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Marcel Proust Hommage von Andreas Isenschmid |Sigmund Freud ...

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Klassiker Der Publizist Georg Brunold legt Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren vor. Sein Buch<br />

ist ein Füllhorn ausserordentlicher Texte – und eine tiefe Verbeugung vor grossen Schreibern<br />

Denkmal für die Reportage<br />

GeorgBrunold: Nichts als die Welt.<br />

Reportagen und Augenzeugenberichte<br />

aus 2500 Jahren. Galiani, Berlin 2009.<br />

681 Seiten, Fr.139.–.<br />

Von Daniel Puntas Bernet<br />

Wo einsteigen, in diesen Wälzer? Mit<br />

Egon Erwin Kischs grossartigem Text<br />

aus dem Autowerk in Detroit <strong>von</strong> 1928,<br />

in dem der als «rasender Reporter»<br />

bekannte Deutsche die Arbeitsbedingungen<br />

schildert und «Mister Ford» mit<br />

feinen Seitenhieben versieht? Mit Antonio<br />

Pigafettas Schilderungen einer versuchten<br />

Meuterei gegen den «Grosskapitän<br />

Magellan», kurz vor Entdeckung<br />

der berühmten Meeresstrasse im Jahr<br />

1520? Oder gar mit Phaidons detaillierter<br />

Erzählung und Platons Aufzeichnung<br />

über den Moment, als Sokrates den todbringenden<br />

Becher an die Lippen setzt,<br />

399 vor Christus?<br />

Es ist einerlei, denn dieses wahrlich<br />

grosse Buch hält für jeden Leser und<br />

Liebhaber nichtfiktionaler Literatur lauter<br />

Perlen bereit: Auszüge aus Kriegstagebüchern<br />

zur Schlacht <strong>von</strong> Babylon,<br />

belehrende Geschichtsschreibung römischer<br />

Politiker, Reiseberichte <strong>von</strong><br />

Abenteurern, Geologen, Weltentdeckern.<br />

Es finden sich Essays, Briefe,<br />

Kommentare <strong>von</strong> grossen Namen wie<br />

Voltaire, Goethe und Walser neben Gesellschaftsspalten<br />

aus dem skandalvernarrten<br />

antiken Rom, ethnologischen<br />

Notizen <strong>von</strong> iberischen Franziskanermönchen<br />

aus der Neuen Welt, engagierten<br />

Sozialreportagen aus den Fabriken<br />

Chinas unserer Tage. Oder Leckerbissen<br />

wie die köstliche Betrachtung einer<br />

Pariser Modeschau <strong>von</strong> Marie-Luise<br />

Scherer aus dem Jahre 1988.<br />

Ambitiöses Projekt<br />

«164 Reportagen und Augenzeugenbereicht<br />

aus 2500 Jahren und 5 Kontinenten»,<br />

lautet der Klappentext <strong>von</strong><br />

«Nichts als die Welt». Das im Berliner<br />

Galiani-Verlag erschienene ambitiöse<br />

Unternehmen stammt vom Publizisten<br />

Georg Brunold, früherer NZZ-Korrespondent<br />

in Afrika, gebürtiger Bündner<br />

und heute in Nairobi lebend. Brunold hat<br />

selber Reportagen geschrieben und ist,<br />

das wird angesichts des präsentierten<br />

Streifzugs durch die Weltliteratur ersichtlich,<br />

ein grosser Leser. Mit dem kanonischen<br />

Werk setzt Brunold der Gattung<br />

Reportage ein starkes Denkmal.<br />

Angesichts der unterschiedlichsten<br />

Zeugnisse aus vielen Jahrhunderten<br />

stellt sich die Frage, was denn die<br />

Reportage ausmacht und wieso gerade<br />

die vereinten Texte dafür repräsentativ<br />

stehen sollen. «Die Reportage kann und<br />

darf fast alles, solange sie vom Tathergang<br />

und der Sachlage, <strong>von</strong> denen darin<br />

die Rede ist, nicht schon lückenlose<br />

Kenntnis voraussetzt», schreibt Brunold<br />

Zermatt und das<br />

Matterhorn um<br />

1900, so wie es<br />

Marc Twain in seiner<br />

Reportage über<br />

das Wallis 1879<br />

wohl gesehen hat.<br />

in seinem Vorwort. Nähe zum Geschehen<br />

ist zentral, doch nicht zwingend:<br />

Obschon Norman Mailer bei der Ermordung<br />

Kennedys nicht Augenzeuge war,<br />

ist seine Reportage «Hat Oswald es<br />

getan?» ein grosser Wurf – dank der<br />

gekonnten sprachlichen Umsetzung des<br />

bloss Gehörten. In der Reportage sei<br />

ausserdem kein Mass an Gedankenarbeit<br />

verboten, solange diese für den<br />

Leser verdaulich bleibe und ihn fessle.<br />

«Wird die denkende Reportage dabei<br />

zum Essay, umso schöner für sie und für<br />

den Leser.»<br />

Den meisten Texten ist eigen, dass sie<br />

nicht nur Augenzeugenberichte sind,<br />

sondern die Beobachtungen sprachlich<br />

versiert reflektieren und kommentieren.<br />

Dass der Reporter manchmal Anthropologe,<br />

Politiker, Schiffsfahrer, Kriegsführer,<br />

Schriftsteller, Professor, Pilger, Ex-<br />

Häftling oder NGO-Mitarbeiter ist, liegt<br />

auf der Hand: Neugierde und Entdeckerlust<br />

sind schliesslich zentraler Antrieb,<br />

zu schreiben, zu erzählen. Brunold<br />

nennt sie «alles eigengesetzliche Köpfe,<br />

die zuverlässig mit Gedanken zur Stelle<br />

sind, die nicht jedermann zuvor schon<br />

ganz vertraut gewesen sind».<br />

Grosse Herausgeberleistung<br />

Denkende Schreiber sind sie in diesem<br />

Buch fast alle. Unsere drei Favoriten<br />

sind Marc Twain, Wolfgang Koeppen<br />

und George Orwell. Twain besuchte<br />

1879 Zermatt und das Wallis und<br />

beschreibt helvetische Eigenschaften<br />

mit Humor und Scharfsinn. Koeppens<br />

Reportage aus dem Franco-Spanien der<br />

fünfziger Jahre glänzt mit unerreichter<br />

Beobachtungsgabe. Und Orwells Erfahrungsbericht<br />

als Küchenhilfe in einem<br />

Pariser Restaurant <strong>von</strong> 1929 ist einfach<br />

grossartiges Kino.<br />

Brunold hat sich die Freiheit genommen,<br />

weder die Reportage wissenschaftlich<br />

zu definieren noch die Auswahl der<br />

Texte nach objektiven Kriterien vorzunehmen.<br />

Das mag man kritisieren – etwa,<br />

wenn für die Führerschaft des «Spiegels»<br />

bei der Publikation deutschsprachiger<br />

Reportagen ein eher schwacher<br />

Text steht oder Namen wie Tom Wolfe,<br />

Hunter S. Thomson oder Gay Talese fehlen<br />

–, doch anderseits hat das unakademische<br />

Vorgehen auch seinen Reiz: Wo<br />

sonst fände man Texte <strong>von</strong> Julius Cäsar,<br />

Christoph Kolumbus und Alexander <strong>von</strong><br />

Humboldt über Oscar Wilde, Ernest<br />

Hemingway und Gabriel García Márquez<br />

bis hin zu Günter Wallraff, Niklaus<br />

Meienberg und Ryszard Kapuscinski<br />

zwischen zwei Buchdeckeln vereint?<br />

Das Buch ist eine grosse Herausgeberleistung,<br />

vor der man nur den Hut ziehen<br />

kann. Gelungen sind die zwar knappen,<br />

dafür umso launigeren Einführungen zu<br />

jedem Text, angenehm ist die Abwechslung<br />

durch zwölf Foto-Essays aus dem<br />

letzten Jahrzehnt (die Textsammlung<br />

hört im Jahr 2000 auf), reichhaltig die<br />

angefügte «Bibliothek des Reporters»<br />

aus der Feder des Herausgebers. Gerade<br />

jetzt, wo der Strukturwandel der Medien<br />

längere Stücke ausserhalb der Tagesaktualität<br />

vermehrt zur Seite drängt, ist<br />

dieses Buch ein Plädoyer für einen Journalismus,<br />

der sich Zeit nimmt und hingeht,<br />

hinsieht und zuhört, selber denkt<br />

und – gekonnt – aufschreibt. ●<br />

31. Januar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25<br />

phOtOgLOB / KeYstOne

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