02.02.2013 Aufrufe

Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Belletristik<br />

Roman Aris Fioretos, griechisch-österreichisch stämmiger Schwede, erzählt in seinem Roman<br />

ebenso klug wie vergnüglich von der Migration im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Lauter Mücken im Kopf<br />

Aris Fioretos: Der letzte Grieche. Aus<br />

dem Schwedischen von Paul Berf.<br />

Hanser, München 2011. 416 Seiten,<br />

Fr. 37.90.<br />

Von Sandra Leis<br />

Manche Nachschlagewerke behaupten,<br />

<strong>das</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert sei <strong>das</strong> goldene Zeitalter<br />

der Migration gewesen. Der<br />

Schriftsteller Aris Fioretos notiert in<br />

seinem neuen Roman: «Mag sein. Aber<br />

viel eher müssten die Chronisten von<br />

Blei sprechen – diesem (. . .) alltäglichen<br />

Material, <strong>das</strong> in Röntgenschutzwesten,<br />

Autobatterien <strong>und</strong> manchen Arten von<br />

Kristallglas enthalten ist. (. . .) Und in<br />

Gewehrkugeln.»<br />

Jannis Georgiadis, der Held dieses<br />

weitverzweigten Romans, verlässt sein<br />

griechisches Bauerndorf nicht aus politischen,<br />

sondern aus persönlichen<br />

Gründen, nachdem er beim Pokerspiel<br />

auch noch seinen Stall verzockt hat.<br />

1967 bricht er als 24-jähriger Mann auf<br />

<strong>und</strong> sucht sein Glück als Gastarbeiter in<br />

Schweden, wo bereits <strong>das</strong> befre<strong>und</strong>ete<br />

Geschwisterpaar Kostas <strong>und</strong> Efi aus<br />

dem Nachbardorf lebt. Auch Jannis, ausgestattet<br />

mit einem abenteuerlichen<br />

Herzen <strong>und</strong> vielen Mücken (gemeint<br />

sind Verrücktheiten) im Kopf, will mehr<br />

vom Leben als bloss eine griechische<br />

Scholle.<br />

Das klingt nach einer Migrationsgeschichte,<br />

wie sie in der Literatur derzeit<br />

en vogue ist: Ein Autor schreibt in chronologischer<br />

Form nieder, was ihm <strong>und</strong><br />

seiner Familie in der Fremde widerfahren<br />

ist. Aris Fioretos skizziert in seinem<br />

Roman «Der letzte Grieche» nicht die<br />

10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

Beim Pokern alles<br />

verzockt: Der<br />

Protagonist des<br />

Buches muss seine<br />

Heimat Griechenland<br />

verlassen. Filmszene<br />

aus «Drama im<br />

Spiegel» (1960).<br />

eigene Familiengeschichte <strong>und</strong> Emigration,<br />

weiss aber sehr genau, wovon er<br />

schreibt: 1960 in Göteborg geboren als<br />

Sohn einer österreichischen Künstlerin<br />

<strong>und</strong> eines griechischen Arztes, wuchs er<br />

in Schweden auf. Er studierte Vergleichende<br />

Literaturwissenschaft in Stockholm,<br />

Paris <strong>und</strong> in Yale, habilitierte 2001<br />

<strong>und</strong> lebt jetzt seit fast einem Jahrzehnt<br />

in Berlin. Fioretos, der sich auch als<br />

Übersetzer von Auster, Hölderlin <strong>und</strong><br />

Nabokov ins Schwedische einen Namen<br />

gemacht <strong>und</strong> 2010/11 die erste kommentierte<br />

Werkausgabe von Nelly Sachs<br />

herausgebracht hat, ist ein europäischer<br />

Kosmopolit.<br />

Karteikarten als Gr<strong>und</strong>lage<br />

Vorbild für den Roman ist eine «Enzyklopädie<br />

der Auslandgriechen», die eine<br />

Gruppe von Frauen zusammengetragen<br />

hat nach der Vertreibung <strong>und</strong> Ermordung<br />

der griechischen Minderheit in<br />

Smyrna durch Atatürk im Jahr 1922. Die<br />

«Gehilfinnen Clios» legten den Gr<strong>und</strong>stein<br />

für ein kollektives Gedächtnis, <strong>das</strong><br />

an all jene erinnert, die Griechenland im<br />

Lauf des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts verliessen.<br />

Aris Fioretos hat nun, so schreibt er<br />

im Vorwort, aus einem zu dieser Enzyklopädie<br />

gehörenden Supplement einen<br />

Roman verfasst: Kostas, der oben erwähnte<br />

Fre<strong>und</strong> von Jannis <strong>und</strong> spätere<br />

Rivale in der Liebe, hat wichtige Ereignisse<br />

aus dessen Leben auf Karteikarten<br />

festgehalten <strong>und</strong> veranlasst, <strong>das</strong>s sie zur<br />

weiteren Verwendung an den Schriftsteller<br />

Aris Fioretos gelangen. Dieser<br />

war sieben Jahre alt, als sein Vater eines<br />

Tages den mittellosen Landsmann Jannis<br />

Georgiadis nach Hause brachte <strong>und</strong><br />

ihm Unterschlupf gewährte.<br />

AUS DEM FILM: DRAMA IM SPIEGEL / DDP IMAGES<br />

Eine derart verschachtelte Konstruktion<br />

ist raffiniert, anspruchsvoll <strong>und</strong><br />

mag typisch sein für einen Autor mit<br />

akademischen Weihen. Sie spiegelt eine<br />

Erkenntnis, die sowohl Quelle der Hoffnung<br />

als auch der Verzweiflung ist: Kein<br />

Mensch ist eine Insel, kein Vorgang geschieht<br />

isoliert, alles hängt miteinander<br />

zusammen. Und weil dem so ist, hält<br />

sich Fioretos nicht an <strong>das</strong> herkömmliche<br />

Nacheinander einer Chronik, sondern<br />

jongliert souverän mit Rückblenden,<br />

Einschüben, Zeitkolorits, Porträts <strong>und</strong><br />

Szenen <strong>und</strong> entwickelt daraus ein unglaublich<br />

reichhaltiges <strong>und</strong> schillerndes<br />

Panorama, <strong>das</strong> zurückreicht bis in die<br />

zweite Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Ein<br />

Stammbaum im Buchdeckel hilft, die<br />

Übersicht zu bewahren.<br />

Dass sich Schicksale <strong>und</strong> Geschichten<br />

ins Gedächtnis eingraben ist die grosse<br />

Kunst dieses Romans. Fioretos zeichnet<br />

seine griechischen Landsleute mit<br />

einem zugleich liebevollen wie listigen<br />

Blick. Er spitzt zu, konterkariert, hat ein<br />

Gespür fürs Komödiantische <strong>und</strong> wahrt<br />

gleichzeitig stets den Respekt vor seinen<br />

Figuren. Dem Übersetzer Paul Berf<br />

wiederum gelingt <strong>das</strong> fast Unmögliche:<br />

Er macht einen vergessen, <strong>das</strong>s man<br />

eine deutsche Übersetzung liest, so<br />

stimmig <strong>und</strong> perfekt sind Wortwahl,<br />

Satzbau <strong>und</strong> Sprachrhythmus, so elegant<br />

<strong>und</strong> geschmeidig ist die Sprache.<br />

Leben in der Fremde<br />

Das Opus ist umfangreich, sein Kern<br />

aber umfasst eine nur kurze Zeitspanne<br />

von 1967 bis zum traumatischen Finale<br />

im November 1969. Als Gastarbeiter<br />

kommt Jannis 1967 nach Schweden <strong>und</strong><br />

findet Zuflucht im Haus des Arztes Florinos.<br />

Der junge Mann lernt Schlittschuhlaufen,<br />

träumt, obwohl er kaum<br />

lesen <strong>und</strong> schreiben kann, von einem<br />

Studium der Hydrologie, um <strong>das</strong> Bewässerungssystem<br />

in Makedonien zu reformieren.<br />

Er verliebt sich in <strong>das</strong> Kindermädchen<br />

der Familie, <strong>das</strong> von einer<br />

Ausbildung <strong>und</strong> einem unabhängigen<br />

Leben träumt. Als sie gegen ihren Willen<br />

schwanger wird, heiraten die beiden,<br />

doch <strong>das</strong> Glück ist kurz <strong>und</strong> die Ehe bald<br />

heillos aus den Fugen. In der Schilderung<br />

dieser Szenen läuft der Autor,<br />

geschult an den grossen Realisten des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts, zu Höchstform auf.<br />

Jannis’ Frau, die ihn für Kostas verlässt,<br />

gibt später zu Protokoll: «Einen<br />

solchen Hunger hatte ich noch bei keinem<br />

anderen Menschen erlebt. Keiner<br />

der Männer (. . .) war so. Sie waren nicht<br />

neugierig <strong>und</strong> bescheiden <strong>und</strong> trotzdem<br />

bärenstark. (. . .) Jannis gehörte die Zukunft.<br />

Obwohl er keine Ahnung hatte,<br />

was ein Toaster war.» Was aus ihm geworden<br />

ist, bleibt völlig offen. Zweierlei<br />

aber ist gewiss: Er lebt, <strong>und</strong> Aris Fioretos<br />

hat ihm mit diesem Buch ein berührendes<br />

Denkmal gesetzt. ●

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!