AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV
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Kriegsweihnacht<br />
Von Arno Surminski<br />
„In diesem Jahr kommt kein Weihnachtsmann“,<br />
sagte sie den Kindern.<br />
„Die Väter sind an der Front, und<br />
auch die Weihnachtsmänner haben<br />
im Krieg zu tun.“ Trotzdem wollten<br />
sie Weihnachten feiern. Sie hielt die<br />
Kinder an, Gedichte zu lernen, und<br />
versprach ihnen kleine Geschenke,<br />
nicht viel, denn es war ja Krieg.<br />
„Wir wollen so tun, als wäre schon<br />
Frieden, wenigstens Weihnachten<br />
soll Frieden sein“, sagte sie.<br />
Der Heilige Abend kam, und es geschah<br />
so wie früher. Die Kinder<br />
schmückten den Baum, sangen ihre<br />
Lieder, während die Frau die Geschenke<br />
holte, von denen sie sagte,<br />
der Weihnachtsmann habe sie vor<br />
langer Zeit abgegeben. Sie erzählte<br />
von einem Feldpostpäckchen, das<br />
sie schon im November aufgegeben<br />
hatte, damit es rechtzeitig zu Weihnachten<br />
ankäme.<br />
„Ich habe Nüsse aus unserem Garten<br />
hineingetan und Pfefferkuchen, der<br />
bestimmt steinhart gefroren ist auf<br />
der langen Reise. Vater sitzt jetzt in<br />
einem Erdbunker und feiert Weihnachten,<br />
ja, auch die Soldaten<br />
schmücken Tannenbäume und singen<br />
Weihnachtslieder.<br />
Als es dunkel war, stapfte es von der<br />
Straße herauf, klopfte ans Fenster,<br />
dann an die Tür. Die Frau erschrak.<br />
Wer konnte das sein? Es hausten<br />
viele in den Wäldern, die Nächte waren<br />
längst nicht mehr geheuer, hier<br />
verschwanden einige, und dort kamen<br />
andere. Sie hatte keinen Weihnachtsmann<br />
bestellt, aber nun pochte<br />
es an der Tür.<br />
26<br />
„Der Weihnachtsmann kommt doch<br />
noch“, freuten sich die Kinder.<br />
Mit klopfendem Herzen öffnete sie.<br />
Ein Schwall Kaltluft schlug ihr entgegen,<br />
so eisig, als käme ein Wind aus<br />
dem hohen Norden. Im Lichtschein<br />
sah sie eine vermummte Gestalt. Ein<br />
nach außen gekehrter Schafspelz<br />
verhüllte den Körper, ein grauer Bart<br />
das Gesicht, die Hände umklammerten<br />
einen Stab, eine Wollmütze bedeckte<br />
Ohren und Augen. Sie kannte<br />
den Menschen nicht, der unbeweglich<br />
vor ihr stand. Als sie die Tür zuschlagen<br />
wollte, setzte er den Stab<br />
über die Schwelle.<br />
Um die Kinder nicht zu ängstigen, rief<br />
sie mit gespielter Heiterkeit: „Komm<br />
nur rein, Weihnachtsmann, wir haben<br />
auf dich gewartet!“<br />
Er ging stockend, als wäre sein rechtes<br />
Bein steif. Der Stab schlug auf die<br />
Holzdielen. Hinter ihm fiel, von einem<br />
Windstoß aus dem eisigen Norden<br />
bewegt, die Tür zu. Von seinen Stiefeln<br />
bröckelten Schneereste und<br />
schwarze Erde, aus dem Pelz krümelten<br />
Flocken. Seine Bewegungen<br />
wirkten mechanisch wie die der Figuren<br />
einer Spieluhr. Mitten im Raum<br />
blieb die Gestalt stehen, einen Schritt<br />
vor der geschmückten Tanne.<br />
Die Frau schob einen Sessel hin mit<br />
der Aufforderung, Platz zu nehmen.<br />
Es knarrte laut, als er sich setzte.<br />
„Sollen wir dir ein Lied vorsingen,<br />
Weihnachtsmann?“<br />
Er antwortete nicht. Die Gestalt zeigte<br />
keinerlei Regung, sie saß unbeweglich<br />
im Sessel und starrte in den Baum, in<br />
dem die letzten Kerzen ausbrannten.