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AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV

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Die Frau zitterte. Unter dem Schafspelz<br />

entdeckte sie den Saum eines<br />

feldgrauen Militärmantels und Stiefel,<br />

wie die Soldaten sie trugen. Schwarze<br />

Erde klebte festgefroren am Leder.<br />

„Hast du einen weiten Weg gehabt?“<br />

Der Fremde nickte stumm.<br />

„Ich werde dir warmen Tee aufsetzen,<br />

Weihnachtsmann.“<br />

Er schüttelte den Kopf.<br />

Warum sprach er nicht, warum blieb<br />

er so stumm? Die Kinder mussten<br />

die weihnachtliche Prozedur wiederholen,<br />

noch einmal singen, noch<br />

einmal Gedichte aufsagen. Als sie<br />

geendet hatten, bemerkten sie, dass<br />

der Weihnachtsmann nichts bei sich<br />

trug. Und er machte auch keine Anstalten,<br />

in die Manteltasche zu greifen,<br />

um Süßigkeiten zu verteilen. Er<br />

starrte über die Kinder hinweg ins<br />

flackernde Kerzenlicht und schien<br />

weit entfernt zu sein.<br />

Es wurde so kalt, als wäre mit der<br />

fremden Gestalt die Polarnacht in die<br />

warme Stube eingedrungen. Wer<br />

mochte das sein? Wenn sie nur seine<br />

Hände hätten sehen können! Aber<br />

die waren in dicken Wattehandschuhen<br />

verpackt und umklammerten den<br />

Stab. Ein Wort nur, und sie hätte ihn<br />

erkannt. Ein Blick in die Augen, und<br />

sie hätte ihn verstanden.<br />

Nun erst sah sie, dass sein Mantel<br />

zerrissen war. Schwarze Erde rieselte<br />

aus der Tasche. Auch die Mütze hatte<br />

Löcher, und der Mantelsaum hing in<br />

Fetzen. Er muss in einem Erdloch gelegen<br />

haben, dachte die Frau, als sie<br />

ihm Pfefferkuchen holte und ein Glas<br />

Milch. Beides rührte er nicht an.<br />

Auch die Kinder begannen sich zu<br />

fürchten, weil die Gestalt so reglos<br />

dasaß und kein Wort sprach. Sie<br />

klammerten sich an die Schürze der<br />

Mutter und blickten verstohlen zu dem<br />

seltsamen Gast. Als ein Windzug die<br />

angelehnte Haustür aufriss, fegte Polarluft<br />

in die Stube und ließ die Strohsterne<br />

im Baum tanzen. In diesem<br />

Augenblick erhob sich der Fremde<br />

und schritt bedächtig zur Tür. Unter<br />

seiner Wollmütze entdeckte die Frau<br />

einen grauen Stahlhelm mit mehreren<br />

Einschüssen, und der Stab, das sah<br />

sie jetzt, war ein Gewehr, dessen eiserner<br />

Lauf auf die Dielen pochte. Ohne<br />

sich umzublicken, verließ der<br />

Fremde das Haus.<br />

Schnell schloss sie hinter ihm die Tür,<br />

trat ans Fenster und lauschte hinaus,<br />

hörte die schweren Tritte. Es kam ihr<br />

vor, als zöge eine Armee vorüber,<br />

nicht mit klingendem Spiel, sondern<br />

schlurfend, als wären die Marschierenden<br />

sehr müde. In gleichmäßigem<br />

Takt schlugen ihre Gewehre auf die<br />

Pflastersteine, die Stahlhelme klirrten,<br />

wenn sie aneinander trafen. Als sie zu<br />

singen begannen, klang es nach mittelalterlichen<br />

Madrigalen in dunklen<br />

Klostergewölben. Eine Armee der Toten<br />

marschierte durch die Weihnachtsnacht.<br />

„Es ist so kalt“, jammerten die Kinder.<br />

Die Frau gab Holzscheite in den Ofen,<br />

dann fegte sie die Schneereste zusammen<br />

und den Schmutz, der von<br />

seinen Stiefeln gefallen war. Sie nahm<br />

Platz auf dem Stuhl, auf dem er gesessen<br />

hatte. Die Kinder blickten ängstlich<br />

zu ihr auf, auch sie spürten, dass etwas<br />

Unerhörtes geschehen war.<br />

In den ersten Januartagen erhielt sie<br />

den Brief, der mit wenigen Zeilen mitteilte,<br />

dass er gefallen sei. „Bei einem<br />

Artillerieüberfall am Abend des 24. Dezember<br />

traf eine Granate den Bunker,<br />

in dem Ihr Mann zusammen mit drei<br />

Kameraden Weihnachten feierte.“<br />

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