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Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...

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Essay<br />

1983 wurde <strong>Proust</strong>s Erzählung «Un amour de Swann» <strong>von</strong> Volker Schlöndorff verfilmt. Die Hauptrollen spielten<br />

Jeremy Irons und Fanny Ardant (beide im Vordergrund).<br />

rue Laurent-Pichat beklagte? «Die Nachbarn<br />

treiben jeden Tag Liebe mit einer Raserei, die<br />

mich eifersüchtig macht. Wenn ich daran denke,<br />

dass diese Empfindung für mich noch schwächer<br />

ist als die, ein Glas kühles Bier zu trinken,<br />

beneide ich die Leute, die solche Schreie ausstossen,<br />

dass ich beim ersten Mal an einen Mord<br />

dachte, doch der Schrei der Frau, eine Oktave<br />

tiefer vom Mann wiederholt, hat mir über das<br />

Geschehen bald Gewissheit verschafft.» Und<br />

gab es nach dieser Passage in der Briefausgabe<br />

nicht merkwürdige Auslassungen in eckigen<br />

Klammern? Was da wohl noch gekommen wäre?<br />

Wenn der <strong>Proust</strong>ianer auf seiner Lustreise<br />

durch Tadiés Wälzer auf Seite 821 angekommen<br />

ist, löst sich das Rätsel – Tadié liefert die Textlücken<br />

nach. Er hat sich, wo, sagt er nicht, das<br />

Brieforiginal angesehen, das der Herausgeber<br />

der Korrespondenz noch nach einem unvollständigen<br />

Auktionskatalog zitiert hatte, und er<br />

hat einen bemerkenswerten Fund getan. «Der<br />

letzte Schrei ist noch nicht ganz ausgestossen»,<br />

heisst es in den ausgelassenen Sätzen, «da stürzen<br />

sie sich auf ein Sitzbad und der Krach endet<br />

mit einem Geräusch fliessenden Wassers.»<br />

Neue Facetten blitzen auf<br />

So weit so gut; das hatte auch schon Keller in<br />

seinem Kommentar zur «Recherche» nachgetragen.<br />

Doch dann wartet <strong>Proust</strong> mit einem<br />

Geständnis auf, dessen Unverblümtheit bei<br />

einem, der seine Homosexualität immer ebenso<br />

kunstvoll lebte wie verbarg, mehr als erstaunt.<br />

«Das völlige Fehlen eines Übergangs strengt<br />

mich an ihrer Stelle an, denn wenn es etwas<br />

gibt, das ich danach verabscheue, oder zumindest<br />

sofort danach, dann ist es, sich zu bewegen.<br />

Welcher Egoismus auch darin enthalten<br />

sein mag, die milde Wärme eines Mundes, der<br />

nichts mehr aufzunehmen hat, an derselben<br />

Stelle festzuhalten.»<br />

Das ist auch für die, die <strong>Proust</strong>s ebenso masochistische<br />

wie witzige Bordellszenen gelesen<br />

haben, eine nette Facette im Bild ihres <strong>von</strong> manchen<br />

für einen reinen Ästheten gehaltenen<br />

Autors. Was hätte man darum gegeben, Ähn-<br />

14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

liches einmal in einem der feinsinnigen Bücher<br />

über den halbseidenen Stefan George zu lesen?<br />

Aber Tadié bringt diese Passage nicht um der<br />

knisternden Anekdote willen. Er erwähnt sie,<br />

weil sie für die überzeugende Methode seiner<br />

Biografie notwendig ist. Für Tadié ist die<br />

«eigentliche Biografie eines Schriftstellers»<br />

nicht spekulatives Stochern in der Vita des<br />

Künstlers, sondern die wohlbegründete «Biografie<br />

seines Werkes». Also zeigt er, wie <strong>Proust</strong><br />

seine Briefbemerkungen vom Juli 1919 fast<br />

Die Biografie sammelt die<br />

scheinbar unbedeutendsten<br />

Mosaiksteinchen und fügt<br />

sie zur Geschichte der<br />

Entstehung der berühmten<br />

«Recherche».<br />

wortwörtlich flugs in die Druckvorlage des<br />

Romanbandes «Sodom und Gomorrha» einfügte,<br />

in dessen Manuskript sie noch nicht standen.<br />

Und wie er in der 2.Auflage des Bandes mit<br />

handschriftlichen Randnotizen nochmals am<br />

Wortlaut der Stelle herumfeilte.<br />

Das ist das Wunder <strong>von</strong> Tadiés Biografie:<br />

Sie sammelt akribisch noch die scheinbar<br />

unbedeutendsten Mosaiksteinchen und fügt sie<br />

geduldig zur Entstehungsgeschichte der<br />

«Recherche» zusammen. Welche Einflüsse<br />

formten das so überwältigende Erkenntnisinstrument,<br />

als das uns <strong>Proust</strong>s Stil erscheint?<br />

Wie baute er seine so plastischen und so<br />

abgründigen Figuren auf, etwa den schwulen<br />

Baron Charlus, eine Figur, die auch Shakespeare<br />

wohl angestanden hätte? Tadié zeigt mit einem<br />

immensen Reichtum an Fakten, welch unglaubliches<br />

Quantum an Erfahrungen aller Art <strong>Proust</strong><br />

in sich aufnahm, um es in seinen Romankosmos<br />

umzuformen. Die Lektüre dieses Riesenwerkes<br />

gleicht freilich einer Winterwanderung in tie-<br />

pwe<br />

fem nassem Schnee, immer wieder sinkt man<br />

ein, oft verliert man den Weg. Erzählen kann<br />

Tadié wirklich nicht. Seine Biografie ist der Fall<br />

eines streckenweise fast unlesbaren, aber hundertprozentig<br />

unentbehrlichen Buches. Man<br />

ärgert sich nicht selten grün und blau – und<br />

wird zum Nachlesen doch stets zu diesem Standardwerk<br />

zurückkehren.<br />

Wie anders wird es dem <strong>Proust</strong>ianer, wenn<br />

er sich der vom Zürcher Romanistikprofessor<br />

und <strong>Proust</strong>forscher Luzius Keller herausgegebenen<br />

«<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> Enzyklopädie» zuwendet.<br />

Durch dieses Buch summt er wie eine Biene<br />

durch das Blütenmeer einer sonnenwarmen<br />

blühenden Alpenwiese. Was immer er während<br />

seiner <strong>Proust</strong>-Lektüre genauer wissen möchte<br />

– Keller weiss es. Ihn frappiert der Konversationsstil<br />

in <strong>Proust</strong>s Salonszenen? Kellers Konversationsartikel<br />

klärt ihn zuverlässig auf. Er<br />

fragt sich, was es mit den Monokeln auf sich<br />

hat, mit denen die Salonlöwen so wichtigtun?<br />

In der «Enzyklopädie» steht es. Was es mit den<br />

Figuren auf sich hat, die sich in den Salons tummeln,<br />

wer ihre Vorbilder sind – Keller fragen.<br />

Enzyklopädisches Wissen<br />

Das Nachschlagen summiert sich mit der Zeit<br />

zu einer überraschungsreichen Reise durch die<br />

Kulturgeschichte Frankreichs. Fast jeder Eintrag<br />

«vaut un détour», michelinisch gesprochen.<br />

Wir erfahren nicht nur, wie sich in <strong>Proust</strong>s<br />

Umgang mit Racines jüdischer Dramenheldin<br />

Esther sein Verhältnis zu seinem eigenen Judentum<br />

verpuppte. Wir werden <strong>von</strong> Keller auch auf<br />

einen ganz eigenen Lektüre- und Suchparcours<br />

gewiesen. Im Konversationsartikel lesen wir:<br />

«Wir sprechen für die anderen. Doch wir<br />

schweigen für uns selbst. Deshalb trägt das<br />

Schweigen, im Gegensatz zum Sprechen, nicht<br />

die Spur unserer Fehler und unserer Grimassen.<br />

Es ist rein.»<br />

Wie konnte man diese Sätze aus «Tage des<br />

Lesens» vergessen; man geht hin und liest nach.<br />

Und nicht selten legt man die «Enzyklopädie»<br />

mit lautem Lachen aus der Hand. Wer wusste<br />

schon, «dass <strong>Proust</strong> bis um 1900 prou ausgesprochen<br />

wurde, dass mit dem gleichlautenden<br />

‹prout› das Geräusch eines Furzes bezeichnet<br />

wird und dass ‹prout› als Interjektion Schwulheit<br />

evoziert»?<br />

In der französischen Originalausgabe der<br />

«Enzyklopädie» sucht man die feinsten Einsichten<br />

der deutschen indes vergeblich. Keller<br />

hat das <strong>von</strong> den besten <strong>Proust</strong>forschern verfasste<br />

Kollektivwerk für die deutsche Ausgabe<br />

<strong>von</strong> recht vielen schwachen Artikeln befreit<br />

und zahllose neue eigene beigesteuert. Das ist<br />

Kellers Stil: Diskret liefert er sein Hauptwerk in<br />

Gestalt eines fast anonym daherkommenden<br />

Sammelwerkes ab, in dem, wenn man genauer<br />

hinsieht, zufällig einfach ein paar hundert Seiten<br />

<strong>von</strong> ihm verfasst sind. Sein zweites Hauptwerk<br />

übrigens; das erste waren die 14 Bände der<br />

Frankfurter <strong>Proust</strong>-Ausgabe, die er herausgegeben,<br />

kommentiert und übersetzerisch revidiert<br />

hat – gibt es für so was eigentlich keine<br />

Literaturpreise?<br />

Was tut der <strong>Proust</strong>ianer, wenn er lesensmüde<br />

wird? Er reist im Mai nach Illiers, das <strong>Proust</strong> als<br />

Combray verewigt hat, schnuppert durchs Haus<br />

der <strong>Proust</strong>s, bummelt der Vi<strong>von</strong>ne entlang, die<br />

in Wirklichkeit Loir heisst, bewundert den Flieder<br />

und reist weiter ins <strong>Proust</strong>sche Seebad<br />

Balbec, das in Wirklichkeit Cabourg heisst,<br />

mietet sich im Grand-Hotel ein und sieht aufs<br />

Meer. Wenn ihn die tröstliche Einsicht überkommt,<br />

dass <strong>Proust</strong> das alles viel schöner<br />

beschrieben hat, als es ist, dass die Literatur<br />

also dem (Reise-)Leben vorzuziehen sei, reist<br />

er heim und macht weiter wie immer. Man<br />

muss sich den <strong>Proust</strong>ianer eben als einen glücklichen<br />

Menschen vorstellen. ●

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