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Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...

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Sachbuch<br />

Doppelbiografie Die Grimms: zwei ungleiche<br />

Brüder –hochgeachtet und gleichzeitig angefeindet<br />

DieMärchensammler<br />

und<br />

Sprachbaumeister<br />

SteffenMartus: Die Brüder Grimm.<br />

EineBiographie. Rowohlt, Berlin 2009.<br />

608 Seiten, Fr.46.70.<br />

Von <strong>Andreas</strong> Tobler<br />

Wer kennt sie nicht, die Brüder Wilhelm<br />

und Jacob Grimm, die nicht nur Märchen-<br />

und Sagensammler, sondern auch<br />

Gründerväter der Germanistik und Pioniere<br />

der Lexikografie waren? Nun porträtiert<br />

der Literaturwissenschafter<br />

Steffen Martus die Grimms in einer<br />

grossen Biografie als zwei ungleiche<br />

Brüder, die sich schon früh darauf verständigten,<br />

dass sie sich «einmal nie<br />

trennen» werden und – so Martus – das<br />

«schweigende Miteinander am Schreibtisch»<br />

für sie die einzig wahre Lebensund<br />

Arbeitsform sei.<br />

Darüber hinaus zeigt uns Martus, wie<br />

die Brüder sich mit ihrer enormen Leistungsbereitschaft<br />

und ihrer Flexibilität<br />

gegen zahlreiche Widerstände durchsetzen<br />

und ihrer Märchensammlung, die<br />

wegen ihres wissenschaftlichen Apparats<br />

und ihres Umfangs zunächst ein<br />

Verkaufsflop war, mit einer Auswahl<br />

zum Durchbruch verhelfen konnten.<br />

Mit ihrer Radikalität, ihrer Sammelwut<br />

und ihrer sprichwörtlich gewordenen<br />

«Andacht zum Unbedeutenden»<br />

stiessen die Grimms, die uns Martus als<br />

«moderne Traditionalisten» vorstellt,<br />

aber nur zu oft bei ihren Zeitgenossen<br />

auf Unverständnis, so zum Beispiel bei<br />

Friedrich Schlegel, der in den Brüdern<br />

zwei «sehr rohe Teppen» sah.<br />

Pakt mit dem Teufel<br />

Für ihre Grossprojekte – die «Kinderund<br />

Hausmärchen», das Wörterbuch<br />

und Jacobs «Deutsche Grammatik» –<br />

ernteten die Brüder aber auch Lob, so<br />

zum Beispiel <strong>von</strong> Heinrich Heine: Mit<br />

seiner Grammatik habe Jacob für die<br />

Sprachwissenschaft mehr geleistet als<br />

die «ganze französische Akademie seit<br />

Richelieu», meinte Heine, der sich vor<br />

den unschätzbaren Verdiensten der Brüder<br />

verneigte und Jacobs «kolossales<br />

Werk» mit dem unvollendeten Kölner<br />

Dom verglich, <strong>von</strong> dem man einige Jahre<br />

zuvor die ursprünglichen Pläne gefunden<br />

hatte und den man nun fertigstellte. Heines<br />

Hochachtung vor der Leistung des<br />

älteren Grimmbruders war derart gross,<br />

dass er vermutete, Jacob habe für seine<br />

Grammatik einen Pakt mit dem Teufel<br />

geschlossen, «damit er ihm die Materialien<br />

lieferte und ihm als Handlanger<br />

diente bei diesem ungeheuren Sprachbauwerk»,<br />

denn «um diese Quadern <strong>von</strong><br />

22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Januar 2010<br />

Gelehrsamkeit herbeizuschleppen,<br />

um aus diesen<br />

hunderttausend Zitaten<br />

einen Mörtel zu<br />

stampfen, dazu gehört mehr<br />

als ein Menschenleben und<br />

mehr als Menschengeduld».<br />

Für kein anderes<br />

Projekt sind Heines<br />

Worte so zutreffend<br />

wie für<br />

das «DeutscheWörterbuch»,<br />

mit<br />

dem die Brüder Grimm<br />

im letzten VierteljahrhundertihresLebensbeschäftigt<br />

waren. In diesem Grossprojekt<br />

zeige sich die Modernität<br />

der Brüder, die mit<br />

zahlreichen Belegen aus der<br />

Literatur den Benutzern ihres<br />

Wörterbuches vor<br />

Augen führten, wie<br />

stark «der Gebrauch<br />

die Bedeutung der<br />

Wörter bestimmt».<br />

Angetrieben <strong>von</strong><br />

ihrer Sammelwut<br />

und ihrem<br />

pädagogischphilologischen<br />

Eifer<br />

verfolgten<br />

die Grimms<br />

damit aber<br />

auch das Ziel,<br />

der Einigung<br />

Deutschlands zuzuarbeiten,<br />

indem sie mit<br />

ihrem Nachschlagewerk die<br />

«Einheit der Vielfalt und<br />

die Vielfältigkeit der Einheit»<br />

(Martus) der deutschen<br />

Sprache deutlich<br />

machten.<br />

Dazu wäre anzumerken,<br />

dass die<br />

Grimms in ihrem<br />

Wörterbuch<br />

selbstverständ-<br />

lich auch Belege<br />

aus der Schweiz, so<br />

zum Beispiel aus den<br />

Werken der Zürcher<br />

Aufklärer Bodmer und Breitinger,<br />

berücksichtigten und darüber hinaus<br />

«<strong>von</strong> den Schweizerbergen bis zu der<br />

Ostsee, <strong>von</strong> dem Rhein bis zur Oder»<br />

grosse Unterstützung <strong>von</strong> Zuträgern<br />

fanden.<br />

Bei aller Hochachtung, die Martus der<br />

Arbeit der Grimms entgegenbringt, verschweigt<br />

er nicht ihre Tendenz zur Ver-<br />

«Die Bremer Stadtmusikanten», ein<br />

Märchen der Gebrüder Grimm.<br />

schrobenheit. Jacob hoffte zum<br />

Beispiel allen Ernstes, das Wörterbuch<br />

werde wie die Märchen<br />

eines Tages «zum Hausbedarf»<br />

gehören. Warum, fragt Jacob, sollte<br />

der Vater abends vor dem<br />

Zubettgehen mit seinem Sohn<br />

nicht noch ein paar Wörter durchgehen?<br />

Wer nun sein Kind zum Wörterdrill<br />

herbeizitieren will, sei<br />

gewarnt: Die Grimms hatten ein<br />

grosses Interesse für die «keusche<br />

Derbheit» der deutschen Sprache<br />

und so versammelten sie im ersten<br />

Band ihres Wörterbuches nicht<br />

weniger als vierzig Bildungen mit<br />

dem Wort «Arsch»,<br />

die sie – <strong>von</strong> der «Arschhure»<br />

bis hin zum<br />

«Arschwolfreiter» – mit<br />

Erläuterungen und Belegen<br />

versahen.<br />

Dank den<br />

Grimmschen<br />

Bemühungen<br />

wissen wir, dass<br />

Luther in seiner Bibelübersetzung<br />

noch vom «ars»<br />

und den «ersen» schrieb, dass<br />

durch die Lautverschiebung das<br />

«rohe Wort roher und breiter»<br />

wurde und Goethe diesen<br />

Sprachwandel in einem nachgelassenen<br />

Gedicht<br />

zum Thema machte:<br />

«Ares wird der Kriegesgott<br />

genannt, Ars heisst die Kunst<br />

und Arsch ist auch bekannt.»<br />

Das Grimmsche Wörterbuch<br />

blieb ein lange unvollendetes<br />

Projekt: Als Wilhelm im<br />

Dezember 1859 starb, hatte er<br />

gerade den Buchstaben D<br />

abgeschlossen. Sein Bruder<br />

Jacob, der ihm vier Jahre<br />

später nachfolgen und sich<br />

noch bis zum Eintrag<br />

«Frucht» vorarbeiten<br />

sollte, hatte im Zusammenhang<br />

mit einem<br />

anderen Projekt die<br />

Hoffnung gehegt,<br />

«dass die folgenden<br />

nicht neben mich<br />

bauen, sondern auf<br />

mich bauen werden». Was das Wörterbuch<br />

betrifft, ging diese Hoffnung in<br />

Erfüllung: 1961 und damit mehr als 120<br />

Jahre später lag es erstmals abgeschlossen<br />

vor. Mit der seither begonnenen<br />

Neubearbeitung ist das <strong>von</strong> den Brüdern<br />

Grimm initiierte Projekt noch<br />

heute das bedeutendste historische<br />

Wörterbuch deutscher Sprache. ●<br />

saMMLung M. suter

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