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Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

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Reportage<br />

Japanpapier, Pinsel <strong>und</strong> Skalpell – Werkzeuge der Restauratorin.<br />

schnitt die Heftfäden auf, trennte die einzelnen<br />

Lagen <strong>und</strong> breitete die losen Papierseiten aus.<br />

Jetzt konnte sie jedes Blatt einzeln von den<br />

spröden Klebstreifen befreien, reinigen <strong>und</strong><br />

wenn nötig mit Japanpapier ergänzen. Einige<br />

Seiten, so zum Beispiel diejenige mit dem Bild<br />

«Maria Himmelfahrt», waren stark abgegriffen.<br />

Offenbar waren sie über Gebühr beansprucht<br />

worden. Bei anderen Heiligen, die anscheinend<br />

nicht so beliebt waren, strahlten die Farben<br />

noch wie neu.<br />

Nach den Scotchbändern war die grüne Malfarbe<br />

<strong>das</strong> zweitgrösste Problem. Unter dem<br />

Grün war <strong>das</strong> Papier hauchdünn geworden<br />

oder sogar weggebröselt. Es war aber nicht der<br />

gut bekannte <strong>und</strong> häufige Kupferfrass, sondern<br />

ein unbekanntes Phänomen. Mit kriminalistischen<br />

Methoden versuchten die Restauratorinnen<br />

herauszufinden, um welches Grünpigment<br />

es sich da handeln könnte. «Wir nahmen Kontakt<br />

auf mit Spezialisten in Bern, Zürich, Stuttgart,<br />

Wien, Brüssel – ohne Erfolg. Das Pigment<br />

war zu stark abgebaut, um es noch zu identifizieren.<br />

Immerhin haben wir eine neue Art von<br />

Grünschaden dokumentieren können, <strong>das</strong> ist<br />

wissenschaftlich interessant.»<br />

Buchbinder-Geheimnisse<br />

Parallel zur Restaurierung lief die sogenannte<br />

kodikologische Recherche, <strong>das</strong> heisst, Bürger<br />

suchte nach Spuren der Buchherstellung. Schon<br />

frühere Bearbeiter hatten nämlich erkannt, <strong>das</strong>s<br />

die Bilder älter sind als der Text. Sie stammen<br />

aus dem Ende des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts, während<br />

die in deutscher Sprache verfassten Gebete<br />

h<strong>und</strong>ert Jahre jünger sind.<br />

Im Mittelalter musste der Buchbinder wissen,<br />

welche Doppelblätter er hintereinander zu<br />

binden hatte. Um die richtige Reihenfolge einzuhalten,<br />

versah er die Blätter im Falz mit winzigen<br />

Signaturen. Diese geben heute Hinweise<br />

auf die ursprüngliche Anzahl der Federzeichnungen,<br />

nämlich um 200. Die kodikologische<br />

Recherche zeigte, <strong>das</strong>s im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert ein<br />

r<strong>und</strong> h<strong>und</strong>ertjähriger Bilderzyklus mit Gebeten<br />

versehen worden war: Leere Seiten wurden beschrieben,<br />

weitere Texte auf zusätzlichen Blät­<br />

Das Energieproblem ist gelöst<br />

Wenn man <strong>das</strong>, was in diesem Buch steht,<br />

realisieren würde, könnte man die Atomkraftwerke<br />

abstellen.<br />

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Einsteins Irrtum, Pyramis-Verlag AG<br />

Harald Hahn, ISBN 3-9523013-0-2<br />

Vorzugspreis Fr.25.- statt 39.- bei Bestellung<br />

Fax: 056 621 05 76<br />

Mail: distribution@pyramis-verlag.ch<br />

14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

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tern eingefügt. Alles zusammen wurde dann<br />

wieder zu einem Buch geb<strong>und</strong>en. Aufgr<strong>und</strong><br />

fehlender Signaturen hat Bürger festgestellt,<br />

<strong>das</strong>s vor dem Binden um die 30 Bilder verlorengegangen<br />

sind. Auch wurden einige Seiten<br />

falsch placiert. «Das alles hätten wir ohne <strong>das</strong><br />

Auseinandernehmen nicht herausfinden können,<br />

es hatte also auch sein Gutes.»<br />

«Der Kodex ist einer der<br />

umfangreichsten Bilderzyklen<br />

des Spätmittelalters.<br />

Er ist ein wichtiges Zeugnis<br />

weiblicher Spiritualität.»<br />

Ulrike Bürger hat dann die gereinigten <strong>und</strong><br />

restaurierten Papierseiten zu einem Buchblock<br />

geb<strong>und</strong>en, dem sie einen komplett neuen Einband<br />

verpasst hat. Seine Holzdeckel sind mit<br />

hellem Ziegenleder überzogen. Sie nimmt den<br />

«neuen» Kodex 801 aus seiner Kassette, placiert<br />

ihn zwischen zwei Schaumstoffkeilen <strong>und</strong><br />

klappt ihn resolut auf. Es geht problemlos.<br />

Handschuhe trägt sie keine. «Nein, <strong>das</strong> wäre<br />

unsinnig. Gerade <strong>das</strong> Blättern in einer fragilen<br />

Papierhandschrift braucht Fingerspitzengefühl.»<br />

Auch die Journalistin darf die Seiten drehen.<br />

Wir bew<strong>und</strong>ern die elegante Schrift, die<br />

zarten, mit leuchtenden Farben ausgefüllten Federzeichnungen<br />

– eine wahre Augenweide!<br />

Was ist denn nun der Inhalt des Gebetbuches?<br />

Die Restauratorin verweist an den Spezialisten.<br />

Man habe die Gelegenheit benützt,<br />

um den Kodex wissenschaftlich aufzuarbeiten<br />

<strong>und</strong> die Ergebnisse 2012 im Urs Graf Verlag in<br />

Dietikon zu veröffentlichen.<br />

Der Germanist Nigel F. Palmer von der Universität<br />

Oxford hat zusammen mit dem Kunsthistoriker<br />

Jeffrey F. Hamburger, der an der Universität<br />

in Harvard lehrt, den Inhalt analysiert.<br />

Er ist begeistert: «Der Kodex 801 ist einer der<br />

umfangreichsten Bilderzyklen aus dem Spätmittelalter,<br />

die wir kennen. Wir sehen nicht nur<br />

die Genesis <strong>und</strong> gängige Bilder aus dem Leben<br />

Jesu, sondern viele in der mittelalterlichen<br />

Kunst sonst unbekannte Szenen, wie z. B. Johannes,<br />

der in der Gegenwart Mariens die<br />

Messe liest <strong>und</strong> ihr die Hostie überreicht; oder<br />

<strong>das</strong> Christkind, <strong>das</strong> sich auf den Schoss seiner<br />

Mutter legt <strong>und</strong> den Tod der unschuldigen Kinder<br />

beweint, deren Ermordung in der unteren<br />

Bildhälfte gezeigt wird.» Erstaunlich sei, <strong>das</strong>s<br />

der ursprüngliche Bilderzyklus, der um 1380/90<br />

in Strassburg entstand, r<strong>und</strong> 100 Jahre später<br />

mit Gebeten zu einer neuen Handschrift geb<strong>und</strong>en<br />

wurde. «Die Stimme, die in diesen privaten<br />

Selbstgekochter Weizenkleister, Leime <strong>und</strong> Ingredienzen für die Buchrestaurierung.<br />

Gebeten spricht, ist die einer Klosterfrau», sagt<br />

Palmer. Auch die letzte Besitzerin war eine<br />

Frau: Ursula Begerin, Nonne im Reuerinnen­<br />

Kloster St. Magdalena in Strassburg, hat sich<br />

auf einer der letzten Buchseiten verewigt. Sie<br />

stammte aus einem Adelsgeschlecht in Strassburg<br />

<strong>und</strong> ist 1531 verstorben. Die Gebete sind<br />

laut Palmer literarisch höchst anspruchsvoll,<br />

elegant geschrieben <strong>und</strong> eigens zu den Bildern<br />

verfasst worden. Das gemeinsame Studium von<br />

Bild <strong>und</strong> Text diente einer speziellen Art der<br />

mittelalterlichen Meditation, die eine persönliche<br />

Beziehung zu Gott herzustellen suchte.<br />

Nonne als Auftraggeberin<br />

Wer die Gebete verfasst hat, ist nicht bekannt.<br />

Palmer vertritt die These, <strong>das</strong>s es ein Strassburger<br />

Kartäusermönch war. Bei der Auftraggeberin<br />

habe es sich wohl um eine Strassburger<br />

Klosterfrau gehandelt. «Vielleicht haben wir<br />

heute ganz falsche Vorstellungen von den Kontakten<br />

zwischen Mönchen <strong>und</strong> Nonnen in benachbarten<br />

Klöstern.» Dass es aber Ursula Begerin<br />

war, möchte er vorerst ausschliessen.<br />

Für Palmer ist nicht so wichtig, wer beim<br />

Malen oder Schreiben Pinsel oder Feder geführt<br />

hat, sondern wer den Auftrag erteilte.<br />

«Und diese Handschrift führt uns dezidiert in<br />

die Welt der Frauen. Der Kodex 801 ist ein<br />

wichtiges Zeugnis für weibliche Kultur <strong>und</strong><br />

Spiritualität im späten Mittelalter.» l<br />

Kodex 801: Lazarus in Abrahams Schoss (oben); unten bittet<br />

der Reiche im Höllenschl<strong>und</strong> um die Kühlung der Zunge.

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