Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...
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Belletristik<br />
Roman Der deutsche Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil lernte erst mit sieben Jahren zu sprechen. In seinem<br />
stark autobiografischen Buch erzählt er die Geschichte einer symbiotischen Mutter-Sohn-Beziehung<br />
Mutterliebe wird zur Droge<br />
Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des<br />
Lebens. Luchterhand, München 2009.<br />
590Seiten, Fr 39.90.<br />
Von Angelika Overath<br />
«Die Erfindung des Lebens» ist ein stark<br />
autobiografischer Text. Gleich zu Beginn<br />
gerät der Leser in den Sog eines muffigeleganten<br />
Köln der 1950er Jahre, mit<br />
stundenlang vor sich hinkochenden<br />
köstlichen Elementarsuppen (Knochen,<br />
Gemüse, Mutterliebe), er stolpert durch<br />
die schwarze Pädagogik einer deutschen<br />
Nachkriegsschule, hört die alte Stille des<br />
noch fernsehfreien Wohnzimmers, wenn<br />
aus dem Radio rauschgestörte Hörspiele<br />
für Kinder kommen. Aber er überblickt<br />
diese Tableaus im hellen Rom der<br />
Gegenwart (Piazza di Santa Maria Liberatrice,<br />
im Viertel Testaccio) bei einem<br />
italienischen Kaffee mit porösem<br />
Schaum etwa, wo ein Mann, der Schriftsteller<br />
geworden ist, seine Kindheit und<br />
Jugend niederschreibt. Der Mann ist<br />
unschwer als der Autor selbst zu erkennen.<br />
Das Brot seiner frühen Jahre ist so<br />
romanhaft, dass es, um glaubwürdig<br />
geteilt zu werden, wiedergefunden werden<br />
muss. «Schritt für Schritt will ich<br />
mein Leben noch einmal ergründen und<br />
jedem kleinen Wink nachgehen. Letztlich<br />
folge ich dabei nur einigen Lichtsequenzen<br />
in einem grossen Dunkel.»<br />
Stummheit als Liebesband<br />
Erzählen erdet. Der Roman ist letztlich<br />
die Geschichte eines missbrauchten<br />
Kindes, das erst im Liebesverrat an der<br />
Mutter sprechen lernt und sein Ausgesetztsein<br />
über das (zunächst mütterlich<br />
begleitete) Klavierspiel und am Ende<br />
schreibend meistern wird. Aber so hart<br />
formuliert es der Autor nicht. Ortheil<br />
schreibt zärtlich suchend aus Kindersicht.<br />
Und der Leser begreift dicht an<br />
der Seite des Knaben tatsächlich erst<br />
mit der Zeit das Ausmass der Katastrophe.<br />
Das Ehepaar Catt, Vater Josef, Vermessungsingenieur<br />
bei der Bahn, Mutter<br />
Katharina, Hausfrau, verlor bei einem<br />
Bombenangriff in Berlin seinen erstgeborenen<br />
Sohn. Die Familie flieht aufs<br />
Land, wo bei Kriegsende ein verirrter<br />
Granatsplitter den zweiten, dreijährigen<br />
Sohn trifft. Er stirbt in den Armen der<br />
Mutter, die die Sprache verliert. Ihre<br />
beiden nächsten Söhne sind Totgeburten.<br />
Johannes ist ihr fünfter Sohn. Er<br />
wird ihr Einziges, ihr alles. Und er bleibt<br />
stumm, wie sie. Die Stummheit ist das<br />
Liebesband zwischen Mutter und Sohn.<br />
Die Mietwohnung im Kölner Norden<br />
umschliesst beide wie ein dunkler Uterus.<br />
In völligem Gleichklang leben sie<br />
hier einen ritualisierten Tag. Die Mutter<br />
liest und notiert Gedanken auf kleine<br />
Zettel, die sie mit einem Gummi zusammenfasst.<br />
Das Kind verhält sich still; es<br />
ist für die Mutter da. Bei den seltenen<br />
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
pLainpicture / wiLdcard<br />
Hanns-Josef Ortheil<br />
erzählt die Geschichte<br />
eines missbrauchten<br />
Kindes, das ins<br />
Klavierspiel flüchtet.<br />
Einkäufen versteht es sich als Begleitschutz,<br />
es bleibt «in unmittelbarer<br />
Reichweite (...), so dass wir überall, wo<br />
wir hinkamen, wirklich den Eindruck<br />
eines fest aneinandergeketteten Paars<br />
machten». Gegen Abend wartet das<br />
Kind am Fenster auf die Heimkunft des<br />
Vaters. Der liest am Küchentisch – der<br />
Höhepunkt des Tages – die Zettel der<br />
Mutter laut vor. Als es mit der Einschulung<br />
zum Einbruch in die finstere Idylle<br />
kommt (Mutter und Kind akzeptieren<br />
die Trennung nicht, der stumme Junge<br />
wird zum Idioten der Klasse), zieht der<br />
Vater die Reissleine und nimmt den<br />
Buben zu seinen Eltern aufs Land. Hier,<br />
in der natürlichen Umgebung eines<br />
grossen Bauernhofs, beginnt die Entwöhnung<br />
<strong>von</strong> der sedierenden Liebesdroge.<br />
Es ist anrührend zu lesen, wie der<br />
Vater sich in das stumme Kind einfühlt<br />
und entdeckt, dass der Junge über das<br />
Zeichnen nach der Natur schreiben lernen<br />
kann. Er hält ihn an, alles, was er<br />
beobachtet, in Kladden aufzuschreiben.<br />
Das Kind, das mit den Zetteln der Mutter<br />
gross geworden ist, folgt. Sein Sprechen<br />
beginnt bezeichnenderweise, nachdem<br />
der Junge heimlich die nachgereiste<br />
Mutter nackt im See sieht, wie sie<br />
schwimmt und singt. Am selben Abend<br />
ruft er fussballspielenden Kindern zu:<br />
«Gebt mal her.» Und als die Mutter spä-<br />
ter in der Gaststube Chopin spielt, inszeniert<br />
er eifersüchtig seinen eigenen<br />
Auftritt. Bevor das Essen beginnt,<br />
schliesst er die Augen und spricht eine<br />
unheimliche Inventur: «Das ist eine<br />
Suppenschüssel, und daneben ist eine<br />
Suppenkelle. Da ist ein Unterteller...»<br />
Lebensweg Schriftsteller<br />
Der Weg des Jungen führt später über<br />
ein Musikinternat nach Rom zum Klavierstudium;<br />
eine frühe, aussichtsreiche<br />
Karriere muss er jedoch wegen Sehnenscheidenentzündung<br />
abbrechen. Zurück<br />
bei den Eltern, weiss er nicht, was er tun<br />
soll. Die Mutter liest ihm französische<br />
Romane vor. In ihrer Nähe ist er ohne<br />
Hoffnung glücklich. Der Hinweis eines<br />
alten Lehrers, er habe doch immer schon<br />
gelebt wie ein Schriftsteller, wirkt erleuchtend.<br />
Dem einst aus Hingabe stummen<br />
Kind öffnet sich im Schreiben ein<br />
Lebensweg. Sorgfältig hat Ortheil eine<br />
kleine Pianisten-Spiegelgeschichte mit<br />
dem begabten römischen Nachbarmädchen<br />
Marietta eingeflochten, dem der<br />
Schriftsteller Johannes Klavierunterricht<br />
gibt. Das Buch endet mit einem<br />
Musikrausch. Nach dem Auftritt Mariettas<br />
gibt Johannes ein spontanes Konzert.<br />
Unter dem Applaus visioniert er die<br />
alten Eltern in der Ewigen Stadt. Die<br />
Liebe ist ein kostbares Leid. Und was<br />
anderes wäre die Kunst? ●