AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV
AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV
AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
St. Martin und das Russlandkind<br />
Von Rotraut Ullrich-Hoeppel<br />
Dies ist die Geschichte einer wundersamen<br />
Begegnung einer Ostpreußin<br />
mit dem alten niederrheinischen Martinsbrauch.<br />
Am Martinstag ziehen die Kinder der<br />
niederrheinischen Dörfer und Städte<br />
mit bunten Lampions über die Straßen<br />
und singen zu den Klängen einer<br />
Blaskapelle das Martinslied. Es erzählt<br />
die Legende von St. Martin,<br />
dessen Pferd in eiskalter Nacht vor<br />
dem Bettler am Wege scheute.<br />
„Ach, helft mir doch in meiner Not,<br />
sonst ist der böse Frost mein Tod!“<br />
so flehte der arme Mann, und der<br />
Ritter erbarmte sich, indem er seinen<br />
pelzverbrämten Mantel mit seinem<br />
Schwert in zwei gleiche Teile schnitt<br />
und den einen dem Armen reichte.<br />
Seitdem ich als Heimatvertriebene<br />
am Niederrhein wohne, habe ich jahrelang<br />
den vorweihnachtlichen Zauber<br />
meiner masurischen Heimatlandschaft<br />
vermisst. Hier taut der Schnee<br />
gleich wieder fort, und der Nadelwald<br />
ist eine kostbare Seltenheit. Doch in<br />
dem Martinszug der Kinder, deren<br />
bunte Lampions sanft über die dunkle,<br />
neblige Ebene schaukeln, sehe ich einen<br />
tröstenden Ersatz. Ihr friedliches<br />
Bild und ihr versöhnendes Ziel des<br />
christlichen Teilens ist auch von vorweihnachtlicher<br />
Stimmung getragen.<br />
Das Schicksal der Anna Lusat aber<br />
erfüllte den Sinn dieser Mantelteilung<br />
für unsere Gegenwart. Und ich möchte<br />
es all den Landsleuten erzählen,<br />
die das eigene Geschick immer noch<br />
in herber Abwehr gegen ihre neue,<br />
fremde Umwelt leben lässt. Aber<br />
auch den anderen, für die wir Vertrie-<br />
22<br />
benen die lästigen Eindringlinge geblieben<br />
sind. Denn bald kommt die<br />
Zeit der vier sanften Kerzen am Adventskranz,<br />
die uns allen gemeinsam<br />
leuchten sollten.<br />
Am Martinstag des Jahres 1950 kam<br />
die Anna Lusat aus sibirischer Gefangenschaft<br />
zurück. Sie stand mit<br />
ihrem kleinen Mädchen an der rechten<br />
Hand und zwei Pappschachteln<br />
in der linken auf dem nebligen Bahnhof<br />
einer niederrheinischen Kleinstadt.<br />
Ihr Weg sollte zu einer ehemaligen<br />
Mitgefangenen führen, die ein<br />
Jahr früher entlassen worden war<br />
und in dieser fremden Stadt ihre<br />
Heimat hatte.<br />
Heimat! Welch ein ferner und<br />
schmerzvoller Begriff für Anna. Auch<br />
sie wurde in einer Kleinstadt geboren.<br />
Doch diese lag zwischen den Seen<br />
und Hügeln des südlichsten Ostpreußen,<br />
und sie war heute so arm<br />
und verlassen wie Anna selbst. Dieser<br />
hatte der Krieg das härteste<br />
Frauenlos gebracht. Er überrollte sie<br />
auf dem großen Gut, auf dem sie jahrelang<br />
als Sekretärin gearbeitet hatte.<br />
Man tat ihr Gewalt an und schleppte<br />
sie in die Zwangsarbeit. Ihre Seele<br />
wehrte sich verzweifelt gegen das<br />
wachsende Leben unter ihrem erstarrten<br />
Herzen. Aber sie musste es<br />
austragen, und trotz Hunger und<br />
schwerster Arbeit wurde es unter der<br />
innigen Anteilnahme aller Lagerinsassinnen<br />
geboren. Als man ihr das Kind<br />
in den Arm legte, so blond und blauäugig<br />
wie sie selbst es war, konnte<br />
sie über der Hilflosigkeit des kleinen<br />
Wesens die schräge Augenstellung