br />
Harnoncourts Pionierprojekt in der Zeit<br />
vor 1975. Wer ist bereit, ein sogenanntes<br />
Originalinstrument zur Hand zu nehmen<br />
und sich spieltechnisch damit vertraut<br />
zu machen? «Mein Name war ein<br />
halbes Jahr lang der einzige auf der Liste.<br />
Kollegen haben mich gefragt: Willst du<br />
wirklich Teil eines Misserfolgs werden?<br />
Stattdessen wurde ich Teil eines Riesenerfolgs!»<br />
Harnoncourt selbst, der mit «Ulisse»<br />
und «Poppea» <strong>von</strong> 2002 und 2005 ein<br />
weiteres Mal auf Monteverdi zurückgekommen<br />
ist, würdigt seine Mitstreiter<br />
<strong>von</strong> damals und spricht <strong>von</strong> den hochmotivierten<br />
«Freiwilligen», die ihre<br />
Nikolaus Harnoncourt<br />
dirigiert in Wien das<br />
Neujahrskonzert<br />
2001 der Wiener<br />
Philharmoniker.<br />
«Freizeit geopfert» haben. Zwischen<br />
den Zeilen erfährt die Leserin, dass das<br />
spieltechnische Niveau <strong>von</strong> damals aus<br />
nachvollziehbaren Gründen schlechter<br />
war als heute, was Harnoncourt jedoch<br />
als «unfair» zu sagen betrachtet. Diese<br />
Darstellungsweise durchzieht das Buch,<br />
in dem verschiedene Textsorten (Essay,<br />
Reportage, Quellentext) aneinandergereiht<br />
sind – das ist einerseits abwechslungsreich,<br />
anderseits vermisst man eine<br />
Handschrift und kritische Fragestellungen.<br />
Dass Harnoncourt nur ausserhalb<br />
etablierter Institutionen sich selbst bleiben<br />
konnte und was hinter der erbitterten<br />
Gegnerschaft <strong>von</strong> Harnoncourts<br />
Ästhetik steckt – solche Beobachtungen<br />
sucht man vergebens. Hingegen werden<br />
Seitenhiebe auf das «Regietheater» ausgeteilt,<br />
dessen ungenannte Regisseure<br />
sich angeblich über die Musik erheben.<br />
Spannend wird es immer dann, wenn<br />
Harnoncourt selbst spricht – etwa im<br />
Plädoyer für Mozarts 1980 noch unterschätzten<br />
«Idomeneo» – oder schreibt.<br />
Ganz anders geht der Musik- und<br />
Literaturwissenschafter Jens Rosteck<br />
vor, der die erste grosse Biografie über<br />
Hans Werner Henze verfasst hat. Er feiert<br />
den zu «Jähzorn» und «ausgewachsenen<br />
Tobsuchtsanfällen» neigenden<br />
Knaben Hans als die «massstabsetzende»<br />
linke Persönlichkeit der Bundesrepublik<br />
Deutschland, der als «Tonschöpfer»<br />
mindestens «ebenso bedeutend»<br />
sei «wie seine inzwischen verstorbenen<br />
Generationsgefährten Karlheinz Stockhausen<br />
und Mauricio Kagel». Rosteck<br />
spricht vom ewigen «Rebell der zweiten<br />
Jahrhunderthälfte» und spart nicht mit<br />
Lob für den Aussenseiter, der sich künstlerisch<br />
und persönlich stets exponiert<br />
und Ausgrenzung nicht allein als bekennender<br />
Homosexueller erfahren hat. Die<br />
Wurzeln dieser Verletzung vermutet die<br />
Leserin im Verrat durch den Vater, der<br />
sich vom linksliberalen Volksschullehrer<br />
zum überzeugten Nationalsozialisten<br />
wandelte.<br />
Ins Gespräch gebracht<br />
Die Schilderung dieser traumatisierenden<br />
Kindheit gehört zu den stärksten<br />
Passagen der Biografie, die sich stellenweise<br />
wie ein Thriller liest und vom Erzähltalent<br />
des sprachmächtigen Autors<br />
zeugt. Die Musik Henzes allerdings<br />
kommt zu kurz, deren Darstellung<br />
beschränkt sich weitgehend auf Werktitel<br />
und auf Skandale wie jenen an den<br />
Donaueschinger Musiktagen 1957, als<br />
Boulez, Nono und Stockhausen den Saal<br />
verlassen, während Henzes «Nachtstücke<br />
und Arien» auf Gedichte <strong>von</strong> Ingeborg<br />
Bachmann erklingen. Der Herausforderung,<br />
die musikalische Ästhetik<br />
Henzes und deren Position in der<br />
Moderne nachvollziehbar zu beschreiben,<br />
hat sich der Autor nicht gestellt.<br />
Hingegen hat er die Fülle <strong>von</strong> Quellenmaterial<br />
zu nutzen gewusst und akribische<br />
Genauigkeit bei dessen Auswertung<br />
walten lassen. Wirklich Neues<br />
erfährt man über Henze kaum, und die<br />
Empathie des Autors schlägt gelegentlich<br />
ins Pathos um, aber: Rosteck dürfte<br />
es zweifellos gelingen, Henze ins Gespräch<br />
zu bringen. ●<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21<br />
MarcO BOrggreve / LaiF
Sachbuch<br />
Doppelbiografie Die Grimms: zwei ungleiche<br />
Brüder –hochgeachtet und gleichzeitig angefeindet<br />
DieMärchensammler<br />
und<br />
Sprachbaumeister<br />
SteffenMartus: Die Brüder Grimm.<br />
EineBiographie. Rowohlt, Berlin 2009.<br />
608 Seiten, Fr.46.70.<br />
Von <strong>Andreas</strong> Tobler<br />
Wer kennt sie nicht, die Brüder Wilhelm<br />
und Jacob Grimm, die nicht nur Märchen-<br />
und Sagensammler, sondern auch<br />
Gründerväter der Germanistik und Pioniere<br />
der Lexikografie waren? Nun porträtiert<br />
der Literaturwissenschafter<br />
Steffen Martus die Grimms in einer<br />
grossen Biografie als zwei ungleiche<br />
Brüder, die sich schon früh darauf verständigten,<br />
dass sie sich «einmal nie<br />
trennen» werden und – so Martus – das<br />
«schweigende Miteinander am Schreibtisch»<br />
für sie die einzig wahre Lebensund<br />
Arbeitsform sei.<br />
Darüber hinaus zeigt uns Martus, wie<br />
die Brüder sich mit ihrer enormen Leistungsbereitschaft<br />
und ihrer Flexibilität<br />
gegen zahlreiche Widerstände durchsetzen<br />
und ihrer Märchensammlung, die<br />
wegen ihres wissenschaftlichen Apparats<br />
und ihres Umfangs zunächst ein<br />
Verkaufsflop war, mit einer Auswahl<br />
zum Durchbruch verhelfen konnten.<br />
Mit ihrer Radikalität, ihrer Sammelwut<br />
und ihrer sprichwörtlich gewordenen<br />
«Andacht zum Unbedeutenden»<br />
stiessen die Grimms, die uns Martus als<br />
«moderne Traditionalisten» vorstellt,<br />
aber nur zu oft bei ihren Zeitgenossen<br />
auf Unverständnis, so zum Beispiel bei<br />
Friedrich Schlegel, der in den Brüdern<br />
zwei «sehr rohe Teppen» sah.<br />
Pakt mit dem Teufel<br />
Für ihre Grossprojekte – die «Kinderund<br />
Hausmärchen», das Wörterbuch<br />
und Jacobs «Deutsche Grammatik» –<br />
ernteten die Brüder aber auch Lob, so<br />
zum Beispiel <strong>von</strong> Heinrich Heine: Mit<br />
seiner Grammatik habe Jacob für die<br />
Sprachwissenschaft mehr geleistet als<br />
die «ganze französische Akademie seit<br />
Richelieu», meinte Heine, der sich vor<br />
den unschätzbaren Verdiensten der Brüder<br />
verneigte und Jacobs «kolossales<br />
Werk» mit dem unvollendeten Kölner<br />
Dom verglich, <strong>von</strong> dem man einige Jahre<br />
zuvor die ursprünglichen Pläne gefunden<br />
hatte und den man nun fertigstellte. Heines<br />
Hochachtung vor der Leistung des<br />
älteren Grimmbruders war derart gross,<br />
dass er vermutete, Jacob habe für seine<br />
Grammatik einen Pakt mit dem Teufel<br />
geschlossen, «damit er ihm die Materialien<br />
lieferte und ihm als Handlanger<br />
diente bei diesem ungeheuren Sprachbauwerk»,<br />
denn «um diese Quadern <strong>von</strong><br />
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
Gelehrsamkeit herbeizuschleppen,<br />
um aus diesen<br />
hunderttausend Zitaten<br />
einen Mörtel zu<br />
stampfen, dazu gehört mehr<br />
als ein Menschenleben und<br />
mehr als Menschengeduld».<br />
Für kein anderes<br />
Projekt sind Heines<br />
Worte so zutreffend<br />
wie für<br />
das «DeutscheWörterbuch»,<br />
mit<br />
dem die Brüder Grimm<br />
im letzten VierteljahrhundertihresLebensbeschäftigt<br />
waren. In diesem Grossprojekt<br />
zeige sich die Modernität<br />
der Brüder, die mit<br />
zahlreichen Belegen aus der<br />
Literatur den Benutzern ihres<br />
Wörterbuches vor<br />
Augen führten, wie<br />
stark «der Gebrauch<br />
die Bedeutung der<br />
Wörter bestimmt».<br />
Angetrieben <strong>von</strong><br />
ihrer Sammelwut<br />
und ihrem<br />
pädagogischphilologischen<br />
Eifer<br />
verfolgten<br />
die Grimms<br />
damit aber<br />
auch das Ziel,<br />
der Einigung<br />
Deutschlands zuzuarbeiten,<br />
indem sie mit<br />
ihrem Nachschlagewerk die<br />
«Einheit der Vielfalt und<br />
die Vielfältigkeit der Einheit»<br />
(Martus) der deutschen<br />
Sprache deutlich<br />
machten.<br />
Dazu wäre anzumerken,<br />
dass die<br />
Grimms in ihrem<br />
Wörterbuch<br />
selbstverständ-<br />
lich auch Belege<br />
aus der Schweiz, so<br />
zum Beispiel aus den<br />
Werken der Zürcher<br />
Aufklärer Bodmer und Breitinger,<br />
berücksichtigten und darüber hinaus<br />
«<strong>von</strong> den Schweizerbergen bis zu der<br />
Ostsee, <strong>von</strong> dem Rhein bis zur Oder»<br />
grosse Unterstützung <strong>von</strong> Zuträgern<br />
fanden.<br />
Bei aller Hochachtung, die Martus der<br />
Arbeit der Grimms entgegenbringt, verschweigt<br />
er nicht ihre Tendenz zur Ver-<br />
«Die Bremer Stadtmusikanten», ein<br />
Märchen der Gebrüder Grimm.<br />
schrobenheit. Jacob hoffte zum<br />
Beispiel allen Ernstes, das Wörterbuch<br />
werde wie die Märchen<br />
eines Tages «zum Hausbedarf»<br />
gehören. Warum, fragt Jacob, sollte<br />
der Vater abends vor dem<br />
Zubettgehen mit seinem Sohn<br />
nicht noch ein paar Wörter durchgehen?<br />
Wer nun sein Kind zum Wörterdrill<br />
herbeizitieren will, sei<br />
gewarnt: Die Grimms hatten ein<br />
grosses Interesse für die «keusche<br />
Derbheit» der deutschen Sprache<br />
und so versammelten sie im ersten<br />
Band ihres Wörterbuches nicht<br />
weniger als vierzig Bildungen mit<br />
dem Wort «Arsch»,<br />
die sie – <strong>von</strong> der «Arschhure»<br />
bis hin zum<br />
«Arschwolfreiter» – mit<br />
Erläuterungen und Belegen<br />
versahen.<br />
Dank den<br />
Grimmschen<br />
Bemühungen<br />
wissen wir, dass<br />
Luther in seiner Bibelübersetzung<br />
noch vom «ars»<br />
und den «ersen» schrieb, dass<br />
durch die Lautverschiebung das<br />
«rohe Wort roher und breiter»<br />
wurde und Goethe diesen<br />
Sprachwandel in einem nachgelassenen<br />
Gedicht<br />
zum Thema machte:<br />
«Ares wird der Kriegesgott<br />
genannt, Ars heisst die Kunst<br />
und Arsch ist auch bekannt.»<br />
Das Grimmsche Wörterbuch<br />
blieb ein lange unvollendetes<br />
Projekt: Als Wilhelm im<br />
Dezember 1859 starb, hatte er<br />
gerade den Buchstaben D<br />
abgeschlossen. Sein Bruder<br />
Jacob, der ihm vier Jahre<br />
später nachfolgen und sich<br />
noch bis zum Eintrag<br />
«Frucht» vorarbeiten<br />
sollte, hatte im Zusammenhang<br />
mit einem<br />
anderen Projekt die<br />
Hoffnung gehegt,<br />
«dass die folgenden<br />
nicht neben mich<br />
bauen, sondern auf<br />
mich bauen werden». Was das Wörterbuch<br />
betrifft, ging diese Hoffnung in<br />
Erfüllung: 1961 und damit mehr als 120<br />
Jahre später lag es erstmals abgeschlossen<br />
vor. Mit der seither begonnenen<br />
Neubearbeitung ist das <strong>von</strong> den Brüdern<br />
Grimm initiierte Projekt noch<br />
heute das bedeutendste historische<br />
Wörterbuch deutscher Sprache. ●<br />
saMMLung M. suter
BiLd archiv<br />
Religion UrsAltermatt schreibt über die langwierigeAnpassung des Katholizismus in der Schweiz<br />
Wieeinereligiöse Minderheit<br />
sich erfolgreichintegrierte<br />
UrsAltermatt:Konfession, Nation und<br />
Rom. Metamorphosen im<br />
schweizerischen und europäischen<br />
Katholizismus des 19. und 20.Jahrhunderts.<br />
Huber,Frauenfeld 2009.<br />
442 Seiten, Fr.58.–.<br />
Von Klara Obermüller<br />
Die Zeit ist noch gar nicht allzu fern, da<br />
galten Katholiken in der Schweiz als<br />
unzuverlässige Patrioten. Sie bildeten<br />
Sondergesellschaften, sahen sich dem<br />
Verdacht der «doppelten Loyalität» ausgesetzt<br />
und taten sich schwer sowohl<br />
mit den Errungenschaften der Moderne<br />
wie auch mit den Gepflogenheiten der<br />
Demokratie. Mehr als 100 Jahre, <strong>von</strong><br />
1848 bis weit über den Zweiten Weltkrieg<br />
hinaus, sollte der Integrationsprozess<br />
des politischen Katholizismus in<br />
Feminisierung der Arbeitswelt Stolz auf ihren Beruf<br />
201 Mal hatder Fotograf Josef Riegger abgedrückt.<br />
201 Mal steht da eine Frau, vordem gleichen, etwas<br />
irritierenden Hintergrund, in gleicher Pose und dennoch<br />
eigenständig, individuell ausgestattetmit den<br />
selbstgewählten Insignien ihres Berufes. Die Frauen<br />
blicken ernstindie Kamera, lächeln oder lachen, sind<br />
selbstsicher,keck, verschmitzt, frech und manchmal<br />
auch ein wenig verlegen. Aber immer unübersehbar<br />
stolz auf ihren Beruf,ihreTätigkeit, ihr Wissen und<br />
Können. Vonder Archäologin über die Berufsfeuerwehrfrau<br />
(Bild links), die Lokführerin, die Neurochirurgin<br />
(rechts)bis zurZimmerin sind unzählige<br />
Berufsgattungen vertreten. Ja, wir Frauen in der<br />
Schweiz haben es weit gebracht, könnteman meinen.<br />
Wirsind jetzt –fast–überall dabei. Die kurzen Zwischentexte<br />
oder Zwischentöne der Politologin Regula<br />
den schweizerischen Bundesstaat dauern.<br />
Zu einem endgültigen Abschluss<br />
gelangte er im Grunde erst im Jahr 1973,<br />
als mit dem Jesuiten- und dem Klosterartikel<br />
auch noch die letzte Ausnahmeregelung<br />
aus der Bundesverfassung<br />
gestrichen wurde.<br />
Stationen zum Bundesstaat<br />
In Zeiten, da wieder einmal heftig über<br />
die Stellung religiöser Minderheiten in<br />
unserem Land gestritten wird, kann es<br />
ausgesprochen nützlich sein, sich dieser<br />
langwierigen Anpassungsgeschichte<br />
des schweizerischen Katholizismus<br />
und seiner europäischen Parallelen zu<br />
erinnern.<br />
20 Jahre nach seinem Werk über<br />
«Katholizismus und Moderne» legt der<br />
Freiburger Historiker Urs Altermatt ein<br />
weiteres Mal Grundlagen zu solcher<br />
Rückbesinnung vor. In seinem umfang-<br />
Staempfli, gewohnt provokativ und ungeschminkt,<br />
holen einen dann wieder auf den Boden der Realität,<br />
wenn sie laut in Erinnerung ruft, dass bei der Feminisierung<br />
eines Berufes sofort Ansehen und Lohn sinken.<br />
Dass Frauenforschung systematisch nicht zitiert<br />
wird. Dass die Welt voller Gynäkologenist,aber kaum<br />
Urologinnen praktizieren. Dass noch immer Männer<br />
Frauen kaufen dürfen. Dass noch immer erschreckend<br />
wenigeProfessorinnen lehren und die Chefredaktorengrosser<br />
Politmedien stets Männer sind. Warum<br />
aber für die Realisierung dieser tollen Idee nicht eine<br />
Fotografin zumZug gekommen ist, das wissen die<br />
Göttinnen. GenevièveLüscher<br />
Josef Riegger (Fotos), Regula Staempfli(Text):<br />
Frauen ohne Maske. Stämpfli, Bern 2009.<br />
201 Fotografien, 304 Seiten, Fr.49.–.<br />
reichen neuen Buch mit dem auf den<br />
ersten Blick etwas irritierenden Titel<br />
«Konfession, Nation und Rom» zeichnet<br />
er die Stationen nach, die aus den einstigen<br />
Verlierern des Sonderbundskrieges<br />
vollwertige Bürger des schweizerischen<br />
Bundesstaates gemacht haben. Der politisch-kulturelle<br />
Assimilationsprozess an<br />
die national-liberal und protestantisch<br />
geprägte Leitkultur des Landes ist dabei<br />
ebenso ein Thema wie der innerkirchliche<br />
Wandel, der diese Anpassung und<br />
die damit verbundene Emanzipation<br />
erst möglich gemacht hat. Dass sich im<br />
Zuge dieser Entwicklung allerdings auch<br />
das vormals blühende katholische Milieu<br />
mit all seinen Vereinen, Verbänden,<br />
Institutionen und eigenen Presseerzeugnissen<br />
auflöste, ist gewissermassen der<br />
Preis, den der Schweizer Katholizismus<br />
für die erfolgreiche Integration zu<br />
bezahlen hatte.<br />
Urs Altermatt selbst gehört einer<br />
Generation an, die diese Veränderungen<br />
selbst noch hautnah miterlebt hat. Als<br />
Katholik ist er in die Geschichte unmittelbar<br />
involviert und kann vielfach auch<br />
aus der eigenen Erfahrung schöpfen.<br />
Diese persönliche Note tut seiner über<br />
weite Strecken arg trockenen und langatmigen<br />
Wissenschaftsprosa ausgesprochen<br />
gut, und man hätte sich im Interesse<br />
der Lesbarkeit des Textes auch für<br />
interessierte Laien gewünscht, dass die<br />
historischen Kapitel etwas weniger ausführlich<br />
ausgefallen und die Bezüge zur<br />
Gegenwart dafür noch etwas deutlicher<br />
herausgearbeitet worden wären.<br />
Europäisches Fallbeispiel<br />
Der Einwand gilt nicht für den höchst<br />
aufschlussreichen und äusserst konzisen<br />
Schluss-Essay mit dem programmatischen<br />
Titel «Vom Konfessionalismus<br />
zur universalen Religion». In dieser religionssoziologischen<br />
Studie macht Altermatt<br />
einmal mehr deutlich, dass er die<br />
wechselvolle Geschichte des Schweizer<br />
Katholizismus keineswegs isoliert betrachtet,<br />
sondern sie als ein europäisches<br />
Fallbeispiel verstanden wissen<br />
will, an dem sich die parallel verlaufenden<br />
Erosionsprozesse sowohl der Nationen<br />
wie auch der Grosskirchen aufzeigen<br />
lassen. Interessant ist dabei zu<br />
sehen, wie die Bestrebungen des Zweiten<br />
Vatikanums und die sozialen Aufbruchbewegungen<br />
der sogenannten<br />
«langen sechziger Jahre» in die gleiche<br />
Richtung zielten und so ein Klima entstehen<br />
liessen, in dem der Dialog an die<br />
Stelle der einstmals identitätsstiftenden<br />
Abschottung treten konnte.<br />
Ohne explizit darauf zu verweisen,<br />
liefert Altermatts differenzierte Studie<br />
damit Hinweise, die inskünftig auch für<br />
die Integrationsbemühungen anderer<br />
religiöser Minderheiten <strong>von</strong> Bedeutung<br />
sein könnten. ●<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch<br />
Familienbiografie Flott geschriebene Geschichte der<br />
unermesslich reichen, unglaublich exzentrischen und<br />
unbeschreiblich neurotischen Stahldynastie<br />
Die Wittgensteins<br />
Alexander Waugh: DasHaus Wittgenstein.<br />
Geschichteeiner ungewöhnlichen<br />
Familie. S. Fischer,Frankfurt 2009.<br />
448Seiten, Fr.42.90.<br />
Von Ina Boesch<br />
Das erste Wort des ältesten Sohnes soll<br />
«Ödipus» gewesen sein. Das ist zwar<br />
ungewöhnlich, einem Spross aus dieser<br />
Familie jedoch zuzutrauen. Bei den<br />
Wittgensteins war vieles ausserhalb der<br />
Norm: Sie waren unermesslich reich,<br />
unglaublich exzentrisch und unbeschreiblich<br />
neurotisch.<br />
Im Haus des Stahlmagnaten Karl Wittgenstein<br />
gab es zudem keine Ausnahmebegabung<br />
oder Einzelerscheinung, sondern<br />
nur Mehrfachausführungen. Drei<br />
Söhne nahmen sich das Leben, vier <strong>von</strong><br />
fünf Männern waren homosexuell, zwei<br />
der neun Kinder wurden berühmt: Ludwig<br />
Wittgenstein erlangte Weltruhm als<br />
Sprachphilosoph, Paul Wittgenstein ging<br />
als einarmiger Pianist in die Musikgeschichte<br />
ein. Von den Frauen eroberte<br />
sich Gretl Wittgenstein, <strong>von</strong> Gustav<br />
Klimt porträtiert und als Schönheit des<br />
Fin de Siècle gefeiert, einen Platz im<br />
kunsthistorischen Olymp.<br />
Eigentlich erstaunlich, dass diese<br />
Ansammlung <strong>von</strong> Begabung und Glanz<br />
in einer Familie nicht zu einer Flut <strong>von</strong><br />
Romanen und Filmen geführt hat. Nun<br />
hat sich der britische Musikkritiker und<br />
Publizist Alexander Waugh als einer der<br />
Ersten der üppigen Familiengeschichte<br />
angenommen. Selbst aus einer eher<br />
exzentrischen Familiendynastie stam-<br />
mend (der Grossvater war der überspannte<br />
und reaktionäre Romancier<br />
Evelyn Waugh; der Vater der berüchtigte<br />
Kolumnist Auberon Waugh), hat er<br />
zwar ein feines Gespür für die Neurosen<br />
und die Tragik im Hause Wittgenstein,<br />
doch ist er leider der Verführung durch<br />
den Glamour der vielen schillernden<br />
Leben erlegen. Diese haben seine ganze<br />
Aufmerksamkeit und nicht die Familie<br />
als umfassendes Gefüge, geschweige<br />
denn das historische, politische und<br />
wirtschaftliche Umfeld.<br />
Waugh scheute die Herausforderung,<br />
die bewegten Biografien mit der bewegten<br />
Zeit vom Fin de Siècle bis nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg zu verbinden.<br />
So erfährt man beispielsweise kaum<br />
etwas über die Hintergründe des steilen<br />
Aufstieges Karl Wittgensteins vom Barmann<br />
in Amerika zum Eisenkönig in<br />
Österreich-Ungarn. Stattdessen konzentriert<br />
er sich auf einzelne Figuren,<br />
insbesondere auf den Pianisten Paul, der<br />
nach seinem Verlust des rechten Armes<br />
in den ersten Monaten des Ersten Weltkrieges<br />
mit eiserner und beeindruckender<br />
Disziplin sein ganzes Können auf<br />
die linke Hand verlegte. Ausgestattet<br />
mit einem immensen Reichtum, konnte<br />
er bei den berühmtesten Komponisten<br />
der damaligen Zeit wie Paul Hindemith,<br />
Sergei Prokofjew, Benjamin Britten oder<br />
Maurice Ravel Klavierwerke für die<br />
linke Hand bestellen. Doch Paul war<br />
kein Freund <strong>von</strong> neuen Tönen und hatte<br />
dezidierte Vorstellungen <strong>von</strong> einer<br />
Komposition, weshalb er häufig die Partituren<br />
umschrieb und sich mit beinahe<br />
allen Tonkünstlern anlegte.<br />
Literatur Goethe war – entgegen der Legende – durchaus empfänglich für Musik<br />
Erlöst im tönenden Seelenzauber<br />
NorbertMiller: Die ungeheureGewalt der<br />
Musik. Goethe und seine Komponisten.<br />
Hanser,München 2009. 447S., Fr.42.90.<br />
Von Manfred Koch<br />
War Goethe unmusikalisch? Einiges<br />
spricht dafür: Er brauchte lange, um<br />
Mozart zu würdigen, verkannte Beethoven<br />
und Schubert und rühmte mediokre<br />
Tonsetzer wie Carl Friedrich Zelter.<br />
Lange hielt sich deshalb die Legende,<br />
der Geheime Rat habe nur über eine<br />
kümmerliche Musikalität verfügt.<br />
Damit räumt Norbert Miller nun<br />
gründlich auf. Schon mit dem Titel seines<br />
Buchs unterstreicht der Berliner<br />
Komparatist Goethes Empfänglichkeit<br />
für den tönenden Seelenzauber. «Nun<br />
aber doch das eigentlich Wunderbarste!<br />
Die ungeheure Gewalt der Musik auf<br />
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
mich in diesen Tagen!», schreibt Goethe<br />
1823, in der Zeit seiner skandalösen Greisenliebe<br />
zu Ulrike <strong>von</strong> Levetzow, an Zelter.<br />
Die Stimme einer Berliner Sopranistin,<br />
das Spiel einer polnischen Pianistin,<br />
«ja sogar die öffentlichen Exhibitionen<br />
des hiesigen Jägerkorps falten mich auseinander,<br />
wie man eine geballte Faust<br />
freundlich flach lässt». Der verstörte,<br />
alte Mann erfährt Musik als Erlösung.<br />
Das ist freilich noch kein Beleg für<br />
Sachverstand. Doch Miller zeigt ausführlich,<br />
wie Goethe in der konkreten<br />
Zusammenarbeit mit Komponisten auch<br />
musiktheoretisch originelle Wege einschlug.<br />
Mit Philipp Christoph Kayser,<br />
der seine Singspiele vertonte (darunter<br />
«Scherz, List und Rache», für Miller ein<br />
«verkanntes Meisterwerk»), entwickelte<br />
er eine neue «Ästhetik des heiteren<br />
Musikdramas», mit Johann Friedrich<br />
Reichardt, dem Leibkomponisten der<br />
Gretl Wittgenstein, gemalt <strong>von</strong> Gustav Klimt, 1905.<br />
Diese Anekdoten sind zwar einschlägig<br />
bekannt, doch so detailliert und flott<br />
geschrieben war Pauls Schicksal noch<br />
nirgends zu lesen. Zu detailliert und an<br />
den einzelnen Personen orientiert präsentiert<br />
Waugh hingegen die bislang<br />
wenig bekannte Geschichte, wie sich die<br />
Nazis Pauls Vermögen anzueignen versuchten<br />
(indem sie die jüdische Herkunft<br />
der Familie nachwiesen). Dabei<br />
hätte der Autor gerade hier die Chance<br />
gehabt, einen Schwerpunkt zu setzen<br />
und Familiengeschichte mit Sozial- und<br />
Wirtschaftsgeschichte kongenial zu verbinden.<br />
●<br />
mittleren Lebensphase, reflektierte er<br />
das ideale Verhältnis <strong>von</strong> Vers und<br />
Melodie im Kunstlied.<br />
Zelter kam zuletzt eine Ausnahmestellung<br />
zu, weil er in einer langen<br />
Freundschaft weit mehr wurde als<br />
ein musikalischer Wegbegleiter. Da er<br />
über beträchtliches Schreibtalent verfügte,<br />
machte Goethe ihn, so Millers<br />
überraschender Befund, behutsam zum<br />
Co-Autor seines wichtigsten autobiografischen<br />
Alterswerks: des Goethe-Zelter-<br />
Briefwechsels! Und wie zum Dank<br />
schenkte Zelter ihm dafür ein musikalisches<br />
Verjüngungserlebnis. Er brachte<br />
seinen elfjährigen Schüler Felix Mendelssohn<br />
nach Weimar, dessen Klavierspiel<br />
der entzückte Goethe als «Schicksalszeichen»<br />
begriff: Über alle Lebensalter<br />
hinweg springt auch zwischen<br />
verschiedenen Künsten der geistige<br />
Funke verlässlich über. ●<br />
seeger press
Klassiker Der Publizist Georg Brunold legt Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren vor. Sein Buch<br />
ist ein Füllhorn ausserordentlicher Texte – und eine tiefe Verbeugung vor grossen Schreibern<br />
Denkmal für die Reportage<br />
GeorgBrunold: Nichts als die Welt.<br />
Reportagen und Augenzeugenberichte<br />
aus 2500 Jahren. Galiani, Berlin 2009.<br />
681 Seiten, Fr.139.–.<br />
Von Daniel Puntas Bernet<br />
Wo einsteigen, in diesen Wälzer? Mit<br />
Egon Erwin Kischs grossartigem Text<br />
aus dem Autowerk in Detroit <strong>von</strong> 1928,<br />
in dem der als «rasender Reporter»<br />
bekannte Deutsche die Arbeitsbedingungen<br />
schildert und «Mister Ford» mit<br />
feinen Seitenhieben versieht? Mit Antonio<br />
Pigafettas Schilderungen einer versuchten<br />
Meuterei gegen den «Grosskapitän<br />
Magellan», kurz vor Entdeckung<br />
der berühmten Meeresstrasse im Jahr<br />
1520? Oder gar mit Phaidons detaillierter<br />
Erzählung und Platons Aufzeichnung<br />
über den Moment, als Sokrates den todbringenden<br />
Becher an die Lippen setzt,<br />
399 vor Christus?<br />
Es ist einerlei, denn dieses wahrlich<br />
grosse Buch hält für jeden Leser und<br />
Liebhaber nichtfiktionaler Literatur lauter<br />
Perlen bereit: Auszüge aus Kriegstagebüchern<br />
zur Schlacht <strong>von</strong> Babylon,<br />
belehrende Geschichtsschreibung römischer<br />
Politiker, Reiseberichte <strong>von</strong><br />
Abenteurern, Geologen, Weltentdeckern.<br />
Es finden sich Essays, Briefe,<br />
Kommentare <strong>von</strong> grossen Namen wie<br />
Voltaire, Goethe und Walser neben Gesellschaftsspalten<br />
aus dem skandalvernarrten<br />
antiken Rom, ethnologischen<br />
Notizen <strong>von</strong> iberischen Franziskanermönchen<br />
aus der Neuen Welt, engagierten<br />
Sozialreportagen aus den Fabriken<br />
Chinas unserer Tage. Oder Leckerbissen<br />
wie die köstliche Betrachtung einer<br />
Pariser Modeschau <strong>von</strong> Marie-Luise<br />
Scherer aus dem Jahre 1988.<br />
Ambitiöses Projekt<br />
«164 Reportagen und Augenzeugenbereicht<br />
aus 2500 Jahren und 5 Kontinenten»,<br />
lautet der Klappentext <strong>von</strong><br />
«Nichts als die Welt». Das im Berliner<br />
Galiani-Verlag erschienene ambitiöse<br />
Unternehmen stammt vom Publizisten<br />
Georg Brunold, früherer NZZ-Korrespondent<br />
in Afrika, gebürtiger Bündner<br />
und heute in Nairobi lebend. Brunold hat<br />
selber Reportagen geschrieben und ist,<br />
das wird angesichts des präsentierten<br />
Streifzugs durch die Weltliteratur ersichtlich,<br />
ein grosser Leser. Mit dem kanonischen<br />
Werk setzt Brunold der Gattung<br />
Reportage ein starkes Denkmal.<br />
Angesichts der unterschiedlichsten<br />
Zeugnisse aus vielen Jahrhunderten<br />
stellt sich die Frage, was denn die<br />
Reportage ausmacht und wieso gerade<br />
die vereinten Texte dafür repräsentativ<br />
stehen sollen. «Die Reportage kann und<br />
darf fast alles, solange sie vom Tathergang<br />
und der Sachlage, <strong>von</strong> denen darin<br />
die Rede ist, nicht schon lückenlose<br />
Kenntnis voraussetzt», schreibt Brunold<br />
Zermatt und das<br />
Matterhorn um<br />
1900, so wie es<br />
Marc Twain in seiner<br />
Reportage über<br />
das Wallis 1879<br />
wohl gesehen hat.<br />
in seinem Vorwort. Nähe zum Geschehen<br />
ist zentral, doch nicht zwingend:<br />
Obschon Norman Mailer bei der Ermordung<br />
Kennedys nicht Augenzeuge war,<br />
ist seine Reportage «Hat Oswald es<br />
getan?» ein grosser Wurf – dank der<br />
gekonnten sprachlichen Umsetzung des<br />
bloss Gehörten. In der Reportage sei<br />
ausserdem kein Mass an Gedankenarbeit<br />
verboten, solange diese für den<br />
Leser verdaulich bleibe und ihn fessle.<br />
«Wird die denkende Reportage dabei<br />
zum Essay, umso schöner für sie und für<br />
den Leser.»<br />
Den meisten Texten ist eigen, dass sie<br />
nicht nur Augenzeugenberichte sind,<br />
sondern die Beobachtungen sprachlich<br />
versiert reflektieren und kommentieren.<br />
Dass der Reporter manchmal Anthropologe,<br />
Politiker, Schiffsfahrer, Kriegsführer,<br />
Schriftsteller, Professor, Pilger, Ex-<br />
Häftling oder NGO-Mitarbeiter ist, liegt<br />
auf der Hand: Neugierde und Entdeckerlust<br />
sind schliesslich zentraler Antrieb,<br />
zu schreiben, zu erzählen. Brunold<br />
nennt sie «alles eigengesetzliche Köpfe,<br />
die zuverlässig mit Gedanken zur Stelle<br />
sind, die nicht jedermann zuvor schon<br />
ganz vertraut gewesen sind».<br />
Grosse Herausgeberleistung<br />
Denkende Schreiber sind sie in diesem<br />
Buch fast alle. Unsere drei Favoriten<br />
sind Marc Twain, Wolfgang Koeppen<br />
und George Orwell. Twain besuchte<br />
1879 Zermatt und das Wallis und<br />
beschreibt helvetische Eigenschaften<br />
mit Humor und Scharfsinn. Koeppens<br />
Reportage aus dem Franco-Spanien der<br />
fünfziger Jahre glänzt mit unerreichter<br />
Beobachtungsgabe. Und Orwells Erfahrungsbericht<br />
als Küchenhilfe in einem<br />
Pariser Restaurant <strong>von</strong> 1929 ist einfach<br />
grossartiges Kino.<br />
Brunold hat sich die Freiheit genommen,<br />
weder die Reportage wissenschaftlich<br />
zu definieren noch die Auswahl der<br />
Texte nach objektiven Kriterien vorzunehmen.<br />
Das mag man kritisieren – etwa,<br />
wenn für die Führerschaft des «Spiegels»<br />
bei der Publikation deutschsprachiger<br />
Reportagen ein eher schwacher<br />
Text steht oder Namen wie Tom Wolfe,<br />
Hunter S. Thomson oder Gay Talese fehlen<br />
–, doch anderseits hat das unakademische<br />
Vorgehen auch seinen Reiz: Wo<br />
sonst fände man Texte <strong>von</strong> Julius Cäsar,<br />
Christoph Kolumbus und Alexander <strong>von</strong><br />
Humboldt über Oscar Wilde, Ernest<br />
Hemingway und Gabriel García Márquez<br />
bis hin zu Günter Wallraff, Niklaus<br />
Meienberg und Ryszard Kapuscinski<br />
zwischen zwei Buchdeckeln vereint?<br />
Das Buch ist eine grosse Herausgeberleistung,<br />
vor der man nur den Hut ziehen<br />
kann. Gelungen sind die zwar knappen,<br />
dafür umso launigeren Einführungen zu<br />
jedem Text, angenehm ist die Abwechslung<br />
durch zwölf Foto-Essays aus dem<br />
letzten Jahrzehnt (die Textsammlung<br />
hört im Jahr 2000 auf), reichhaltig die<br />
angefügte «Bibliothek des Reporters»<br />
aus der Feder des Herausgebers. Gerade<br />
jetzt, wo der Strukturwandel der Medien<br />
längere Stücke ausserhalb der Tagesaktualität<br />
vermehrt zur Seite drängt, ist<br />
dieses Buch ein Plädoyer für einen Journalismus,<br />
der sich Zeit nimmt und hingeht,<br />
hinsieht und zuhört, selber denkt<br />
und – gekonnt – aufschreibt. ●<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25<br />
phOtOgLOB / KeYstOne
Sachbuch<br />
Schweizer Geschichte NeuedierteTexte über den als «Jetzerhandel» bekannten Prozess in Bern<br />
Skandalöses aus dem Mittelalter<br />
Romy Günthart(Hrsg.): Vonden vier<br />
Ketzern. Edition und Kommentar.<br />
Chronos, Zürich 2009. 204S., Fr.38.–.<br />
Von Geneviève Lüscher<br />
Der «Jetzerhandel» ereignete sich vor<br />
ziemlich genau 500 Jahren in Bern, hatte<br />
aber einen europaweiten Widerhall und<br />
beschäftigt die Wissenschaft bis heute.<br />
Damals bewegte das spektakuläre Ereignis<br />
heftig die Gemüter und fand Eingang<br />
in Schriften verschiedenster Art: Prozessakten,<br />
Flugblätter, Predigten, illustrierte<br />
Chroniken (unter anderem <strong>von</strong><br />
Schilling, Anshelm, Stumpf) und literarische<br />
Bearbeitungen. Die Germanistin<br />
Romy Günthart hat zwei der bis anhin<br />
unedierten neuhochdeutschen Schriften<br />
herausgegeben und kommentiert: Einmal<br />
ist es eine «falsch history» und einmal<br />
eine «war history».<br />
Dasamerikanische Buch Exzellenteneue Biografieüber Arthur Koestler<br />
In seinen letzten Jahren, ehe er im März<br />
1983 mit seiner dritten Frau Cynthia in<br />
den Freitod ging, hat sich der Schriftsteller<br />
Arthur Koestler einmal als «Casanova<br />
der Anliegen» bezeichnet. Wie<br />
der Publizist und Literaturwissenschafter<br />
Michael Scammell in seiner neuen<br />
monumentalen Biografie Koestler: The<br />
Literary and Political Odyssey of a Twentieth-Century<br />
Skeptic (Random House,<br />
689 Seiten) zeigt, hat sich der Sohn eines<br />
ungarisch-jüdischen Geschäftsmannes<br />
bei seinen intellektuellen<br />
Amouren meist gegen den Zeitgeist gestemmt:<br />
Als Student im Wien der<br />
1920er Jahre schloss er sich den «Revisionisten»<br />
um Wladimir Jabotinsky an,<br />
als diese eine radikale Minderheit in<br />
der zionistischen Bewegung waren.<br />
Völlig mittellos und mitunter tagelang<br />
ohne Nahrung, begann er im April 1926<br />
in Palästina seine Karriere als Journalist<br />
und Autor, während die meisten<br />
Zionisten ihre Sache lieber <strong>von</strong> gemütlichen<br />
Redaktionsstuben in Europa aus<br />
vertraten.<br />
In Palästina wurde aus «Köstler» Koestler,<br />
da seine Druckerei keine Umlaute in<br />
ihren Setzkästen hatte. Mit 26 bereits<br />
eine bekannte Edelfeder, trat der Ullstein-Journalist<br />
Ende 1931 in Berlin in<br />
die KPD ein. Doch 1938 brach Koestler<br />
unter dem Eindruck der Moskauer<br />
Schauprozesse mit der Partei. Zwei<br />
Jahre später hat er die Entscheidung mit<br />
seinem Meisterwerk «Sonnenfinsternis»<br />
öffentlich gemacht. Später zog sich<br />
Koestler den Unmut vieler Israeli zu, als<br />
er in «The Thirteenth Tribe» die dubiose<br />
Theorie vertrat, die osteuropäischen<br />
Juden stammten nicht <strong>von</strong> dem<br />
Volk der Bibel, sondern <strong>von</strong> den zentralasiatischen<br />
Khazaren ab.<br />
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
dMitri KesseL / gettY<br />
Hans Jetzer war Laienbruder im Berner<br />
Dominikanerkloster, wo sich 1507/08<br />
zahlreiche Wunder und Erscheinungen<br />
ereigneten. Gespenster und Heilige<br />
erschienen, eine Pietà weinte blutrote<br />
Tränen, Jetzer selber empfing die Stigmata.<br />
Ein Pilgerstrom setzte ein. Aber<br />
nicht alle glaubten den wunderlichen<br />
Vorkommnissen. Vier Mönche, darunter<br />
der Klostervorsteher, wurden angeklagt,<br />
nicht nur den ganzen Zauber inszeniert<br />
zu haben, sie sollen Jetzer auch eigenhändig<br />
die blutigen Wunden zugefügt<br />
haben. Der Prozess dauerte ein halbes<br />
Jahr und schlug Wellen bis zum Papst<br />
nach Rom. Das Berner Gericht bezichtigte<br />
schliesslich die vier Mönche der<br />
Ketzerei und verurteilte sie zum Feuertod;<br />
sie wurden am 31. Mai 1509 vor den<br />
Mauern der Stadt verbrannt. Jetzer kam<br />
ins Gefängnis.<br />
Der «Jetzerhandel» diente in der<br />
Folge den Kritikern der katholischen<br />
Arthur Koestler Ende<br />
der 1940er Jahre in<br />
den USA (oben).<br />
Autor Michael<br />
Scammell (unten).<br />
Diese Schlaglichter auf ein Œuvre und<br />
eine Biografie, die ebenso reich wie<br />
kontrovers sind, sprechen zumindest<br />
für Eigenwilligkeit und intellektuelle Risikobereitschaft.<br />
Doch Scammell schildert<br />
auch zahlreiche Beispiele für den<br />
persönlichen Mut, der Koestler bereits<br />
in jungen Jahren ausgezeichnet hat.<br />
Kaum 1,65 Meter gross, nahm «der<br />
kleine Köstler» als Mitglied eines jüdischen<br />
Studenten-Korps in Wien lieber<br />
eine blutige Keilerei mit deutschnationalen<br />
Kommilitonen in Kauf, als sich<br />
den Zutritt in eine Bibliothek verwehren<br />
zu lassen. Als Reporter – und kommunistischer<br />
Agent – im Spanischen Bürgerkrieg<br />
riskierte Koestler eher seine<br />
Hinrichtung durch Franco-Truppen, als<br />
Kirche als Beispiel für die Verlogenheit<br />
des Klerus. Auch in Luthers Schriften<br />
finden sich Bezüge zum Berner Prozess.<br />
Die skandalösen Vorkommnisse wurden<br />
alsbald medial verarbeitet. Es erschienen<br />
Schriften unter anderem in Basel,<br />
Strassburg, München, Rostock, später<br />
Übersetzungen in Genf und London.<br />
Erst im 18.Jahrhundert verlor der Prozess<br />
an Aktualität.<br />
Günthart ediert zwei Prosafassungen,<br />
die unmittelbar nach dem Prozess<br />
erschienen sind. Während in der älteren<br />
Schrift Hans Jetzer als Betrüger geschildert<br />
wird, ist das etwas jüngere Werk<br />
aus antidominikanischer Perspektive<br />
verfasst; hier werden die Dominikanermönche<br />
als Schuldige entlarvt. Dieses<br />
Werk, 1509 in Strassburg erschienen und<br />
mit Holzschnitten <strong>von</strong> Urs Graf illustriert,<br />
wurde zum eigentlichen Multiplikator<br />
der Geschichte im 16. und 17.Jahrhundert.<br />
●<br />
sich durch eine Flucht in Sicherheit zu<br />
bringen. Allerdings war er Anfang 1940<br />
in Frankreich klug genug, sich der Verhaftung<br />
durch die deutschen Invasoren<br />
mit dem Eintritt in die Fremdenlegion<br />
zu entziehen. Bald darauf nach Nordafrika<br />
verlegt, desertierte er <strong>von</strong> der<br />
Legion in Richtung England.<br />
Scammell, der 1995 mit einer umfangreichen<br />
Solschenizyn-Biografie bekannt<br />
wurde, hat die dramatische Vita<br />
seines Protagonisten zu exzellentem<br />
Lesestoff verdichtet. Er hat gut 20 Jahre<br />
an «Koestler» gearbeitet und wurde<br />
dafür zumindest mit ausführlichen und<br />
durchweg sehr positiven Kritiken, etwa<br />
im «New Yorker», belohnt. Dies nicht<br />
zuletzt deshalb, weil es dem Professor<br />
an der New Yorker Columbia University<br />
gelingt, auch die geistigen Strömungen<br />
und Debatten lebendig zu<br />
machen, in denen sich Koestler bewegt<br />
und die er mitgeprägt hat.<br />
Das Buch zeigt Arthur Koestler als<br />
bekennenden Kosmopoliten, dem die<br />
dramatischen Zeitläufe, aber auch<br />
seine eigene Herkunft gar keine andere<br />
Wahl liessen als die ruhelose Wanderung<br />
<strong>von</strong> Thema zu Thema und <strong>von</strong><br />
Ort zu Ort. Seine Vernachlässigung<br />
durch den meist abwesenden Vater und<br />
die kalte, abweisende Mutter gab<br />
Koestler eine Unsicherheit mit auf den<br />
Weg, die ihn überdies in die Arme zahlreicher<br />
Frauen trieb. Dass er seine physischen<br />
Amouren so schnöde behandelt<br />
hat wie auch die meisten seiner intellektuellen<br />
Affären, gehört zu den Schattenseiten<br />
Koestlers, die Michael<br />
Scammell dem Leser ebenfalls nicht<br />
vorenthält. ●<br />
Von <strong>Andreas</strong> Mink
Agenda<br />
Karl May Freundschaft, Kampfund Liebe<br />
Die Karl-May-Verfilmungen der 1960er Jahrewaren<br />
grosses Kino: In hehrer Landschaftkämpften edle<br />
Wilde gegenabgefeimteSchurken. PierreBriceals<br />
Winnetou (rechts)und LexBarker als Old Shatterhand<br />
(links), die <strong>von</strong>Feinden zu Blutsbrüdern<br />
wurden, begeisterten die Nation ebenso wie Marie<br />
Versini als Nscho-tschi mit ihrem keuschen Liebreiz.<br />
Alle drei wurden zu Idolen der Jugend. Die opulentesteSerie<br />
der deutschen Filmgeschichtebegann<br />
1962mit «Der Schatz im Silbersee»und endete1968<br />
mit «Winnetou und Shatterhand im Talder Toten».<br />
Bestseller Januar 2010<br />
Belletristik<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4 David<br />
5<br />
6 Paulo<br />
7<br />
8<br />
Herta<br />
9<br />
Cecelia<br />
10<br />
DanBrown: Dasverlorene Symbol.<br />
Lübbe.760 Seiten, Fr.39.90.<br />
William P. Young: Die Hütte.<br />
Allegria. 304Seiten, Fr.29.90.<br />
SandraBrown: EwigeTreue.<br />
Blanvalet. 500 Seiten, Fr.34.90.<br />
Nicholls: Zwei an einem Tag.<br />
Kein &Aber.541 Seiten, Fr.34.90.<br />
Eveline Hasler: Engel im zweiten Lehrjahr.<br />
Nagel&Kimche.96Seiten, Fr.26.90.<br />
Coelho: Der Sieger bleibt allein.<br />
Diogenes. 498Seiten, Fr.38.90.<br />
ElkeHeidenreich, Bernd Schroeder: Alte<br />
Liebe. Hanser.192 Seiten, Fr.31.90.<br />
Müller: Atemschaukel.<br />
Hanser.304 Seiten, Fr.34.50.<br />
Ahern:Zeit deines Lebens.<br />
Krüger.362 Seiten, Fr.29.90.<br />
Diana Gabaldon: Echo der Hoffnung.<br />
Blanvalet. 1024 Seiten, Fr.43.90.<br />
Insgesamt wurden 17 Kinofilme gedreht. Die meisten<br />
spielten in der Welt der Indianer und Siedler,einige<br />
(«Der Schut», «Durchs wilde Kurdistan») entstammten<br />
aber auch der Serie der Balkan-Romane<br />
um Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar.Nun<br />
lässtein prachtvoller Bildband im Breitformatdie<br />
Karl-May-Welt in Eastman-Color nochmals lebendig<br />
werden. Ein nostalgisches Vergnügen! Manfred Papst<br />
Dasgrosse Album der Karl-May-Filme.<br />
Herausgegeben <strong>von</strong>Michael Petzel. Schwarzkopf &<br />
Schwarzkopf,Berlin 2009.480 Seiten, Fr.159.–.<br />
Sachbuch<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4 Richard<br />
5<br />
6 Pascal<br />
7<br />
8<br />
RogerdeWeck:<br />
9<br />
DetlefPape,<br />
10<br />
YangzomBrauen: Eisenvogel.<br />
Heyne.415 Seiten, Fr.34.90.<br />
Eckart <strong>von</strong>Hirschhausen: Glück kommt<br />
selten allein. Rowohlt. 384Seiten, Fr.33.80.<br />
Guinness-Buch der Rekorde2010.<br />
Brockhaus. 275Seiten, Fr.35.50.<br />
D. Precht: Werbin ich −und wenn ja,<br />
wie viele? Goldmann. 397Seiten, Fr.27.50.<br />
Der Duden.Die deutsche Rechtschreibung +<br />
CD,25. Aufl. Brockhaus. 1216 Seiten, Fr.50.50.<br />
Voggenhuber: Entdeckedeinen<br />
Geistführer. Giger.184 Seiten, Fr.35.90.<br />
Allan und BarbaraPease: Warum Männer<br />
immer Sexwollen. Ullstein. 333 S., Fr.32.90.<br />
Nach der Krise.<br />
Nagel&Kimche.111 Seiten, Fr.17.90.<br />
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 19. 1.2010. Preise laut Angaben <strong>von</strong> www.buch.ch.<br />
BeateQuadbeck: Die Hormonformel.<br />
Gräfe&Unzer.192 Seiten, Fr.36.50.<br />
RichardD.Precht: Liebe. Ein unordentliches<br />
Gefühl. Goldmann. 320 Seiten, Fr.34.90.<br />
Agenda Februar 2010<br />
Basel<br />
Freitag, 5.Februar,19Uhr<br />
Anja Jardine: Als der Mond vom Himmel<br />
fiel. Lesung, mit Schülern des Gymnasiums<br />
Oberwil, Fr. 15.–. Literaturhaus,<br />
Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50.<br />
Dienstag, 9. Februar,19.30 Uhr<br />
Luzius Keller: <strong>Marcel</strong><br />
<strong>Proust</strong> Enzyklopädie.<br />
Lesung, Fr. 10.–. Kleines<br />
Literaturhaus, Bachlettenstrasse<br />
7, Tel. 061 281 81 33.<br />
Donnerstag, 11.Februar,19Uhr<br />
Martha Gellhorn: Ausgewählte Briefe.<br />
Es liest: Chantal Le Moign. Fr. 15.−.<br />
Literaturhaus (s. oben).<br />
Bern<br />
Freitag, 5.Februar,20Uhr<br />
Martin Suter: Der Koch. Lesung, Fr. 20.−.<br />
Hotel National, Hirschengraben 24.<br />
Stauffacher Buchhandlung,<br />
Tel. 031 313 63 63.<br />
Sonntag, 28.Februar,10Uhr<br />
Kindermatinee mit Christoph Simon.<br />
Lesung aus «Häsin Mels und Hase Fitz».<br />
Fr. 10.−/25.– inkl. Frühstücksbuffet.<br />
Kornhausbibliothek, Reservation unter<br />
Tel. 031 327 10 12.<br />
Zürich<br />
Montag, 1.Februar,22Uhr<br />
Ruth Schweikert liest aus ihrem unpublizierten<br />
Manuskript. Restaurant Bärengasse,<br />
Bahnhofstrasse 25. Anmeldung:<br />
www.restaurant-baerengasse.ch/kultur.<br />
Mittwoch, 10.Februar,20Uhr<br />
Tatiana de Rosnay: Bumerang. Lesung,<br />
Fr. 18.− inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai<br />
62, Tel. 044 254 50 00.<br />
Mittwoch, 10.Februar,20.45 Uhr<br />
Milena Moser: Möchtegern.<br />
Lesung. Buchhandlung<br />
Orell Füssli, Füsslistrasse 4.<br />
Vorverkauf in der Buchhandlung.<br />
Donnerstag, 11.Februar,20Uhr<br />
Daniel Goetsch: Herz aus Sand. Lesung,<br />
Fr. 20.–. Kulturmarkt im Zwinglihaus,<br />
Ämtlerstrasse 23, Tel. 044 454 10 10.<br />
Sonntag, 21. Februar,17Uhr<br />
Annette Hug und Simona Ryser. Pedro<br />
Lenz lädt zur Lesung, Fr. 35.–. Miller’s<br />
Studio, Seefeldstr. 225, Tel. 044 387 99 70.<br />
Samstag, 27.Februar,20Uhr<br />
Elke Heidenreich und Bernd Schroeder:<br />
Alte Liebe. Lesung, Fr. 35.–. Kaufleuten,<br />
Klubsaal, Pelikanplatz, Tel. 044 225 33 77.<br />
Bücher am Sonntag Nr.2<br />
erscheint am 28. 2. 2010<br />
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am<br />
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60<br />
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange<br />
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,<br />
8001 Zürich, erhältlich.<br />
31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27<br />
Marc wetLi
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