Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...
Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...
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Essay<br />
Wer sich einmal auf das Romanwerk <strong>von</strong> <strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> einlässt, kommt<br />
kaum mehr <strong>von</strong> ihm los. Was macht den einzigartigen Zauber dieses<br />
Erzählers aus? <strong>Andreas</strong> <strong>Isenschmid</strong> bekennt sich zu seiner Obsession<br />
Ansichteneines<br />
stubenhockerischen<br />
<strong>Proust</strong>ianers<br />
Andere Leser lesen Bücher, und hin und wieder<br />
lesen sie, vielleicht, auch ein Buch <strong>von</strong> <strong>Marcel</strong><br />
<strong>Proust</strong>. Der <strong>Proust</strong>ianer tut das Gegenteil: Er<br />
liest <strong>Proust</strong> und hin und wieder, vielleicht, auch<br />
das Buch eines anderen Autors. Keinen Satz<br />
hält er für wahrer als Roland Barthes’ Feststellung,<br />
die «Recherche» (also <strong>Proust</strong>s 7-bändiger<br />
Roman «Auf der Suche nach der verlorenen<br />
Zeit») sei für den <strong>Proust</strong>ianer, was die Bibel für<br />
den Christen: Er liest jeden Tag in ihr, und sie<br />
spendet ihm Trost in allen Lebenslagen, ob er<br />
nun jung oder alt, verliebt oder todtraurig,<br />
spottlustig oder erleuchtungsbedürftig, auf Reisen<br />
oder in der Stube, eigenbrötlerisch oder<br />
Auswahl des <strong>Proust</strong>ianers<br />
Jean-Yves Tadié: <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>. Biografie.<br />
Suhrkamp,2008. 1266 Seiten, Fr.110.–.<br />
Luzius Keller: <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>Enzyklopädie.<br />
Hoffmann und Campe,2009.1018S., Fr.163.–.<br />
<strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>: Cahiers1à75. Bibliothèque<br />
nationale de France/Brepols.ImFebruar<br />
erscheintCahier 71, €200.–.<br />
Eric Karpeles: <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>und die Gemälde<br />
aus der Verlorenen Zeit. Du Mont, 2010.196 Abb.,<br />
352Seiten, Fr.58.– (ab22. 2. im Handel).<br />
Michael Maar: <strong>Proust</strong>s Pharao. Berenberg,<br />
2009.80Seiten, Fr.34.90.<br />
Cher ami... <strong>Marcel</strong><strong>Proust</strong>imSpiegel seiner<br />
Korrespondenz. Hrsg.JürgenRitte und Reiner<br />
Speck. Snoeck, 2009.390 Seiten, Fr.80.90.<br />
Stéphane Heuets Comics zur«Recherche».<br />
Bisjetzt 5Bände.Delcourt, seit 1998, je Fr.25.–.<br />
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />
salongängerisch ist. Die «Recherche» spendet<br />
diesen Trost übrigens nicht nur ästhetisch, weil<br />
<strong>Proust</strong> nun einmal die schönsten (wenn auch,<br />
zugegeben, die längsten) Sätze der Weltliteratur<br />
schreibt und die besten Metaphern zur<br />
Hand hat. Sie spendet ihn, ganz wie die Bibel,<br />
auch durch ihre Wahrheit. Denn die «Recherche»<br />
ist, da kennt der <strong>Proust</strong>ianer keinen Zweifel,<br />
auch eines der feinsten philosophischen<br />
Werke. Nur verkündet es seine Wahrheiten<br />
nicht in allgemeinen Begriffen, sondern in einer<br />
Folge detailliert und lebensnah geschilderter<br />
Desillusionierungen. Welcher Philosoph hat je<br />
so viele Täuschungen, also Unwahrheiten, aufgeklärt<br />
wie <strong>Proust</strong>? Und welcher lässt seine<br />
Figuren nach aller mitleidlosen, spöttischen,<br />
messerscharfen Decouvrierung zugleich so zart<br />
und menschlich aussehen wie <strong>Proust</strong>? Er ist<br />
nicht nur stilistisch und stofflich der universalste<br />
Autor, er ist auch der menschlichste.<br />
<strong>Proust</strong>forschung wächst<br />
Man muss sich den <strong>Proust</strong>ianer als einen glücklichen<br />
Menschen vorstellen. Was anderen<br />
Lesern eine unerträgliche Qual wäre, das<br />
Durchblättern tausendseitiger Wälzer, ist ihm<br />
die reine <strong>Freud</strong>e. Anders als <strong>Proust</strong>, der kein<br />
Sammler war, in seinem Zimmer kaum ein Bild<br />
hängen hatte und nur wenige Bücher besass,<br />
kommt der <strong>Proust</strong>ianer über die Jahre zu einer<br />
platzraubenden Kollektion <strong>von</strong> Text- und Tafelwerken.<br />
21 Brief- und 20 Textbände, alle reich<br />
kommentiert, bilden den Grundstock, zahllose<br />
Bildbände dienen dem Vergnügen des Auges,<br />
und jedes Jahr kommen ein paar hundert,<br />
in guten Jahren gar ein paar tausend Seiten<br />
<strong>Proust</strong>forschung dazu. Vorletztes Jahr etwa die<br />
1266 Seiten der deutschen Ausgabe <strong>von</strong> Tadiés<br />
<strong>Proust</strong>-Biografie und der sündhaft teure erste<br />
Doppelband der Faksimile-Ausgabe der<br />
«Cahiers», der handschriftlichen Notiz- und<br />
Entwurfshefte <strong>Proust</strong>s, diesen Winter die 1018<br />
Seiten <strong>von</strong> Luzius Kellers «<strong>Marcel</strong> <strong>Proust</strong> Enzyklopädie».<br />
Für den Frühling erwartet der <strong>Proust</strong>ianer<br />
die deutsche Ausgabe <strong>von</strong> Eric Karpeles’<br />
Tafelwerk mit allen in der «Recherche» erwähnten<br />
Gemälden. Wahrscheinlich kann man kaum<br />
einen Autor der Weltliteratur so genau kennen<br />
wie <strong>Proust</strong>, jeder Tag seines Lebens und jede<br />
«Auf der Suche nach der<br />
verlorenen Zeit» ist eines<br />
der feinsten philosophischen<br />
Werke. Es verkündet die<br />
Wahrheiten in einer Folge<br />
<strong>von</strong> Desillusionierungen.<br />
Zeile seines Schreibens scheint mehrfach hinund<br />
hergewendet, und gewiss wäre jeder andere<br />
Autor auf diese Weise längst zu Tode kommentiert.<br />
Nicht so <strong>Proust</strong>! Es bestätigt den<br />
<strong>Proust</strong>ianer in seiner Idolatrie, dass <strong>Proust</strong>s<br />
Werk durch alles, was man über es erfährt, nur<br />
immer facettenreicher, tiefgründiger und wunderähnlicher<br />
wird.<br />
Nehmen wir die Facetten. Gab es da im<br />
18. Band der Korrespondenz nicht diesen denkwürdigen<br />
Brief, in dem <strong>Proust</strong> sich über den<br />
geräuschvollen Sex seiner Nachbarn an der