Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung
Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung
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<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong> | Matthias Zschokke Lieber<br />
Niels | Angela Merkel Die Biografie | Hannah Arendt <strong>und</strong> der Eichmann-<br />
Prozess | Fotoalbum zu Gustav Mahler | Der Kodex 801 Geschichte einer<br />
Restaurierung | Weitere Rezensionen zu Michel Houellebecq, Mike Jay,<br />
Liu Xiaobo, Ian Morris <strong>und</strong> anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese<br />
Nr. 3 | 3. April 2011
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Hörbuch
Inhalt<br />
Menschliche<br />
Grösse zeigt sich<br />
im Unglück<br />
Belletristik<br />
4 Matthias Zschokke: Lieber Niels<br />
Von Thomas Feitknecht<br />
6 <strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong>: <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong><br />
Von David Signer<br />
7 Rolf Hermann: Kurze Chronik einer<br />
Bruchlandung<br />
Von Manfred Papst<br />
8 Andrea Levy: Das lange Lied eines Lebens<br />
Von Pia Horlacher<br />
Pieter Hugo: Permanent Error<br />
Von Gerhard Mack<br />
9 Michel Houellebecq: Karte <strong>und</strong> Gebiet<br />
Von Stefan Zweifel<br />
10 Aris Fioretos: Der letzte Grieche<br />
Von Sandra Leis<br />
11 Linus Reichlin: Er<br />
Von Christine Brand<br />
Kurzkritiken Belletristik<br />
11 Alice Schmid: Dreizehn ist meine Zahl<br />
Von Regula Freuler<br />
Xavier de Maistre: Reise um mein Zimmer<br />
Von Manfred Papst<br />
Matthias Politycki: London für Helden<br />
Von Manfred Papst<br />
Isabel Morf: Satzfetzen<br />
Von Regula Freuler<br />
Essay<br />
Nr. 3 | 3. April 2011<br />
<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong> | Matthias Zschokke Lieber<br />
Niels | Angela Merkel Die Biografie | Hannah Arendt <strong>und</strong> der Eichmann-<br />
Prozess | Fotoalbum zu Gustav Mahler| Der Kodex 801 Geschichte einer<br />
Restaurierung | Weitere Rezensionen zu Michel Houellebecq, Mike Jay,<br />
Liu Xiaobo, Ian Morris <strong>und</strong> anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese<br />
<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong><br />
(Seite 6).<br />
Illustration von<br />
André Carrilho<br />
12 Kodex 801: Aus dem Leben eines<br />
Gebetbuches<br />
Ein Augenschein im Restaurierungsatelier<br />
der Universitätsbibliothek Bern<br />
Von Geneviève Lüscher<br />
Kolumne<br />
15 Charles Lewinsky<br />
Das Zitat von Plinius dem Älteren<br />
Heiter über <strong>das</strong> Tragische zu schreiben, zeichnet grosse Literatur aus.<br />
In ihrem neuen Roman «Das lange Lied eines Lebens» schildert die<br />
karibischstämmige Andrea Levy, <strong>das</strong> Schicksal eines Sklavenkindes aus<br />
Jamaika, <strong>das</strong> von seiner Mutter getrennt wird – «wie ein Kälbchen, <strong>das</strong><br />
der Kuh weggenommen wird» (Seite 8). Es ist mehr als die fiktive <strong>und</strong><br />
dennoch wahre Geschichte einer Sklavin. Es ist die mitreissend<br />
erzählte Geschichte einer Emanzipation. Levy zeigt, wie der Stolz eines<br />
Opfers die Schande überwindet, wie Heiterkeit die Scham besiegt.<br />
Überlebenswille <strong>und</strong> Gelassenheit angesichts eines monströsen<br />
Unglücks – diese Fähigkeiten haben uns in den letzten Wochen auch<br />
viele Menschen in Japan vorgelebt.<br />
Mit Witz, Distanz <strong>und</strong> ohne Pathos hat sich die jüdische Philosophin<br />
Hanna Arendt mit einer anderen Monstrosität auseinandergesetzt: mit<br />
den Verbrechen des Nationalsozialismus. Ihre klugen Analysen <strong>und</strong><br />
Kommentare über den Eichmann-Prozess, der vor genau 50 Jahren, im<br />
April 1961, in Jerusalem stattgef<strong>und</strong>en hat, sind in zwei neuen Büchern<br />
wieder zu lesen (S. 19). Diese <strong>und</strong> weitere Besprechungen anregender<br />
<strong>Neue</strong>rscheinungen finden Sie auf den folgenden Seiten.<br />
Aus versandtechnischen Gründen erscheint die vorliegende Ausgabe<br />
eine Woche später als angekündigt. Die nächste Nummer folgt wie<br />
gewohnt am letzten Sonntag des Monats: am 24. April. Urs Rauber<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
15 Marc Baumann, Martin Langeder u.a.:<br />
Feldpost<br />
Von Kathrin Meier-Rust<br />
Markus Reiter: Lob des Mittelmasses<br />
Von Urs Rauber<br />
Silvana Schmid: La Lupa<br />
Von Urs Rauber<br />
Hans Christoph Binswanger: Die<br />
Glaubensgemeinschaft der Ökonomen<br />
Von Charlotte Jacquemart<br />
Sachbuch<br />
16 Ian Morris: Wer regiert die Welt?<br />
Von Geneviève Lüscher<br />
Hanna Arendt (1906–1975) prägte <strong>das</strong> berühmte Diktum<br />
von der «Banalität des Bösen».<br />
18 Bei Ling: Der Freiheit geopfert<br />
Von Harro von Senger<br />
Daniel Domscheit-Berg: Inside Wikileaks<br />
Von Michael Furger<br />
19 Hanna Arendt, Joachim Fest: Eichmann war<br />
von empörender Dummheit<br />
Marie Louise Knott: Verlernen<br />
Von Kathrin Meier-Rust<br />
20 Gilbert Kaplan: Das Mahler Album<br />
Kurt Blaukopf: Gustav Mahler<br />
Von Corinne Holtz<br />
21 Tristram Stuart: Für die Tonne<br />
Von Sabine Sütterlin<br />
Sabine Appel: Friedrich Nietzsche<br />
Von Manfred Koch<br />
22 Cora Stephan: Angela Merkel. Ein Irrtum<br />
Von Ina Boesch<br />
Michael Hüther: Die disziplinierte Freiheit<br />
Von Sebastian Bräuer<br />
23 Barbara Hutzl-Ronge: Magischer Bodensee<br />
Von Adrian Krebs<br />
Antonia Meiners: Wir haben wieder aufgebaut<br />
Von Regula Freuler<br />
24 Mike Jay: High Society<br />
Von Peter Durtschi<br />
25 Verena Siegrist: Bewegte Zeiten – bewegtes<br />
Leben<br />
Von Urs Rauber<br />
Inge Sprenger Viol: Erst recht<br />
Von Michael Nägeli<br />
26 Gottfried Schatz: Feuersucher<br />
Von Patrick Imhasly<br />
Das amerikanische Buch: Alan Lomax<br />
Von Andreas Mink<br />
Agenda<br />
27 Jane Field-Lewis: Mein Wohnwagen<br />
Von Regula Freuler<br />
Bestseller März 2011<br />
Belletristik <strong>und</strong> Sachbuch<br />
Agenda April 2011<br />
Veranstaltungshinweise<br />
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)<br />
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,<br />
Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG<br />
Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />
Jewish ChroniCle ArChive / heritAge imAges<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik<br />
Briefe Kaum ein anderer Autor vermag <strong>das</strong> Leiden an der Gegenwart so vergnüglich zu<br />
schildern <strong>und</strong> gleichzeitig so brillant in Frage zu stellen wie Matthias Zschokke<br />
Journal im<br />
Mail-Format<br />
Matthias Zschokke: Lieber Niels.<br />
Wallstein, Göttingen 2011. 764 Seiten,<br />
Fr. 43.90.<br />
Von Thomas Feitknecht<br />
Seit 1982 korrespondiert der 1954 in<br />
Bern geborene Wahlberliner Matthias<br />
Zschokke mit dem elf Jahre älteren Kölner<br />
Autor <strong>und</strong> Literaturkritiker Niels<br />
Höpfner. Ungefähr 3000 Briefe hat er in<br />
den ersten zwanzig Jahren per Post <strong>und</strong><br />
Fax versandt, <strong>und</strong> seither sind weitere<br />
Tausende von Mails hinzugekommen.<br />
Die nun gedruckt vorliegende Auswahl<br />
der Mails aus dem Textkorpus 2002 bis<br />
2009 umfasst immer noch r<strong>und</strong> 764<br />
Buchseiten. 764 Seiten? Ja, gewiss, ein<br />
ungewöhnlich dickes Buch des Autors,<br />
der den Roman «Der dicke Dichter» geschrieben<br />
hat. Doch nach ein paar Seiten<br />
verspürt der Leser einen Sog, der ihn<br />
weiter <strong>und</strong> weiter hineinzieht. Ein «Lesesog»,<br />
wie ihn Zschokke bei der Lektüre<br />
der Briefe von Gottfried Benn an den<br />
Bremer Kaufmann <strong>und</strong> Kunstfre<strong>und</strong><br />
Friedrich Wilhelm Oelze erlebt.<br />
Matthias Zschokke<br />
Der Schweizer Autor <strong>und</strong> Filmemacher<br />
Matthias Zschokke (*1954) lebt seit<br />
1980 in Berlin. Er debütierte 1982 mit<br />
dem Roman «Max», dem der Robert-<br />
Walser-Preis zugesprochen wurde <strong>und</strong><br />
dem seither neun weitere Prosabände<br />
folgten. Für «Maurice mit Huhn» erhielt<br />
Zschokke 2006 den Solothurner Literaturpreis<br />
<strong>und</strong> den Schweizerischen Schillerpreis<br />
sowie 2009 (als erster<br />
deutschsprachiger Autor) den französischen<br />
Literaturpreis «Prix Femina<br />
Étranger». Nach der Schliessung des<br />
<strong>Zürcher</strong> Ammann-Verlages wechselte<br />
Zschokke zum Göttinger Wallstein-<br />
Verlag, der in diesem Frühjahr auch den<br />
1995 erschienenen Roman «Der dicke<br />
Dichter» wieder auflegt. Der Genfer<br />
Verlag Zoé hat Zschokke im französischen<br />
Sprachraum bekannt gemacht.<br />
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
Dass private Briefe bereits zu Lebzeiten<br />
der Schreibenden publik werden,<br />
weil sie weit über <strong>das</strong> Persönliche hinausgehen,<br />
ist in der Literatur kein neues<br />
Phänomen. Schon zu Lebzeiten von Madame<br />
de Sévigné zirkulierten im späten<br />
17. Jahrh<strong>und</strong>ert Briefe von ihr in Abschriften.<br />
Die Korrespondenzen des<br />
Berner Patriziers Karl Viktor von Bonstetten<br />
an den deutschen Dichter Friedrich<br />
von Matthisson <strong>und</strong> an die dänischdeutsche<br />
Schriftstellerin Friederike<br />
Brun erschienen in Buchform mehrere<br />
Jahre vor Bonstettens Tod 1832. Und in<br />
jüngster Zeit kennen wir auch bereits<br />
die Veröffentlichung von Mails, <strong>und</strong><br />
zwar seit Michel Mettler vor zwei Jahren<br />
Jürg Laederachs «Depeschen nach<br />
Mailland» herausgegeben hat.<br />
Der «Traum von Kunst»<br />
Laederachs <strong>und</strong> Zschokkes Mails decken<br />
sich teilweise zeitlich <strong>und</strong> thematisch:<br />
Die beiden Autoren (die sich übrigens<br />
gegenseitig Reverenz erweisen)<br />
kämpfen mit den Tücken der Telekommunikation,<br />
schreiben über gleiche politische<br />
<strong>und</strong> sportliche Ereignisse <strong>und</strong><br />
berichten über ihre persönliche Befindlichkeit<br />
<strong>und</strong> ihre Depressionen. Doch<br />
«Lieber Niels» geht weiter, ist dichter,<br />
inhaltlich vielschichtiger, hat eher Züge<br />
von Henri-Frédéric Amiels «Journal intime»<br />
(ohne dessen Religiosität), Ludwig<br />
Hohls «Notizen» (ohne deren Dogmatismus)<br />
oder Paul Nizons «Journalen»<br />
(ohne deren Erotomanie).<br />
Zschokkes digitale Botschaften an<br />
seinen abwesenden Fre<strong>und</strong> Niels konnten<br />
in den vergangenen Wochen bereits<br />
Tag für Tag – zeitverschoben um fünf<br />
Jahre – im Internet «vorabgelesen» werden.<br />
Dem Medium entsprechend sind<br />
die einzelnen Eintragungen dieses Online-Tagebuchs<br />
kürzer als in den meisten<br />
Dichter-Diarien auf Papier, prägnanter<br />
auch <strong>und</strong> spontaner. Jetzt als Buch,<br />
sozusagen umgewandelt in die analoge<br />
Form, üben sie mit dem Funkeln <strong>und</strong><br />
Flimmern der Sprache, mit dem Leichtfüssigen<br />
<strong>und</strong> Eleganten der Formulierungen<br />
diesen ganz besonderen «Lesesog»<br />
aus. Der Leser wird, von Seite zu<br />
Seite, immer wieder überrascht. Das<br />
Buch ist ein ironisches Reflektieren in<br />
Gegensätzen, es lebt von Wiederholung<br />
<strong>und</strong> Widerspruch, Übertreibung <strong>und</strong><br />
Untertreibung, Urteil <strong>und</strong> Vorurteil.<br />
«Lieber Niels» beginnt zeitlich mit<br />
Zschokkes Aufenthalt als Stipendiat der<br />
Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr in<br />
Budapest <strong>und</strong> der Arbeit am Roman<br />
«Maurice mit Huhn». Es folgt ein Zeitabschnitt,<br />
in dem Matthias Zschokke<br />
sich erfolglos um die Realisierung seines<br />
Kinospielfilms «Die Unvollendeten»<br />
bemüht <strong>und</strong> ein Semester lang an<br />
der Universität der Künste in Berlin<br />
Szenisches Schreiben unterrichtet. Das<br />
Buch endet mit den Aufenthalten in Jordanien<br />
auf Einladung des schweizerischen<br />
Botschafters Paul Widmer <strong>und</strong> in<br />
New York als Writer-in-Residence –<br />
Keim des langsam entstehenden Buchs<br />
«Auf Reisen».<br />
Zschokkes Thema ist deshalb immer<br />
wieder die Kunst, der «Traum von<br />
Kunst» <strong>und</strong> die harte Realität des Marktes,<br />
die Hoffnungen <strong>und</strong> Erwartungen<br />
eines Autors, sein Gelingen <strong>und</strong> Scheitern.<br />
«Ich meine heute noch, Kunst<br />
müsse aus dem Überfluss kommen, sie<br />
müsse unnütz sein, frei von jedem Kalkül,<br />
sie müsse von selbst entstehen, aus<br />
einer Laune heraus, sie müsse der pure<br />
Luxus sein, sie dürfe nicht funktionalisiert<br />
werden», meint Zschokke. Die «Industrieschreiberei»<br />
eines Philip Roth,<br />
<strong>das</strong> «Kunsthandwerk à la Thomas<br />
Mann», die «Karaoke-Literatur» findet<br />
Zschokke entsetzlich, die erfolgsabhängige<br />
Kulturförderung verfehlt, die<br />
«Installateure <strong>und</strong> Eventmonteure» im<br />
heutigen Theaterbetrieb ärgern ihn. Er<br />
fragt sich, warum ein Albert Vigoleis<br />
Thelen seinerzeit so wenig wahrgenommen<br />
wurde, <strong>und</strong> er denkt, irgendwo<br />
müsste auch heute ein Tschechow möglich<br />
sein, «die Figur, der Traum, die<br />
Hoffnung, die er verkörperte». Zschokke<br />
weiss, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> zunächst einmal sein<br />
eigenes Problem ist, aber wenn er es in<br />
Worte zu fassen versucht, so deshalb,<br />
weil er es für eine allgemeine Zeiterscheinung<br />
hält. Dabei macht er historische<br />
Parallelen sichtbar: Eingehend beschäftigt<br />
er sich mit dem englischen<br />
Autor George Gissing, der Ende des
19. Jahrh<strong>und</strong>erts in seinem Roman «New<br />
Grubb Street» den Fluch des Literaturkommerzes<br />
<strong>und</strong> des «Zeilengelds» (so<br />
der Titel der deutschen Übersetzung)<br />
schildert.<br />
Flucht aus der Zeit<br />
Immer wieder liebäugelt Zschokke<br />
damit, der Zeit zu entfliehen, nach Imperia-Oneglia<br />
zum Beispiel: Diese real<br />
existierende Doppelstadt an der ligurischen<br />
Küste wird in seinen Mails zum<br />
imaginären Fluchtpunkt, zum erträumten<br />
Orts- <strong>und</strong> Wohnungswechsel, der<br />
sich immer wieder verflüchtigt: «Das<br />
stelle ich mir in düsteren Momenten in<br />
Berlin immer ganz einfach vor. Kaum<br />
komme ich aber in an – <strong>das</strong><br />
steht für die verschiedensten Auswanderungstraumziele<br />
–, gebe ich den Vorsatz<br />
auf <strong>und</strong> gehe einfach ein wenig rum<br />
<strong>und</strong> kehre erschöpft <strong>und</strong> glücklich in<br />
meine Berliner Wohnung zurück.» Dann<br />
wieder stellt sich Zschokke <strong>das</strong> sorgenlose<br />
Wohlleben in der Prunkvilla des<br />
Clowns Grock in Imperia vor, mit mediterranem<br />
Garten, Gästezimmern, Haushälterin<br />
<strong>und</strong> Putzkraft. Er schwärmt von<br />
den «winzigen Kaffeetässchen, Birrinis,<br />
Prosecchinis, Paninis usw.» an der italienischen<br />
Riviera <strong>und</strong> vergegenwärtigt<br />
sich schaudernd ein deutsches Frühstück:<br />
«Was für Riesenbrote, was für<br />
blutigrote Wursträder, was für bedrohliche<br />
Kaffeeeimer einen hingegen in<br />
Crimmitschau schon frühmorgens grim-<br />
Der in Bern geborene<br />
Matthias Zschokke,<br />
hier in seinem Atelier<br />
in Berlin, analysiert<br />
subtil <strong>das</strong> Verhalten<br />
der Massen.<br />
PhiliPPe Matsas / agence OPale<br />
mig anstarren <strong>und</strong> <strong>das</strong> Fürchten lehren!»<br />
Wenn Zschokke schliesslich von seinem<br />
Kölner Briefpartner an Imperias faschistische<br />
Vergangenheit erinnert wird, erwidert<br />
er ungerührt: «War da nicht auch<br />
mal was mit Berlin <strong>und</strong> Nazis? Köln <strong>und</strong><br />
Inquisition? Griechenland <strong>und</strong> Militärjunta?<br />
Spanien <strong>und</strong> Junta? Selbst im<br />
märchenhaften Persien scheint es eine<br />
Vergangenheit zu geben, die Dir nicht<br />
konveniert. Wenn ich an einen unkontaminierten<br />
Ort ziehen wollte, müsste ich<br />
lange suchen. Vielleicht Palau?»<br />
Verw<strong>und</strong>ert über sich selber<br />
Wie gesagt: Für Zschokke sind die persönlichen<br />
Probleme letztlich Symptome<br />
einer gesellschaftlich-politischen Entwicklung,<br />
die alle angeht. Sehr subtil<br />
analysiert er <strong>das</strong> Verhalten der Massen,<br />
die Übergänge von der Begeisterung in<br />
den Fanatismus, u. a. anlässlich der Fussball-Weltmeisterschaft<br />
2006. Er freut<br />
sich über die fröhliche Stimmung auf<br />
den Berliner Chausseen <strong>und</strong> Plätzen,<br />
macht sich über die eigene Begeisterung<br />
lustig <strong>und</strong> fragt Niels launig: «Hast Du<br />
Dir auch ein Fähnchen gekauft?» Aber<br />
ein paar Tage später bereits bemerkt er<br />
nachdenklich: «Gestern kam ich mir bereits<br />
leicht stigmatisiert vor ohne deutsche<br />
Fahne. Nicht mehr lange, <strong>und</strong> man<br />
traut sich nicht mehr unbeflaggt auf die<br />
Strasse. Das ist ein wenig unheimlich.»<br />
Zuweilen klingen die Mails larmoyant<br />
<strong>und</strong> misanthropisch, werden bitter <strong>und</strong><br />
missgünstig. Dann denkt der Leser:<br />
Schon wieder? Muss <strong>das</strong> denn sein?<br />
Aber bereits auf der nächsten Seite wird<br />
alles ganz anders, ist <strong>das</strong> Selbstmitleid<br />
verflogen, löst sich in selbstkritische<br />
Heiterkeit auf. Denn Zschokke lässt sich<br />
immer wieder von einem Film, einer<br />
Opernaufführung oder einer Ausstellung<br />
begeistern, von einer Stadt, einem<br />
Strand oder einer Begegnung faszinieren.<br />
Und dann w<strong>und</strong>ert er sich nicht nur<br />
über die Welt, sondern auch über sich<br />
selber: «Alle Klischees erfüllt, alle widerlegt»,<br />
schreibt er nach der Rückkehr<br />
aus Kalifornien. l<br />
Thomas Feitknecht leitete von 1990 bis<br />
2005 <strong>das</strong> Schweizerische Literaturarchiv<br />
in Bern.<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik<br />
Roman Wiederum unterhält <strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> die Leserschaft mit einer modernen Geschichte, in der<br />
Einfallsreichtum die Mächte des Bösen besiegt<br />
Die Magie schwindet aus<br />
dem Universum<br />
<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong>: <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />
<strong>Lebensfeuer</strong>. Aus dem Englischen von<br />
Bernhard Robben. Rowohlt,<br />
Reinbek 2011. 268 Seiten, Fr. 30.50.<br />
Von David Signer<br />
Am 14. Februar 1989 verurteilte Ayatollah<br />
Khomeini den indisch-britischen<br />
Schriftsteller <strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> wegen<br />
seiner «gotteslästerlichen» Schilderungen<br />
im Roman «Die satanischen Verse»<br />
zum Tod. <strong>Rushdie</strong> musste untertauchen,<br />
lebte isoliert an ständig wechselnden<br />
Orten <strong>und</strong> unter permanenter Bewachung.<br />
In dieser Zeit schrieb er für seinen<br />
Sohn Zafar <strong>das</strong> Märchen «Harun<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> Meer der Geschichten». Es handelt<br />
von einem Mann, dem die Fähigkeit<br />
zum Erzählen abhandenkommt, weil<br />
man ihm den «Geschichtenhahn» abgedreht<br />
hat, <strong>und</strong> der schliesslich von seinem<br />
Sohn gerettet wird.<br />
Inzwischen, berichtet <strong>Rushdie</strong>, las<br />
sein zweiter Sohn Milan dieses Buch<br />
<strong>und</strong> wollte auch eins. Also schrieb er<br />
«<strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong>» für ihn.<br />
Dieses neueste Werk des inzwischen<br />
64-jährigen Autors ist eine Art Fortsetzung,<br />
kann aber auch unabhängig von<br />
«Harun» gelesen werden. <strong>Luka</strong> ist darin<br />
der jüngere Bruder von Harun. Als der<br />
Zirkus «Grosse Feuerreifen» in die Stadt<br />
kommt, verflucht <strong>Luka</strong> dessen Direktor<br />
Captain Aag wegen seiner Grausamkeit.<br />
Tatsächlich bricht noch in derselben<br />
Nacht ein Brand aus, <strong>und</strong> die Tiere erheben<br />
sich gegen ihren Peiniger. Zwei von<br />
ihnen, «H<strong>und</strong> der Bär» <strong>und</strong> «Bär der<br />
H<strong>und</strong>», nehmen Zuflucht bei <strong>Luka</strong>.<br />
Doch dann fällt sein Vater, Raschid Khalifa,<br />
der legendäre Geschichtenerzähler,<br />
plötzlich in einen rätselhaften Schlaf.<br />
Seine Familie ist verzweifelt. Und dann<br />
taucht auch noch Nobodaddy, ein halb<br />
durchsichtiger Doppelgänger des Vaters,<br />
auf.<br />
Rettung dank Naivität<br />
Es stellt sich heraus, <strong>das</strong>s ihn der rachsüchtige<br />
Captain Aag geschickt hat, um<br />
<strong>Luka</strong>s Vater seine Identität zu stehlen. Je<br />
schwächer der wird, umso lebensvoller<br />
wird Nobodaddy. Es gibt nur eine einzige<br />
Möglichkeit, diesen fatalen Prozess<br />
zu stoppen: <strong>Luka</strong> muss ins Reich der<br />
Magie reisen, dort <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong> entwenden<br />
<strong>und</strong> es seinem Vater raschmöglichst<br />
verabreichen.<br />
Der Hauptteil des Buches handelt von<br />
dieser modernen Gralssuche, die den<br />
Jungen durch eine unheimliche <strong>und</strong><br />
abenteuerliche Gegenwelt führt, erzählt<br />
in einer Mischung aus Fantasy, Trickfilm,<br />
Epos <strong>und</strong> Videogame. Das Buch<br />
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> hat<br />
ein weiteres, leichtfüssiges<br />
Märchen<br />
geschrieben – auch<br />
für Erwachsene.<br />
erlaubt mehrere Lesarten: Jugendliche<br />
mögen es als actionreichen, spannenden,<br />
verrückten Trip verschlingen; ältere<br />
Leser verstehen es vielleicht als Allegorie<br />
des Problems, wie man sich dem<br />
Schw<strong>und</strong> der Imagination, der Kreativität<br />
<strong>und</strong> der Spontaneität widersetzen,<br />
wie man <strong>das</strong> eigene <strong>Lebensfeuer</strong> retten<br />
kann. Oder, politischer ausgedrückt:<br />
wie man angesichts von Autoritäten,<br />
Manipulation <strong>und</strong> Repression die Freiheit<br />
aufrechterhält, sei es individuell, sei<br />
es kollektiv. Oder, <strong>und</strong> hier verschwimmen<br />
die Lesarten: wie man sich trotz<br />
Erfahrungen <strong>und</strong> (vorgeblichem) Wissen<br />
einen unverstellten kindlichen oder<br />
jugendlichen Blick auf die Welt bewahren<br />
kann. Denn wie so oft in Märchen<br />
<strong>und</strong> Mythen rettet auch in «<strong>Luka</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong>» der Junge seinen<br />
Vater am Ende gerade dank einer gewissen<br />
Unschuld <strong>und</strong> Naivität. Und dank<br />
einer Magie, die <strong>Rushdie</strong> einem «erwachsenen»<br />
Pragmatismus gegenüberstellt,<br />
der immer weniger Spielraum<br />
übrig lässt.<br />
PAUL STUART / CAMERA PRESS / KEYSTONE<br />
«Die Magie schwindet aus dem Universum»,<br />
erklärt die mächtige Zauberin<br />
Soraya <strong>Luka</strong>, während sie auf dem fliegenden<br />
Teppich über zerfallende Pyramiden<br />
sausen. «Eines Tages aber werdet<br />
ihr wach, <strong>und</strong> wir sind fort; dann sollt<br />
ihr spüren, wie es sich in einer Welt lebt,<br />
wo Magie nicht einmal mehr in den Gedanken<br />
existiert.»<br />
Tödlich gekränkte Ratten<br />
Es finden sich herrliche Persiflagen <strong>und</strong><br />
Minisatiren in dem Buch, beispielsweise<br />
<strong>das</strong> Kapitel über die Ratten des «Ich-<br />
Respektorats». Dauernd sind sie gekränkt,<br />
<strong>und</strong> sogar wenn sich ausnahmsweise<br />
mal eine Nichtratte beleidigt<br />
fühlt, empfinden sie <strong>das</strong> als Respektlosigkeit.<br />
«Unverschämtheit», kreischt die<br />
Grenzratte einmal <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> seine beiden<br />
Begleiter H<strong>und</strong> <strong>und</strong> Bär an. «Ihr behauptet,<br />
beleidigt zu sein? Ich finde, <strong>das</strong><br />
ist eine tödliche Kränkung, Und wer<br />
eine Ratte tödlich kränkt, der hat alle<br />
Ratten schwer gekränkt.»<br />
Jeder kann sich selber ausmalen,<br />
wofür die respektversessenen Ratten<br />
stehen. Es gibt viele Möglichkeiten. Klar<br />
ist, <strong>das</strong>s die Sympathie des Autors eher<br />
bei ihren Gegenspielern, den Ottern <strong>und</strong><br />
ihrer Anführerin Soraya, liegt. Die Ottern<br />
sind Anhänger des Exzesses <strong>und</strong><br />
der Übertreibung in allen Formen, <strong>und</strong><br />
dazu gehört, <strong>das</strong>s sie nichts lieber tun,<br />
als andere <strong>und</strong> auch sich selber – re spektlos<br />
– durch den Kakao zu ziehen. Sie<br />
besiegen die Respekto-Ratten schliesslich<br />
durch einen Juckpulver-Luftangriff.<br />
Köstlich ist auch die Odyssee durch<br />
<strong>das</strong> Pantheon der abgehalfterten Götter.<br />
Was gibt es für einen Allmächtigen wie<br />
Zeus, Jupiter, Ra oder Wotan Schlimmeres,<br />
als ins Abseits gestellt zu werden,<br />
weil niemand mehr an ihn glaubt? Die<br />
Pointe des Buches liegt darin, <strong>das</strong>s <strong>Luka</strong><br />
schliesslich all die mythischen <strong>und</strong> religiösen<br />
Helden für sich gewinnen kann,<br />
indem er sie davon überzeugt, <strong>das</strong>s sie<br />
vom menschlichen Einfallsreichtum<br />
<strong>und</strong> also vom Überleben von Künstlern<br />
wie Raschid abhängen.<br />
Es gibt in <strong>Rushdie</strong>s neuem Werk viel<br />
Kapriolen <strong>und</strong> Sprachakrobatik. Manchen<br />
Lesern mag es gar zu leichtfüssig<br />
daherkommen. Zahlreiche Seiten sind<br />
wie Zuckerwatte: Sie sind süss, aber<br />
lösen sich nach kurzer Zeit in Nichts<br />
auf. Was man <strong>Rushdie</strong> jedoch zugute<br />
halten muss: Trotz dem Märchengenre<br />
gleitet er nie in Kitsch oder ins Pittoreske<br />
ab. Dafür ist er zu sehr Anarchist.<br />
Und wenn er kürzlich verlauten liess, er<br />
habe schon lange nicht mehr so viel<br />
Spass gehabt wie bei diesem Werk, so<br />
glaubt man ihm gerne. Es ergeht einem<br />
als Leser nämlich ebenso. ●
Lyrik Der Walliser Autor Rolf Hermann überzeugt auch mit Collagen<br />
Poetische Betrachtungen<br />
über<br />
eine Büroklammer<br />
Rolf Hermanns<br />
Collage «Private<br />
Quiz Show» ergänzt<br />
sinnfällig sein<br />
Gedicht.<br />
Rolf Hermann: Kurze Chronik einer<br />
Bruchlandung. Gedichte mit Collagen<br />
des Autors. X-Time, Bern 2011.<br />
101 Seiten, Fr. 20.–.<br />
Von Manfred Papst<br />
Eine Milbe studiert ein schräg hängendes<br />
Tafelbild auf unverputzter Wand. Es<br />
zeigt <strong>das</strong> Wachstum eines Vulkankegels<br />
zwischen Juli <strong>und</strong> Oktober 1767. Die<br />
Milbe erforscht wie kaum ein anderes<br />
Tier die Übergänge zwischen Liegen<br />
<strong>und</strong> Sitzen. Der Dichter steht derweil<br />
demütig am Herd, lässt Salzwasser aufkochen,<br />
legt einen Bindfaden hinein. Mit<br />
seinem Lieblingstier will er ein Buch im<br />
Wachzustand schreiben. Die beiden<br />
zählen bis zehn, doch bei vier fallen<br />
ihnen die Augen zu.<br />
Wer Sinn für solche surrealistischen<br />
Sprachbilder hat, der ist bei Rolf Hermann<br />
gut aufgehoben. Der 1973 im<br />
Wallis geborene Autor <strong>und</strong> Collage-<br />
Künstler hat mit «Kurze Chronik einer<br />
Bruchlandung» soeben seinen zweiten<br />
Gedichtband vorgelegt. Er ist exakt so<br />
aufgebaut wie sein 2007 (ebenfalls bei<br />
X-Time) erschienener Vorgänger, der<br />
den so umständlichen wie schönen Titel<br />
«Hommage an <strong>das</strong> Rückenschwimmen<br />
in der Nähe von Chicago <strong>und</strong> anderswo»<br />
trug: Fünf Gruppen von Gedichten,<br />
darunter der zehnteilige Zyklus «Der<br />
Hosenträgerpianist», verbinden sich<br />
mit Collagen des Autors.<br />
Diese entstammen seinem gross<br />
ange legten «Museum nach eigenen<br />
Regeln». Darin kombiniert Hermann<br />
Ausschnitte aus bekannten Gemälden<br />
verschiedenster Epochen mit Fotos,<br />
Schriftzügen <strong>und</strong> Schildern zu so ab-<br />
MARIE R. TRÜB<br />
gründigen wie witzigen Gebilden, die er<br />
fiktiven Künstlern <strong>und</strong> Standorten zuordnet.<br />
«Rudy Angel van der Weyden»,<br />
lesen wir da zum Beispiel, «Peeping<br />
John, 1464–2008, Oil and Tempera on<br />
Wood, 19,5 × 14,3 cm, Private Collection,<br />
Randclove». Das Bild zitiert van der<br />
Weyden, Bronzino <strong>und</strong> Ingres. Eine andere<br />
Collage Hermanns, «Private Quiz<br />
Show», wird Marie R. Trüb zugeschrieben<br />
<strong>und</strong> hängt angeblich im Museum of<br />
Cultural Art in Tarnewitz. Es zitiert<br />
Marie Louise Catherine Breslau <strong>und</strong><br />
Wilhelm Trübner.<br />
Bild <strong>und</strong> Text ergänzen sich bei Hermann<br />
aufs Sinnfälligste. Seine Gedichte<br />
sind federleicht <strong>und</strong> doch tiefsinnig, von<br />
ausserordentlicher Musikalität <strong>und</strong><br />
plastischer Kraft. Sie gehen von exakten<br />
kleinen Wahrnehmungen im Alltag aus,<br />
die sie dann verdichten, verfremden, in<br />
der Art eines Flickenteppichs verarbeiten.<br />
Alles Pathetische <strong>und</strong> Prätentiöse<br />
ist ihnen fremd. Natürlich sind sie nicht<br />
alle gleichermassen gelungen; doch von<br />
welchem Lyriker liesse sich solches<br />
schon behaupten?<br />
Rolf Hermann lässt sich viel Zeit für<br />
sein lyrisches Schaffen. Doch neben seinen<br />
Gedichten ist der 38-Jährige mit<br />
etlichen Hörspielen, Theater- <strong>und</strong> Performance-Texten<br />
hervorgetreten. Zusammen<br />
mit Michael Stauffer hat er die<br />
Hörspiele «Kein Zucker im Kaffee:<br />
Hommage an Grossmutter» <strong>und</strong> «Am<br />
Tag vor der Abreise», eine Würdigung<br />
des Zermatter Dichters Hannes Taugwalder,<br />
verfasst.<br />
Mit dem Trio «Gebirgspoeten», zu<br />
dem neben Rolf Hermann Matto Kämpf<br />
<strong>und</strong> Achim Parterre gehören, hat er die<br />
CD «Letztbesteigung» (Ges<strong>und</strong>er Menschenversand<br />
2010) herausgegeben, eine<br />
Sammlung skurriler M<strong>und</strong>arttexte. Als<br />
Spoken-Word-Künstler trägt Rolf Hermann,<br />
der in Bern, Fribourg <strong>und</strong> Iowa<br />
studiert hat, seine Texte auf Hochdeutsch,<br />
in Walliser M<strong>und</strong>art <strong>und</strong> auch<br />
auf Englisch vor.<br />
In Susten ist er aufgewachsen, in Biel<br />
lebt <strong>und</strong> arbeitet er, doch seine eigentliche<br />
Heimat ist die Welt zwischen den<br />
Wörtern, <strong>das</strong> Reich zwischen Traum<br />
<strong>und</strong> Wachen. Er vertieft sich in die Betrachtung<br />
einer Büroklammer <strong>und</strong> entdeckt<br />
sein Selbstporträt. Die Vorstellung<br />
einer im Schlick schlafenden Seeschnecke<br />
versetzt ihn in einen Zustand<br />
allumfassender Zuversicht. Summend<br />
wiegt er seine Urteilskraft in den Schlaf.<br />
Lieber bleibt er ratlos, als <strong>das</strong>s er<br />
Schwarzwurzeln kaut. Erschöpft liegt er<br />
zwischen zwei Buchdeckeln <strong>und</strong> schiebt<br />
sich zurück ins Regal. ●<br />
©NZZ<br />
405 Seiten. Geb<strong>und</strong>en<br />
sFr 30,50(UVP) / f 19,95<br />
„Catalin Dorian Florescu<br />
katapultiert<br />
sich mit seinem neuen<br />
Roman in die vorderste<br />
Reihe unserer<br />
Literatur …Esist ein<br />
wirkliches Buch der<br />
Liebe geworden. Alle<br />
10CAsNsjY0MDAx0jUwMDQ3NQIA42pcPw8AAAA=<br />
Achtung.“<br />
10CEXKIQ6AMAwF0BPR_N-t60YlmVsQBD9D0NxfkWAQz70xwgSfre9nP4JA1gWgmwbNpKGEVxM2DyS6glyZzbR4LfHvCbaSkCblue4XikSUVVoAAAA=<br />
Elke Heidenreich,<br />
FAZ<br />
„Wenn Catalin Dorian<br />
Florescu erzählt, blühen<br />
die Seiten.“<br />
Martin Amanshauer,<br />
Der Standard<br />
C.H.BECK<br />
www.chbeck.de<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik<br />
Roman Andrea Levy schildert die fiktive Lebensgeschichte einer Sklavin in der Karibik<br />
Scham mit Heiterkeit überwinden<br />
Andrea Levy: Das lange Lied eines Lebens.<br />
Aus dem Englischen von Hans-Christian<br />
Oeser. DVA, München 2011. 364 Seiten,<br />
Fr. 33.90.<br />
Von Pia Horlacher<br />
Es hätte ein trauriges Lied werden können.<br />
Und ein kurzes. Feldsklavinnen auf<br />
den Zuckerrohrplantagen in Jamaika<br />
sind nicht alt geworden, zu brutal war<br />
die Schinderei, die ihnen die britischen<br />
Kolonialherren abtrotzten. Erst recht<br />
nicht kurz vor Ausbruch der blutigen<br />
Aufstände, die dazu beigetragen haben,<br />
<strong>das</strong>s dort die Sklaverei, nach r<strong>und</strong> dreih<strong>und</strong>ert<br />
Jahren, 1834 mit dem Slavery<br />
Abolition Act offiziell abgeschafft<br />
wurde. Doch July hatte schon vorher<br />
Glück im Unglück – so man unter diesen<br />
Umständen von Glück reden will. Das<br />
hübsche Kind einer Feldsklavin <strong>und</strong><br />
eines weissen Aufsehers erregt zufällig<br />
die Aufmerksamkeit von Caroline Mortimer,<br />
Schwester des Besitzers einer<br />
gutgehenden Plantage mit prächtigem<br />
Herrschaftshaus.<br />
Die Witwe nimmt <strong>das</strong> «süsse Ding»<br />
zu sich, als eine Art Kuscheltier gegen<br />
<strong>das</strong> Heimweh, <strong>das</strong> sie in diesem fremden<br />
Land plagt. July – sie erhält gleich einen<br />
passenderen Namen – wird als ihr persönliches<br />
Hausmädchen trainiert. Die<br />
Trennung von der Mutter ist nicht der<br />
Rede wert – Sklaven wurden wie Vieh<br />
gehalten, <strong>und</strong> July gilt nicht mehr als ein<br />
Kälbchen, <strong>das</strong> der Kuh weggenommen<br />
wird. Eine Weile noch schleicht Kitty,<br />
die Mutter, des Nachts ums grosse Haus,<br />
dann verschwindet sie für lange Jahre<br />
aus dem Leben <strong>und</strong> dem Lied ihrer<br />
Tochter: «The Long Song», wie July ihre<br />
Memoiren nennt, die sie als alte <strong>und</strong><br />
mittlerweile freie Frau am Ende ihres<br />
Lebens schreibt.<br />
Doch «Das Lange Lied eines Lebens»<br />
ist kein Trauergesang geworden, keine<br />
bittere Poesie aus den Abgründen der<br />
Barbarei wie bei Toni Morrison, sondern<br />
die erstaunlich heitere Erzählung<br />
von der tapferen Überlebenskunst einer<br />
Frau in den Ketten der Sklaverei. Dass<br />
solche Ketten, solche Unterdrückung<br />
für Frauen noch immer existieren, wenn<br />
auch unter anderem Namen, ist eine gewiss<br />
nicht zufällige Nebenerkenntnis<br />
des Romans von Andrea Levy, selbst<br />
Nachfahrin jamaikanischer Einwanderer<br />
in England. Das System der Sklaverei<br />
lebt vom ökonomischen Besitzanspruch<br />
des weissen Mannes über den schwarzen<br />
Körper, dessen Gr<strong>und</strong>muster die<br />
sexuelle Unterwerfung des weiblichen<br />
Körpers ist. So beginnt <strong>das</strong> Buch denn<br />
auch mit jener selbstverständlich anmutenden<br />
Vergewaltigung von Kitty, der<br />
schliesslich July entspringt. Eine beiläufige,<br />
alltägliche Tat, doch für die Opfer<br />
eine Schande, die sie nur in der Umdeutung<br />
– als gottgegebene Herrschaftsverhältnisse<br />
– oder der Leugnung überleben<br />
können. Wie Kitty, die sich ein-<br />
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
redet, <strong>das</strong>s der Aufseher sie einfach<br />
wieder einmal von hinten angerempelt<br />
hat, ein bisschen grob, wie üblich.<br />
Diese Leugnung der Schande – die<br />
Sozialpsychologie nennt es heute Internalisierung<br />
– <strong>und</strong> die schmerzliche<br />
Überwindung der Scham sind thematisch<br />
zentral für die raffinierte Erzählperspektive,<br />
ja für die Motivation des<br />
Romans. Andrea Levy lässt Miss July<br />
ihre Geschichte erzählen unter der<br />
strengen Aufsicht ihres Sohnes, den sie<br />
einst als Säugling ausgesetzt hat. Der<br />
heute renommierte Buchdrucker Thomas<br />
Kinsman wurde damals von den<br />
Baptisten, welche die Sklaverei bekämpften,<br />
aufgenommen <strong>und</strong> als intelligentes<br />
Vorzeigekind zur Schulung nach<br />
England geschickt.<br />
Der politisch gebildete Mann will der<br />
störrischen Mutter keine schamvolle<br />
Verharmlosung oder Schönfärberei<br />
durchgehen lassen, auch nicht die des<br />
eigenen Rassedenkens oder der Gründe<br />
für seine schmerzliche Aussetzung.<br />
Abfall des Westens Elektronikschrott in Afrika<br />
«Sodom <strong>und</strong> Gomorrah» nennen die Anwohner die<br />
Gegend. Ein alter Computer schaut aus dem Boden,<br />
Plastikteile liegen herum. Die jungen Männer<br />
bewachen Feuer wie Hirten ihre Herde. Mit ihren<br />
langen Stecken können sie die Metallteile aus dem<br />
schmelzenden Kunststoff herauslösen, die sie für ein<br />
wenig Geld verkaufen. Der Müllplatz neben dem Slum<br />
Agbogbloshie in Ghana hat es weltweit zu trauriger<br />
Berühmtheit gebracht, als Greenpeace 2008<br />
Bodenproben nahm <strong>und</strong> Rückstände von Blei,<br />
Quecksilber, Schwermetallen <strong>und</strong> PVC nachwies.<br />
50 Millionen Tonnen Elektronikschrott produzieren<br />
Auch wenn er am Ende gegen die spezifischen<br />
Legendenbildungen der «oral<br />
history», der mündlichen Geschichtsschreibung<br />
der «Sprachlosen», nicht<br />
immer ankommt. Doch Vor- <strong>und</strong> Nachwort<br />
sowie die redaktionellen Streitereien<br />
zwischen Mutter <strong>und</strong> Sohn relativieren<br />
mit Witz <strong>und</strong> Einsicht die schelmenhafte<br />
Erzählung, die halb in der<br />
würzigen englischen Kreolsprache der<br />
West-Indies, halb in der ambitiösen<br />
Nach ahmung eines gehobenen Literatur-Englisch<br />
gehalten ist.<br />
Andrea Levy, 55, ist in England berühmt<br />
geworden mit dem Roman «Small<br />
Island» <strong>und</strong> dessen Verfilmung durch<br />
die BBC, den sie der ersten Einwanderer-Generation<br />
ihrer jamaikanischen Eltern<br />
gewidmet hat. Mit «The Long<br />
Song», letztes Jahr für den gewichtigen<br />
Booker-Preis nominiert, reagierte sie<br />
auf die Frage, wie man es denn schaffen<br />
könne, auf eine solche Sklavenabstammung<br />
stolz zu sein. Die Antwort ist<br />
überzeugend ausgefallen. ●<br />
die westlichen Länder laut UN im Jahr. Nur ein Viertel<br />
entsorgen sie selbst, der Rest landet auf Müllhalden<br />
in Afrika. Pieter Hugo zeigt in seinem Bildessay, wie<br />
Menschen über Berge von Discs, Tastaturen <strong>und</strong><br />
Gehäusen wandern; ein Kalvarienberg unserer<br />
schönen schnellen Cyberwelt. Er fotografiert sie bei<br />
der Arbeit, in Pausen oder beim Schlafen. Und er<br />
lässt ihnen stets eine Würde, die archaisch wirkt <strong>und</strong><br />
die man bei denen vermisst, die ihre Abfälle bei ihnen<br />
abladen <strong>und</strong> sie vergiften. Gerhard Mack<br />
Pieter Hugo: Permanent Error. Prestel, München<br />
2011. 112 Seiten, 41 Farbbilder, Fr. 58.90.
Roman Skandalautor Michel Houellebecq gelang in Frankreich ein Bestseller über Regionalküche,<br />
imaginäre Bilder <strong>und</strong> <strong>das</strong> Ende der Welt<br />
Implodiertes Genie<br />
Michel Houellebecq: Karte <strong>und</strong> Gebiet.<br />
Aus dem Französischen von Uli<br />
Wittmann. Dumont, Köln 2011.<br />
400 Seiten, Fr. 34.90.<br />
Von Stefan Zweifel<br />
Es gibt nichts Peinlicheres, als eine<br />
Peinlichkeit mit einer Peinlichkeit vertuschen<br />
zu wollen. 1998 verweigerte die<br />
Jury des Prix Goncourt Michel Houellebecqs<br />
epochalem Roman «Elementarteilchen»<br />
den wichtigsten französischen<br />
Literaturpreis zugunsten der blassen<br />
Paule Constant. Nun wurde <strong>das</strong> wieder<br />
gut gemacht <strong>und</strong> Houllebecqs «Karte<br />
<strong>und</strong> Gebiet» gekrönt. Ein peinlich<br />
schwacher Roman. Paradoxerweise hat<br />
aber gerade diese Schwäche einen eigenen<br />
Reiz. Statt die vereinzelten Menschen<br />
wie Elementarteilchen in Fickorgien<br />
zu Konsum-Molekülen zu verklumpen<br />
oder über die Enge muslimischer<br />
Vaginas zu philosophastern (<strong>das</strong><br />
brachte ihn bei «Plateforme» um die<br />
Chance auf den Goncourt), träumt der<br />
Autor nun den Traum, <strong>das</strong>s die Welt<br />
sanft verschwindet <strong>und</strong> verwildert.<br />
Alles überwuchert von Pflanzen. Stille.<br />
Mit Houllebecq im Ruhrpott<br />
So imaginiert er <strong>das</strong> Ende der Welt – auf<br />
der vorletzten Seite steht der Erzähler in<br />
einer Zeche im Ruhrpott <strong>und</strong> betrachtet<br />
die Landschaft. Jene Fabriken, die nicht<br />
zu Event-Hallen ausgebaut wurden,<br />
sehen sich von anstürmenden Wäldern<br />
bedrängt <strong>und</strong> werden von Efeu überwuchert.<br />
Der Held des Buches – ein Kunststar<br />
– vollendet 2030 sein letztes Werk,<br />
indem er Playmobils mit ätzender Flüssigkeit<br />
übergiesst <strong>und</strong> im Dschungel seines<br />
Gartens abfilmt. Dieses imaginäre<br />
Kunstwerk erinnert an eine entpolitisierte<br />
Version von Thomas Hirschhorns<br />
«Wirtschaftslandschaft Davos». Und<br />
der Blick von der Zeche erinnert mich<br />
an eine Reise mit Houellebecq durch<br />
<strong>das</strong> Ruhrgebiet.<br />
Damals stand er verträumt <strong>und</strong> verkatert<br />
auf den Dächern von Fabrikhallen,<br />
die er für ein Filmprojekt inspizierte. In<br />
der Kantine stimmte er bei einem Teller<br />
mit matschigen Spaghetti Bolognese ein<br />
Loblied auf die deutsche Küche an,<br />
sehnte sich nach einem Fernseher, um<br />
bei der Tour de France die Bilder verlorener<br />
Dörfer im Hinterland von Frankreich<br />
zu betrachten. Dann schlief er im<br />
Auto ostentativ ein, statt mit mir über<br />
Nietzsche <strong>und</strong> Freud zu diskutieren.<br />
Beim Aussteigen analysierte er die Qualität<br />
des BMW, der sanftes Schlafen erlaubt.<br />
Und ich bedauerte, <strong>das</strong>s ich ihn<br />
auf der Autobahn nicht aus dem Wagen<br />
gekippt hatte, diesen Ekelzwerg. Genau<br />
dieser Michel Houellebecq kommt nun<br />
im Buch als Romanfigur vor. Viele Kritiker<br />
fragten sich, ob es ein Selbstporträt<br />
sei. Aus meiner Sicht: Ja, ist es!<br />
Michel Houellebecq<br />
nach der Verleihung<br />
des Prix Goncourt<br />
für die französische<br />
Version von «Karte<br />
<strong>und</strong> Gebiet» in Paris,<br />
8. November 2010.<br />
Der erfolglose Künstler Jed Martin<br />
entdeckt eines Tages die Schönheit der<br />
Michelin-Karten, auf denen Frankreich<br />
zu abstrakter Schönheit aufblüht. Seine<br />
Arbeiten werden zum Kunstknüller. Zufällig<br />
schreitet auch die schöne Olga mit<br />
ihren unendlich langen Beinen an den<br />
Bildern vorbei, <strong>und</strong> zufällig arbeitet sie<br />
für Michelin. Houellebecq-Fans erwarten<br />
nun Orgien, die beiden driften aber<br />
nur ins Leben gutbetuchter Pärchen ab,<br />
die in Drei-Sterne-Lokalen den Reiz des<br />
Terroirs entdecken: einheimische Produkte,<br />
die Rückkehr zu Frikassee <strong>und</strong><br />
Froschschenkeln in Romantik-Hotels.<br />
Doch die Parodie auf die Verlogenheit<br />
unserer Heimatboden-Nostalgie in<br />
Form von Terroir-Küche ist schlapp,<br />
stilistisch auf <strong>das</strong> Niveau von Martin Suters<br />
Bestseller «Der Koch» gesunken.<br />
Banalität der Gegenwart<br />
Der Romantitel «La carte et le territoire»<br />
spielt auch auf den Philosophen<br />
Gilles Deleuze an, der uns aus dem<br />
Katasterplan unseres kartografierten<br />
Lebens befreien wollte. Als Nomaden<br />
sollten wir uns «de-territorialisieren»,<br />
den Fluchtlinien unserer Wünsche folgen.<br />
Doch diese Fluchtlinie gibt es nicht<br />
mehr. Alles ist vom Konsum besetzt.<br />
Auch <strong>das</strong> Hinterland. Kein unberührtes<br />
Terroir, nirgends.<br />
Vom langbeinigen Luxusleben gelangweilt,<br />
beginnt Jed eine neue Werkreihe:<br />
Zurück zur Malerei! Riesige Gemälde<br />
über «Ferdinand Desroches, Pferdemetzger»<br />
oder «Aimée, Escort-Girl»<br />
entstehen, eine knallbunte Enzyklopädie<br />
der Gegenwart. Das Gemälde «Jeff<br />
Koons <strong>und</strong> Damian Hirst teilen sich den<br />
Kunstmarkt» soll den Zyklus abschliessen.<br />
Doch Jed scheitert daran, denn<br />
Koons entzieht sich mit seiner Kitschkunst<br />
unserem Urteil genauso wie mit<br />
seinem Gesicht eines «mormonischen<br />
Pornografen» dem Pinsel des Künstlers.<br />
Zum Glück. Denn dieses Bild hätte nach<br />
Ressentiment gerochen – so aber wird<br />
die Ausstellung zum Hit des Jahrzehnts,<br />
jedes Gemälde für Millionen gehandelt.<br />
Nicht zuletzt dank Michel Houellebecq.<br />
Denn diesen hat Jed in Irland aufgesucht<br />
<strong>und</strong> für ein Vorwort gewonnen – dann<br />
malt er «Michel Houellebecq, Schriftsteller».<br />
In einem weiteren Strang des<br />
Buches verschwindet <strong>das</strong> Bild aus dem<br />
Raum, in dem die Überreste von Michel<br />
Houellebecq wie ein Pollock-Bild über<br />
den Boden verstreut sind, einsam grinst<br />
Houellebecqs abgesägter Kopf dem abgetrennten<br />
Schädel seines Lieblingsh<strong>und</strong>es<br />
zu… Ob Jed der Mörder ist?<br />
«Plateforme» – Houellebecqs früherer<br />
Romantitel – blieb auch diesmal Programm.<br />
Viele Stellen hat er direkt aus<br />
dem Internet übernommen, um uns in<br />
die Banalität der Gegenwart zu schleudern.<br />
Damit knüpft er an Georges Perec<br />
an, der 1965 in «Die Dinge» <strong>das</strong> Leben<br />
seiner Epoche aus Lifestyle-Zitaten <strong>und</strong><br />
Werbe-Sprüchen konstruiert hat. Das<br />
erwähnt Houellebecq im 4. Kapitel des<br />
zweiten Teils. Nicht aber, <strong>das</strong>s Perec mit<br />
«Das Kunstkabinett» ebenfalls einen<br />
Roman über imaginäre Bilder vorgelegt<br />
<strong>und</strong> die Manipulation des Kunstmarktes<br />
aufgezeigt hat.<br />
Gleichwohl bleibt der Erzählstrang<br />
zum Künstler Jed <strong>das</strong> Beste am Buch.<br />
Man kann sich dessen Kunstwerke selber<br />
ausmalen – <strong>und</strong> <strong>das</strong> in einer eigenen<br />
Sprache, die weniger platt <strong>und</strong> banal ist.<br />
Denn so wie die Welt am Ende im Pflanzenwuchern<br />
implodiert, so ist auch<br />
Houellebecqs Genie implodiert. Dass er<br />
dafür preisgekrönt wurde, zeigt nur, wie<br />
leer Frankreichs literarische Landschaft<br />
ist. Da gibt’s nur eins: Perec lesen! ●<br />
Stefan Zweifel ist Publizist <strong>und</strong><br />
Mitglied des «Literaturclubs» am<br />
Schweizer Fernsehen.<br />
FRED DUFOUR / AFP<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik<br />
Roman Aris Fioretos, griechisch-österreichisch stämmiger Schwede, erzählt in seinem Roman<br />
ebenso klug wie vergnüglich von der Migration im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
Lauter Mücken im Kopf<br />
Aris Fioretos: Der letzte Grieche. Aus<br />
dem Schwedischen von Paul Berf.<br />
Hanser, München 2011. 416 Seiten,<br />
Fr. 37.90.<br />
Von Sandra Leis<br />
Manche Nachschlagewerke behaupten,<br />
<strong>das</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert sei <strong>das</strong> goldene Zeitalter<br />
der Migration gewesen. Der<br />
Schriftsteller Aris Fioretos notiert in<br />
seinem neuen Roman: «Mag sein. Aber<br />
viel eher müssten die Chronisten von<br />
Blei sprechen – diesem (. . .) alltäglichen<br />
Material, <strong>das</strong> in Röntgenschutzwesten,<br />
Autobatterien <strong>und</strong> manchen Arten von<br />
Kristallglas enthalten ist. (. . .) Und in<br />
Gewehrkugeln.»<br />
Jannis Georgiadis, der Held dieses<br />
weitverzweigten Romans, verlässt sein<br />
griechisches Bauerndorf nicht aus politischen,<br />
sondern aus persönlichen<br />
Gründen, nachdem er beim Pokerspiel<br />
auch noch seinen Stall verzockt hat.<br />
1967 bricht er als 24-jähriger Mann auf<br />
<strong>und</strong> sucht sein Glück als Gastarbeiter in<br />
Schweden, wo bereits <strong>das</strong> befre<strong>und</strong>ete<br />
Geschwisterpaar Kostas <strong>und</strong> Efi aus<br />
dem Nachbardorf lebt. Auch Jannis, ausgestattet<br />
mit einem abenteuerlichen<br />
Herzen <strong>und</strong> vielen Mücken (gemeint<br />
sind Verrücktheiten) im Kopf, will mehr<br />
vom Leben als bloss eine griechische<br />
Scholle.<br />
Das klingt nach einer Migrationsgeschichte,<br />
wie sie in der Literatur derzeit<br />
en vogue ist: Ein Autor schreibt in chronologischer<br />
Form nieder, was ihm <strong>und</strong><br />
seiner Familie in der Fremde widerfahren<br />
ist. Aris Fioretos skizziert in seinem<br />
Roman «Der letzte Grieche» nicht die<br />
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
Beim Pokern alles<br />
verzockt: Der<br />
Protagonist des<br />
Buches muss seine<br />
Heimat Griechenland<br />
verlassen. Filmszene<br />
aus «Drama im<br />
Spiegel» (1960).<br />
eigene Familiengeschichte <strong>und</strong> Emigration,<br />
weiss aber sehr genau, wovon er<br />
schreibt: 1960 in Göteborg geboren als<br />
Sohn einer österreichischen Künstlerin<br />
<strong>und</strong> eines griechischen Arztes, wuchs er<br />
in Schweden auf. Er studierte Vergleichende<br />
Literaturwissenschaft in Stockholm,<br />
Paris <strong>und</strong> in Yale, habilitierte 2001<br />
<strong>und</strong> lebt jetzt seit fast einem Jahrzehnt<br />
in Berlin. Fioretos, der sich auch als<br />
Übersetzer von Auster, Hölderlin <strong>und</strong><br />
Nabokov ins Schwedische einen Namen<br />
gemacht <strong>und</strong> 2010/11 die erste kommentierte<br />
Werkausgabe von Nelly Sachs<br />
herausgebracht hat, ist ein europäischer<br />
Kosmopolit.<br />
Karteikarten als Gr<strong>und</strong>lage<br />
Vorbild für den Roman ist eine «Enzyklopädie<br />
der Auslandgriechen», die eine<br />
Gruppe von Frauen zusammengetragen<br />
hat nach der Vertreibung <strong>und</strong> Ermordung<br />
der griechischen Minderheit in<br />
Smyrna durch Atatürk im Jahr 1922. Die<br />
«Gehilfinnen Clios» legten den Gr<strong>und</strong>stein<br />
für ein kollektives Gedächtnis, <strong>das</strong><br />
an all jene erinnert, die Griechenland im<br />
Lauf des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts verliessen.<br />
Aris Fioretos hat nun, so schreibt er<br />
im Vorwort, aus einem zu dieser Enzyklopädie<br />
gehörenden Supplement einen<br />
Roman verfasst: Kostas, der oben erwähnte<br />
Fre<strong>und</strong> von Jannis <strong>und</strong> spätere<br />
Rivale in der Liebe, hat wichtige Ereignisse<br />
aus dessen Leben auf Karteikarten<br />
festgehalten <strong>und</strong> veranlasst, <strong>das</strong>s sie zur<br />
weiteren Verwendung an den Schriftsteller<br />
Aris Fioretos gelangen. Dieser<br />
war sieben Jahre alt, als sein Vater eines<br />
Tages den mittellosen Landsmann Jannis<br />
Georgiadis nach Hause brachte <strong>und</strong><br />
ihm Unterschlupf gewährte.<br />
AUS DEM FILM: DRAMA IM SPIEGEL / DDP IMAGES<br />
Eine derart verschachtelte Konstruktion<br />
ist raffiniert, anspruchsvoll <strong>und</strong><br />
mag typisch sein für einen Autor mit<br />
akademischen Weihen. Sie spiegelt eine<br />
Erkenntnis, die sowohl Quelle der Hoffnung<br />
als auch der Verzweiflung ist: Kein<br />
Mensch ist eine Insel, kein Vorgang geschieht<br />
isoliert, alles hängt miteinander<br />
zusammen. Und weil dem so ist, hält<br />
sich Fioretos nicht an <strong>das</strong> herkömmliche<br />
Nacheinander einer Chronik, sondern<br />
jongliert souverän mit Rückblenden,<br />
Einschüben, Zeitkolorits, Porträts <strong>und</strong><br />
Szenen <strong>und</strong> entwickelt daraus ein unglaublich<br />
reichhaltiges <strong>und</strong> schillerndes<br />
Panorama, <strong>das</strong> zurückreicht bis in die<br />
zweite Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Ein<br />
Stammbaum im Buchdeckel hilft, die<br />
Übersicht zu bewahren.<br />
Dass sich Schicksale <strong>und</strong> Geschichten<br />
ins Gedächtnis eingraben ist die grosse<br />
Kunst dieses Romans. Fioretos zeichnet<br />
seine griechischen Landsleute mit<br />
einem zugleich liebevollen wie listigen<br />
Blick. Er spitzt zu, konterkariert, hat ein<br />
Gespür fürs Komödiantische <strong>und</strong> wahrt<br />
gleichzeitig stets den Respekt vor seinen<br />
Figuren. Dem Übersetzer Paul Berf<br />
wiederum gelingt <strong>das</strong> fast Unmögliche:<br />
Er macht einen vergessen, <strong>das</strong>s man<br />
eine deutsche Übersetzung liest, so<br />
stimmig <strong>und</strong> perfekt sind Wortwahl,<br />
Satzbau <strong>und</strong> Sprachrhythmus, so elegant<br />
<strong>und</strong> geschmeidig ist die Sprache.<br />
Leben in der Fremde<br />
Das Opus ist umfangreich, sein Kern<br />
aber umfasst eine nur kurze Zeitspanne<br />
von 1967 bis zum traumatischen Finale<br />
im November 1969. Als Gastarbeiter<br />
kommt Jannis 1967 nach Schweden <strong>und</strong><br />
findet Zuflucht im Haus des Arztes Florinos.<br />
Der junge Mann lernt Schlittschuhlaufen,<br />
träumt, obwohl er kaum<br />
lesen <strong>und</strong> schreiben kann, von einem<br />
Studium der Hydrologie, um <strong>das</strong> Bewässerungssystem<br />
in Makedonien zu reformieren.<br />
Er verliebt sich in <strong>das</strong> Kindermädchen<br />
der Familie, <strong>das</strong> von einer<br />
Ausbildung <strong>und</strong> einem unabhängigen<br />
Leben träumt. Als sie gegen ihren Willen<br />
schwanger wird, heiraten die beiden,<br />
doch <strong>das</strong> Glück ist kurz <strong>und</strong> die Ehe bald<br />
heillos aus den Fugen. In der Schilderung<br />
dieser Szenen läuft der Autor,<br />
geschult an den grossen Realisten des<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts, zu Höchstform auf.<br />
Jannis’ Frau, die ihn für Kostas verlässt,<br />
gibt später zu Protokoll: «Einen<br />
solchen Hunger hatte ich noch bei keinem<br />
anderen Menschen erlebt. Keiner<br />
der Männer (. . .) war so. Sie waren nicht<br />
neugierig <strong>und</strong> bescheiden <strong>und</strong> trotzdem<br />
bärenstark. (. . .) Jannis gehörte die Zukunft.<br />
Obwohl er keine Ahnung hatte,<br />
was ein Toaster war.» Was aus ihm geworden<br />
ist, bleibt völlig offen. Zweierlei<br />
aber ist gewiss: Er lebt, <strong>und</strong> Aris Fioretos<br />
hat ihm mit diesem Buch ein berührendes<br />
Denkmal gesetzt. ●
JOCHEN ZICK / ACTION PRESS<br />
Roman Ein Krimi, der sich nicht um Mord,<br />
sondern um Liebe <strong>und</strong> Verrat dreht<br />
Der<br />
eifersüchtige<br />
Kommissar<br />
Linus Reichlin: Er. Galiani, Berlin 2011.<br />
288 Seiten, Fr. 28.90.<br />
Von Christine Brand<br />
Nein, ein Krimi ist <strong>das</strong> nicht. Obwohl die<br />
Zutaten dafür durchaus gegeben wären:<br />
Die Geschichte handelt von einem ehemaligen<br />
Kommissar, ein bis zwei Leichen,<br />
verworrenen Lebens- <strong>und</strong> Liebesgeschichten<br />
<strong>und</strong> einer gehörigen Portion<br />
Eifersucht. Doch <strong>das</strong> Verbrechen<br />
fehlt. Kein Mord, kein Totschlag, keine<br />
kriminalistische Ermittlung – höchstens<br />
eine unterlassene Hilfeleistung.<br />
Mit seinem dritten Roman, der den<br />
spartanischen Namen «Er» trägt, hat<br />
sich der Schweizer Autor Linus Reichlin<br />
von der Sparte Krimi verabschiedet <strong>und</strong><br />
sich an <strong>das</strong> komplexeste Thema überhaupt<br />
herangeschrieben: an die Liebe,<br />
auch wenn es nicht die ganz grosse ist,<br />
<strong>und</strong> an die Eifersucht, die in diesem Fall<br />
kaum grösser sein könnte. Und an <strong>das</strong><br />
Leiden, <strong>das</strong> mit beiden einhergeht. Wiederum<br />
spielt der frühpensionierte Kommissar<br />
Hannes Jensen die Hauptrolle,<br />
der Eigenbrötler, bei dem man sich nie<br />
so recht entscheiden kann, ob man ihn<br />
mögen soll oder nicht.<br />
Der Zufall will es, <strong>das</strong>s Jensen sich in<br />
die alleinerziehende Lea mit hochbegabter<br />
Tochter verliebt – <strong>und</strong> schliesslich<br />
doch wieder zum Ermittler wird,<br />
wenn auch nur in eigener Sache: Getrieben<br />
von seiner Eifersucht, die durch<br />
eine verschwommene Liebesbotschaft<br />
an ihrem Badezimmerspiegel angestachelt<br />
wird, begibt er sich auf Spurensuche<br />
in ihrer Vergangenheit <strong>und</strong> verstrickt<br />
sich in ein Netz aus Verdächtigungen,<br />
Verrat <strong>und</strong> Lügen.<br />
Alsbald vermischen sich die zwei Parallelgeschichten,<br />
auf denen der Roman<br />
aufbaut: Die Liebesgeschichte zwischen<br />
Jensen <strong>und</strong> Lea sowie die geheimnisumwobene<br />
Lebensgeschichte von Angus,<br />
einem urchigen Naturburschen, der wie<br />
Lea von der Isle of Lewis stammt – auf<br />
welcher Hannes Jensen letztlich in seiner<br />
Verzweiflung landet <strong>und</strong> strandet<br />
<strong>und</strong> zur Einsicht kommt.<br />
Zur Einsicht, <strong>das</strong>s er nicht länger nur<br />
<strong>das</strong> Glück suchen darf, sondern bereit<br />
sein muss zu leiden – damit ihm die<br />
Liebe gehört <strong>und</strong> er sich nicht mehr unterworfen<br />
fühlt.<br />
Obwohl nicht Kriminal-, sondern<br />
Eifersuchtsroman, mangelt es<br />
nicht an Spannung, skurrilen<br />
Figuren <strong>und</strong> überraschenden<br />
Grenzüberschreitungen. So, <strong>das</strong>s<br />
man zum Schluss <strong>das</strong> Verbrechen<br />
gar nicht mehr vermisst. ●<br />
Kurzkritiken Belletristik<br />
Alice Schmid: Dreizehn ist meine Zahl.<br />
Roman. Nagel & Kimche, München 2011.<br />
156 Seiten, Fr. 23.90.<br />
Gibt es die Formel für literarischen Erfolg?<br />
Die Zentrale Intelligenz Agentur<br />
(ZIA) um Kathrin Passig schrieb eigens<br />
für Literaturwettbewerbe Texte – <strong>und</strong><br />
war in Klagenfurt immerhin dreimal erfolgreich.<br />
Ähnliches Kalkül strahlt <strong>das</strong><br />
Roman-Début der Filmproduzentin<br />
Alice Schmid (*1951) aus. Allzu pointiert<br />
gesetzt, scheint die Schockwirkung der<br />
Geschichte, die im Napfgebiet der fünfziger<br />
Jahre spielt <strong>und</strong> aus der Ich-Perspektive<br />
der neunjährigen Lilly erzählt<br />
wird. Vor dem Kolorit einer Provinzmystik<br />
à la «Sennentuntschi» finden Inzest<br />
<strong>und</strong> andere Grausamkeiten allenthalben<br />
statt. Dazu kommen die psychischen<br />
Störungen Lillys: Inkontinenz<br />
aus Angst, Schlafanfälle, übersteigerte<br />
Liebe zur bösen Mutter. Zusammen mit<br />
der modischen Swissness – hier in Form<br />
einer von M<strong>und</strong>artwörtern durchsetzten<br />
Sprache – ergibt <strong>das</strong> eine oft unfreiwillig<br />
komische Missbrauchsfolklore.<br />
Regula Freuler<br />
Matthias Politycki: London für Helden.<br />
The Ale Trail. Hoffmann & Campe,<br />
Hamburg 2011. 96 Seiten, Fr. 28.90.<br />
Mitunter mag man sich fragen, was es<br />
bringt, wenn Autoren in fernen Landen<br />
als «writers in residence» installiert<br />
werden. Umso froher ist man, wenn<br />
klare Beweise für die Nützlichkeit dieser<br />
Art von Kulturförderung vorliegen.<br />
Wie zum Beispiel hier. Matthias Politycki,<br />
der 1955 geborene, in München <strong>und</strong><br />
Hamburg beheimatete Romancier, Essayist<br />
<strong>und</strong> Lyriker, war nach London eingeladen.<br />
Diese Zeit hat er genutzt, um<br />
die Bierkneipen der Stadt systematisch<br />
zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> in Versen zu besingen.<br />
Das Resultat beeindruckt. Wir erleben<br />
einen Pilger, dem <strong>das</strong> britische Ale zunächst<br />
fremd <strong>und</strong> widerwärtig ist, auf<br />
seinem Weg der Läuterung. Die Verse<br />
des von keinem verkaterten Elend angefochtenen<br />
Autors wenden sich gegen<br />
den «bierischen Ernst» <strong>und</strong> entdecken<br />
am Ende in der vermeintlichen Metropole<br />
eine liebenswerte Provinz.<br />
Manfred Papst<br />
Xavier de Maistre: Reise um mein<br />
Zimmer. Aus dem Französischen von Eva<br />
Mayer. Aufbau, Berlin 2011. 172 S., Fr. 25.90.<br />
Auf dieses so schlanke wie entzückende<br />
Buch kann man nicht oft genug hinweisen:<br />
Xavier de Maistres «Voyage autour<br />
de ma Chambre» erschien 1794, die fünf<br />
Jahre später verfasste «Expédition nocturne<br />
autour de ma Chambre» aber erst<br />
1825. Meist werden die beiden Teile zusammen<br />
publiziert. So auch hier. Nach<br />
einem Duell steht der Autor, ein Offizier<br />
im Dienst des Königreichs Sardinien,<br />
ausgerechnet während des Turiner Karnevals<br />
sechs Wochen unter Hausarrest.<br />
Reisen, sich amüsieren kann er nicht.<br />
Also erk<strong>und</strong>et er sein Zimmer – <strong>und</strong><br />
findet auf dieser Gedankenreise die<br />
wahren Abenteuer. De Maistre ist ein<br />
Aufklärer mit dem Verstand <strong>und</strong> Temperament<br />
Diderots: ein witziger Kopf,<br />
sinnlich <strong>und</strong> neugierig, ein H<strong>und</strong>enarr<br />
<strong>und</strong> Liebling der Frauen, ein Plauderer<br />
<strong>und</strong> Philosoph, ein Meister der Abschweifung<br />
wie Laurence Sterne <strong>und</strong> ein<br />
Erk<strong>und</strong>er seiner selbst wie Montaigne.<br />
Manfred Papst<br />
Isabel Morf: Satzfetzen.<br />
Ein Zürich-Krimi. Gmeiner, Messkirch 2011.<br />
273 Seiten, Fr. 15.90.<br />
Die Bündnerin Isabel Morf legt nach.<br />
Wer ihr Krimi-Début «Schrottreif» gelesen<br />
hat, trifft in «Satzfetzen» auf alte<br />
Bekannte: Die Wiediker Fahrradhändlerin<br />
Valerie Gut <strong>und</strong> Kommissar Beat<br />
Streiff sind in die Ermittlung um den<br />
Mord an Kantonsrätin Angela Legler<br />
verwickelt. Die CVP-Politikerin verscherzte<br />
es sich mit vielen, auch mit den<br />
Protokollführern des Rats, von denen<br />
einer kurz nach Legler ermordet wird.<br />
Morf, Redaktorin für <strong>das</strong> Parlament in<br />
Bern, kann aus ihrem Alltag schöpfen.<br />
Besonders einfühlsam sind daher die<br />
Passagen über die Menschen im Hintergr<strong>und</strong>,<br />
welche sprachlich ungelenken<br />
Politikern unverzichtbare Dienste leisten.<br />
Erneut geht Morf psychologisch<br />
eine Stufe weiter als viele Krimis, in dem<br />
sie Betroffene über <strong>das</strong> Gefühlschaos<br />
nach einem Mord im nahen Umfeld reflektieren<br />
lässt.<br />
Regula Freuler<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Reportage<br />
Werden alte Bücher misshandelt, hilft oft nur noch <strong>das</strong> Skalpell. In der<br />
Universitätsbibliothek Bern haben Restauratorinnen <strong>das</strong> mittelalterliche<br />
Gebetbuch einer Strassburger Nonne gerettet. Ein Augenschein im<br />
Atelier. Von Geneviève Lüscher<br />
Aus dem<br />
Leben eines<br />
Gebetbuches<br />
Zwei massgeschneiderte, feste Kartonschachteln<br />
braucht es heute für den Kodex 801 der<br />
Burgerbibliothek Bern. Im Mittelalter stand <strong>das</strong><br />
nur handtellergrosse, bullige Gebetbuch wohl<br />
im Regal einer Klosterbibliothek oder lag auf<br />
dem Gebetsstuhl einer Nonne. Jedenfalls wurde<br />
fleissig darin geblättert. Die Leserin vertiefte<br />
sich in die Gebete <strong>und</strong> liess – noch ganz unberührt<br />
von der heutigen Bilderflut – <strong>das</strong> Auge<br />
entzückt auf den bunten Illustrationen ruhen.<br />
Heute liegt in der einen Schachtel der alte Originaleinband<br />
<strong>und</strong> in der anderen die mit einem<br />
ganz neuen Einband versehene, restaurierte<br />
Handschrift.<br />
Beutegut aus Napoleons Kriegen<br />
«Ja, <strong>das</strong> Herausschneiden des Buchblocks aus<br />
dem Einband war brutal», meint Ulrike Bürger,<br />
«aber es musste sein»; die Leiterin des Zentrums<br />
Historische Bestände der Universitätsbibliothek<br />
Bern erinnert sich höchst ungern an<br />
diesen Akt. Nun hebt die Buchrestauratorin behutsam<br />
den Einband aus seiner Kassette. Er<br />
präsentiert sich als traurige, leere Hülle, ist<br />
aber unversehrt <strong>und</strong> steht so der Einbandforschung<br />
zur Verfügung. Das über die Holzdeckel<br />
gezogene Schweinsleder ist fleckig verfärbt, im<br />
Innern baumeln einsam ein paar lose Fäden, ein<br />
Exlibris prangt auf der hinteren Innenseite. Es<br />
weist einen Ulrich Felix LindinnerEscher<br />
(1762–1854), Privatgelehrten <strong>und</strong> Archivar in<br />
Zürich, als Besitzer aus. Lindinner hat <strong>das</strong> kleine<br />
Bijoux 1823 dem Berner Schultheissen Ni<br />
Kodex 801<br />
Mit Kodex 801 wird <strong>das</strong> Gebetbuch der Nonne<br />
Ursula Begerin bezeichnet. Er umfasst insgesamt<br />
390 Seiten. Von den 195 Doppelseiten sind<br />
50 reine Bilderblätter, 64 Blätter mit Text <strong>und</strong><br />
Bild, 54 reine Textblätter; vorn <strong>und</strong> hinten sind<br />
zusätzliche Gebete eingeb<strong>und</strong>en. Das Buch kann<br />
in der Burgerbibliothek in Bern (Münstergasse<br />
63; Tel. 031 320 33 33) auf begründetes Gesuch<br />
hin zu wissenschaftlichen Zwecken eingesehen<br />
werden. Auch Mikrofilme stehen zur Verfügung.<br />
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
klaus Friedrich von Mülinen (1760–1833) geschenkt.<br />
1937 hat es die Stadtbibliothek Bern<br />
erworben; heute gehört es der Burgerbibliothek.<br />
Wie aber war Lindinner in den Besitz der<br />
Handschrift gekommen? Archivrecherchen im<br />
Zusammenhang mit der Restaurierung haben<br />
einen Brief aus dem Jahr 1823 zutage gefördert,<br />
in dem Lindinner an von Mülinen schreibt: «Le<br />
manuscrit ... vient de Strasbourg ou un officier<br />
de la garde nationale me L’adonné, L’ayant trou<br />
«Es geht nicht darum, einen<br />
künstlichen Urzustand zu<br />
reproduzieren, sondern <strong>das</strong><br />
Buch wieder lesbar zu<br />
machen. Bücher sind<br />
Gebrauchsgegenstände.»<br />
vé dans une bibliotheque de réligieuses pendant<br />
qu’on pilloit le couvent.» Vermutlich also<br />
Beutegut aus den napoleonischen Kriegen.<br />
Dem Kodex wurde auf seinem langen Lebensweg<br />
nicht immer die nötige Sorgfalt entgegengebracht<br />
– mit den Jahrh<strong>und</strong>erten wurde er ein<br />
Fall für die Restaurierung.<br />
«Solche Restaurierungen gelten bei uns als<br />
seltene Leckerbissen», sagt Petra Hanschke,<br />
Leiterin der Dienststelle Konservierung, die<br />
zum Zentrum Historische Bestände gehört. Der<br />
Alltag der fünf Restauratorinnen – Männer interessieren<br />
sich kaum mehr für diesen Beruf –<br />
ist prosaischer <strong>und</strong> widmet sich den alltäglichen<br />
Schäden, die durch den Gebrauch alter<br />
Bücher entstehen. Da werden Risse an Pergamenteinbänden,<br />
lose Buchrücken, zerfledderte<br />
Papierseiten geflickt. Japanpapier ist dabei allgegenwärtig.<br />
«Wir restaurieren nicht nur Papier,<br />
sondern auch Pergamenteinbände mit Japanpapier,<br />
weil seine Eigenschaften bestens<br />
bekannt sind», sagt Hanschke. Pergament, also<br />
getrocknete Tierhaut, ist ein höchst anspruchsvolles<br />
Material, <strong>das</strong> «lebt». Je nach Feuchtigkeit<br />
dehnt es sich aus oder schrumpft. Zudem wird<br />
modernes Pergament heute ganz anders hergestellt<br />
als im Mittelalter <strong>und</strong> hat mechanische<br />
Eigenschaften, die sich nicht immer mit dem<br />
alten Pergament vertragen.<br />
Es geht also nicht darum, einen künstlichen<br />
Urzustand zu reproduzieren, sondern <strong>das</strong> Werk<br />
wieder benützbar zu machen. Bücher sind Gebrauchsgegenstände<br />
<strong>und</strong> sollen <strong>das</strong> bleiben.<br />
Gleichzeitig ist aber die Erhaltung der Originalsubstanz<br />
wichtig: «Das Buch als solches ist<br />
auch ein Kulturgut, <strong>und</strong> wir tun alles, um so viel<br />
wie möglich davon zu erhalten.» Um diese bisweilen<br />
schwierige Gratwanderung zu bewältigen,<br />
musste sich der Beruf des Restaurators,<br />
der Restauratorin völlig ändern. «Früher kamen<br />
Buchrestauratoren hauptsächlich aus einer<br />
Buchbinderlehre. Heute absolvieren sie ein<br />
Studium an einer Fachhochschule», erklärt<br />
Hanschke, ein naturwissenschaftlicher Hintergr<strong>und</strong><br />
sei unerlässlich. Eine Restauratorin muss<br />
eine Schadensanalyse vornehmen können, sie<br />
muss epochenspezifische Materialkenntnisse<br />
haben, wissen, wie Schäden entstehen <strong>und</strong> wie<br />
chemische <strong>und</strong> physikalische Abbaumechanismen<br />
funktionieren.<br />
Probleme mit dem Grünpigment<br />
Der Kodex 801 war eine restauratorische Herausforderung:<br />
1998 kam <strong>das</strong> mittlerweile zum<br />
Problemstück mutierte Werk aus der Burgerbibliothek<br />
ins Atelier. Was tun? Ulrike Bürger erinnert<br />
sich: «Der völlig verhärtete Ledereinband<br />
liess sich nicht mehr aufklappen, Blättern<br />
<strong>und</strong> Lesen waren unmöglich.» Dazu kamen unsachgemässe<br />
alte Reparaturen mit Klebstreifen,<br />
die trübe geworden waren <strong>und</strong> <strong>das</strong> Papier braun<br />
verfärbt hatten. Da man <strong>das</strong> Buch nicht öffnen<br />
konnte, war an ein Entfernen der Scotchbänder<br />
nicht zu denken. Die Expertenr<strong>und</strong>e erwog verschiedene<br />
Möglichkeiten <strong>und</strong> hat sich dann<br />
«sehr schweren Herzens» entschlossen, <strong>das</strong><br />
Werk vollständig auseinanderzunehmen. Das<br />
sei eine Massnahme, die man immer zuletzt<br />
treffe. Eine Zerlegung bedeute immer, dem<br />
Werk Schaden zuzufügen, Bürger weist auf die<br />
zerschnittenen Heftfäden im leeren Einband.<br />
Die Restauratorin löste also den 9 × 15 Zentimeter<br />
grossen Buchblock aus dem Einband,
Die Restauratorin Ulrike Bürger untersucht den Einband des Kodex 801: «Das Herausschneiden des Buchblocks aus dem Einband war brutal.»<br />
Alle Fotos: tomAs Wüthrich<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Reportage<br />
Japanpapier, Pinsel <strong>und</strong> Skalpell – Werkzeuge der Restauratorin.<br />
schnitt die Heftfäden auf, trennte die einzelnen<br />
Lagen <strong>und</strong> breitete die losen Papierseiten aus.<br />
Jetzt konnte sie jedes Blatt einzeln von den<br />
spröden Klebstreifen befreien, reinigen <strong>und</strong><br />
wenn nötig mit Japanpapier ergänzen. Einige<br />
Seiten, so zum Beispiel diejenige mit dem Bild<br />
«Maria Himmelfahrt», waren stark abgegriffen.<br />
Offenbar waren sie über Gebühr beansprucht<br />
worden. Bei anderen Heiligen, die anscheinend<br />
nicht so beliebt waren, strahlten die Farben<br />
noch wie neu.<br />
Nach den Scotchbändern war die grüne Malfarbe<br />
<strong>das</strong> zweitgrösste Problem. Unter dem<br />
Grün war <strong>das</strong> Papier hauchdünn geworden<br />
oder sogar weggebröselt. Es war aber nicht der<br />
gut bekannte <strong>und</strong> häufige Kupferfrass, sondern<br />
ein unbekanntes Phänomen. Mit kriminalistischen<br />
Methoden versuchten die Restauratorinnen<br />
herauszufinden, um welches Grünpigment<br />
es sich da handeln könnte. «Wir nahmen Kontakt<br />
auf mit Spezialisten in Bern, Zürich, Stuttgart,<br />
Wien, Brüssel – ohne Erfolg. Das Pigment<br />
war zu stark abgebaut, um es noch zu identifizieren.<br />
Immerhin haben wir eine neue Art von<br />
Grünschaden dokumentieren können, <strong>das</strong> ist<br />
wissenschaftlich interessant.»<br />
Buchbinder-Geheimnisse<br />
Parallel zur Restaurierung lief die sogenannte<br />
kodikologische Recherche, <strong>das</strong> heisst, Bürger<br />
suchte nach Spuren der Buchherstellung. Schon<br />
frühere Bearbeiter hatten nämlich erkannt, <strong>das</strong>s<br />
die Bilder älter sind als der Text. Sie stammen<br />
aus dem Ende des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts, während<br />
die in deutscher Sprache verfassten Gebete<br />
h<strong>und</strong>ert Jahre jünger sind.<br />
Im Mittelalter musste der Buchbinder wissen,<br />
welche Doppelblätter er hintereinander zu<br />
binden hatte. Um die richtige Reihenfolge einzuhalten,<br />
versah er die Blätter im Falz mit winzigen<br />
Signaturen. Diese geben heute Hinweise<br />
auf die ursprüngliche Anzahl der Federzeichnungen,<br />
nämlich um 200. Die kodikologische<br />
Recherche zeigte, <strong>das</strong>s im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert ein<br />
r<strong>und</strong> h<strong>und</strong>ertjähriger Bilderzyklus mit Gebeten<br />
versehen worden war: Leere Seiten wurden beschrieben,<br />
weitere Texte auf zusätzlichen Blät<br />
Das Energieproblem ist gelöst<br />
Wenn man <strong>das</strong>, was in diesem Buch steht,<br />
realisieren würde, könnte man die Atomkraftwerke<br />
abstellen.<br />
10CEXKoQ6AMAxF0S-ieW9dy0YlmVsQBD9D0Py_gmAQ15zc3sMEX2vbjrYHgWwTVWdH0Ewq_MUspaSAMieQCz2rkcnivwdYXaGDcp_XA5QNn45aAAAA<br />
Einsteins Irrtum, Pyramis-Verlag AG<br />
Harald Hahn, ISBN 3-9523013-0-2<br />
Vorzugspreis Fr.25.- statt 39.- bei Bestellung<br />
Fax: 056 621 05 76<br />
Mail: distribution@pyramis-verlag.ch<br />
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
10CAsNsjY0MDAx1TU0NjY3MwAA6zBP1g8AAAA=<br />
tern eingefügt. Alles zusammen wurde dann<br />
wieder zu einem Buch geb<strong>und</strong>en. Aufgr<strong>und</strong><br />
fehlender Signaturen hat Bürger festgestellt,<br />
<strong>das</strong>s vor dem Binden um die 30 Bilder verlorengegangen<br />
sind. Auch wurden einige Seiten<br />
falsch placiert. «Das alles hätten wir ohne <strong>das</strong><br />
Auseinandernehmen nicht herausfinden können,<br />
es hatte also auch sein Gutes.»<br />
«Der Kodex ist einer der<br />
umfangreichsten Bilderzyklen<br />
des Spätmittelalters.<br />
Er ist ein wichtiges Zeugnis<br />
weiblicher Spiritualität.»<br />
Ulrike Bürger hat dann die gereinigten <strong>und</strong><br />
restaurierten Papierseiten zu einem Buchblock<br />
geb<strong>und</strong>en, dem sie einen komplett neuen Einband<br />
verpasst hat. Seine Holzdeckel sind mit<br />
hellem Ziegenleder überzogen. Sie nimmt den<br />
«neuen» Kodex 801 aus seiner Kassette, placiert<br />
ihn zwischen zwei Schaumstoffkeilen <strong>und</strong><br />
klappt ihn resolut auf. Es geht problemlos.<br />
Handschuhe trägt sie keine. «Nein, <strong>das</strong> wäre<br />
unsinnig. Gerade <strong>das</strong> Blättern in einer fragilen<br />
Papierhandschrift braucht Fingerspitzengefühl.»<br />
Auch die Journalistin darf die Seiten drehen.<br />
Wir bew<strong>und</strong>ern die elegante Schrift, die<br />
zarten, mit leuchtenden Farben ausgefüllten Federzeichnungen<br />
– eine wahre Augenweide!<br />
Was ist denn nun der Inhalt des Gebetbuches?<br />
Die Restauratorin verweist an den Spezialisten.<br />
Man habe die Gelegenheit benützt,<br />
um den Kodex wissenschaftlich aufzuarbeiten<br />
<strong>und</strong> die Ergebnisse 2012 im Urs Graf Verlag in<br />
Dietikon zu veröffentlichen.<br />
Der Germanist Nigel F. Palmer von der Universität<br />
Oxford hat zusammen mit dem Kunsthistoriker<br />
Jeffrey F. Hamburger, der an der Universität<br />
in Harvard lehrt, den Inhalt analysiert.<br />
Er ist begeistert: «Der Kodex 801 ist einer der<br />
umfangreichsten Bilderzyklen aus dem Spätmittelalter,<br />
die wir kennen. Wir sehen nicht nur<br />
die Genesis <strong>und</strong> gängige Bilder aus dem Leben<br />
Jesu, sondern viele in der mittelalterlichen<br />
Kunst sonst unbekannte Szenen, wie z. B. Johannes,<br />
der in der Gegenwart Mariens die<br />
Messe liest <strong>und</strong> ihr die Hostie überreicht; oder<br />
<strong>das</strong> Christkind, <strong>das</strong> sich auf den Schoss seiner<br />
Mutter legt <strong>und</strong> den Tod der unschuldigen Kinder<br />
beweint, deren Ermordung in der unteren<br />
Bildhälfte gezeigt wird.» Erstaunlich sei, <strong>das</strong>s<br />
der ursprüngliche Bilderzyklus, der um 1380/90<br />
in Strassburg entstand, r<strong>und</strong> 100 Jahre später<br />
mit Gebeten zu einer neuen Handschrift geb<strong>und</strong>en<br />
wurde. «Die Stimme, die in diesen privaten<br />
Selbstgekochter Weizenkleister, Leime <strong>und</strong> Ingredienzen für die Buchrestaurierung.<br />
Gebeten spricht, ist die einer Klosterfrau», sagt<br />
Palmer. Auch die letzte Besitzerin war eine<br />
Frau: Ursula Begerin, Nonne im Reuerinnen<br />
Kloster St. Magdalena in Strassburg, hat sich<br />
auf einer der letzten Buchseiten verewigt. Sie<br />
stammte aus einem Adelsgeschlecht in Strassburg<br />
<strong>und</strong> ist 1531 verstorben. Die Gebete sind<br />
laut Palmer literarisch höchst anspruchsvoll,<br />
elegant geschrieben <strong>und</strong> eigens zu den Bildern<br />
verfasst worden. Das gemeinsame Studium von<br />
Bild <strong>und</strong> Text diente einer speziellen Art der<br />
mittelalterlichen Meditation, die eine persönliche<br />
Beziehung zu Gott herzustellen suchte.<br />
Nonne als Auftraggeberin<br />
Wer die Gebete verfasst hat, ist nicht bekannt.<br />
Palmer vertritt die These, <strong>das</strong>s es ein Strassburger<br />
Kartäusermönch war. Bei der Auftraggeberin<br />
habe es sich wohl um eine Strassburger<br />
Klosterfrau gehandelt. «Vielleicht haben wir<br />
heute ganz falsche Vorstellungen von den Kontakten<br />
zwischen Mönchen <strong>und</strong> Nonnen in benachbarten<br />
Klöstern.» Dass es aber Ursula Begerin<br />
war, möchte er vorerst ausschliessen.<br />
Für Palmer ist nicht so wichtig, wer beim<br />
Malen oder Schreiben Pinsel oder Feder geführt<br />
hat, sondern wer den Auftrag erteilte.<br />
«Und diese Handschrift führt uns dezidiert in<br />
die Welt der Frauen. Der Kodex 801 ist ein<br />
wichtiges Zeugnis für weibliche Kultur <strong>und</strong><br />
Spiritualität im späten Mittelalter.» l<br />
Kodex 801: Lazarus in Abrahams Schoss (oben); unten bittet<br />
der Reiche im Höllenschl<strong>und</strong> um die Kühlung der Zunge.
GAËTAN BALLY / KEYSTONE<br />
Kolumne<br />
Charles Lewinskys Zitatenlese<br />
Charles Lewinsky,<br />
64, ist Schriftsteller,<br />
Radio- <strong>und</strong> TV-Autor<br />
<strong>und</strong> lebt in Frankreich.<br />
Seine Adventsparodie<br />
«Der Teufel in der<br />
Weihnachtsnacht» ist<br />
2010 bei Nagel &<br />
Kimche neu aufgelegt<br />
worden.<br />
Als ich verschiedene<br />
Autoren miteinander<br />
verglich, stellte ich<br />
fest, <strong>das</strong>s einige<br />
der gewichtigsten <strong>und</strong> modernsten<br />
Autoren Wort für Wort aus älteren<br />
Werken abgeschrieben haben, <strong>und</strong><br />
zwar ohne <strong>das</strong> anzumerken.<br />
Plinius der Ältere<br />
Ach, der arme Herr zu Guttenberg!<br />
Jetzt trampeln alle auf ihm herum, nennen<br />
ihn hämisch Freiherr zu Copy-<br />
Paste oder Doktor cum fraude <strong>und</strong> erzählen<br />
sich schnell erf<strong>und</strong>ene Witze<br />
über Kopierer auf Truppenbesuch.<br />
Dabei, <strong>und</strong> <strong>das</strong> übersehen alle, ging es<br />
dem bemitleidenswerten Mann gar<br />
nicht um den Doktortitel. Wer braucht<br />
den schon, wenn er sich doch einen geschichtsträchtigen<br />
Adelsnamen aufs<br />
Briefpapier drucken lassen kann? Was<br />
ist denn schon ein «Dr.» gegen ein<br />
«Frhr. z.»?<br />
Nein, der Herr Ex-Minister war nur<br />
von einer weit verbreiteten Sucht befallen:<br />
Er wollte auch einmal ein Buch geschrieben<br />
haben. Wollte auch einmal<br />
den w<strong>und</strong>erbaren Moment erleben, wo<br />
man <strong>das</strong> erste gedruckte Exemplar in<br />
Händen hält <strong>und</strong> es mit lässiger Geste<br />
ins Regal stellt. Am besten direkt neben<br />
jene Werke, die von den eigenen Vorfahren<br />
verfasst wurden. In besseren Familien<br />
ist man selten der erste, der die<br />
Schreibfeder ins blaue Blut tunkt.<br />
Zugegeben, so eine Dissertation ist<br />
eine recht bürgerliche literarische<br />
Form. So etwas schreibt heutzutage<br />
Krethi <strong>und</strong> Plethi. Ein Roman wäre<br />
Herrn zu Guttenberg deshalb tausendmal<br />
lieber gewesen, aber den «Felix<br />
Krull» gab es leider schon. Und sich<br />
eine ganz neue Geschichte zusammenzugoogeln,<br />
<strong>das</strong> kann verdammt zeitraubend<br />
werden. Also eine Diss. Buch ist<br />
Buch, <strong>und</strong> hübsch geb<strong>und</strong>en macht sich<br />
auch so eine Doktorarbeit im Regal<br />
recht hübsch.<br />
Aber als dann die Fahnen aus der<br />
Druckerei kamen – <strong>und</strong> mit Fahnen<br />
kennt sich alter Adel aus –, da musste<br />
er feststellen, <strong>das</strong>s die Seiten einfach<br />
nicht so perfekt aussahen, wie man sich<br />
<strong>das</strong> als Autor wünscht. Und <strong>das</strong> aus nur<br />
einem einzigen Gr<strong>und</strong>: Die vielen Fussnoten<br />
machten den ganzen schönen<br />
Satzspiegel kaputt. Als ob jede Seite<br />
Pickel hätte.<br />
Und so wurden halt Fussnoten gestrichen.<br />
Erst eine <strong>und</strong> dann noch eine<br />
<strong>und</strong> dann immer mehr. Aus rein ästhetischen<br />
Gründen.<br />
(Übrigens: Ein ebenfalls der Literatur<br />
ergebener Grossvater des Freiherrn<br />
hat ein Werk namens «Fussnoten» hinterlassen.<br />
Wenn die Wirklichkeit ironisch<br />
wird, trägt sie manchmal verdammt<br />
dick auf.)<br />
Und deshalb, ihr Spötter: Seid nett<br />
zum gefallenen Engel der CSU! Er<br />
wollte nur ein Buch<br />
geschrieben haben. Wer<br />
in dieser Hinsicht ohne<br />
Fehl ist, der werfe den<br />
ersten Band.<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
Marc Baumann, Martin Langeder u. a.<br />
(Hrsg.): Feldpost. Briefe aus Afghanistan.<br />
Rowohlt, Hamburg 2011. 160 Seiten, Fr. 27.50.<br />
«Eine Detonation erschüttert die freitägliche<br />
Stille im HQ Kabul. Nur 500<br />
Meter entfernt eine gewaltige Explosion.<br />
Im Deckungsbunker lackiert sich<br />
eine US-Journalistin lässig die Fingernägel.<br />
Dann gibt es eine Schweige minute<br />
für gefallene Amerikaner.» Hauptmann<br />
Thomas Brackmann, 33, schreibt aus<br />
Kabul. Es gibt sie wieder, die Briefe,<br />
heute ergänzt durch E-Mails <strong>und</strong> SMS<br />
«aus dem Feld». Journalisten der «Süddeutschen<br />
<strong>Zeitung</strong>» haben sie gesammelt.<br />
Ob von Nachtpatrouille oder Toilettencontainer,<br />
von bettelnden Kindern,<br />
vom Videoabend oder vom Raketeneinschlag<br />
erzählt wird – <strong>das</strong> Bild, <strong>das</strong><br />
die privaten Zeugnisse von der deutschen<br />
«Friedensmission» in Afghanistan<br />
vermitteln, ist realitätsgetränkt. Und<br />
ab <strong>und</strong> zu erinnert es an einen ganz gewöhnlichen<br />
Krieg: «Tot. Das Unerwartete<br />
ist geschehen.» Oberfeldwebel Dominik<br />
Hirz, 31, Kabul 2008.<br />
Kathrin Meier-Rust<br />
Silvana Schmid: La Lupa. Die Stimme der<br />
Wölfin. Mit Fotografien von Gitty Darugar.<br />
Limmat, Zürich 2011. 95 Seiten, Fr. 28.-.<br />
Wenn «La Lupa» mit ihrem feuerroten<br />
Haar, den ausladenden Hüten <strong>und</strong> ihren<br />
knallbunten Gewändern durch Zürich<br />
spaziert, drehen sich die Passanten um.<br />
Silvana Schmid, die frühere Chefredaktorin<br />
der «Tessiner <strong>Zeitung</strong>», erzählt<br />
in literarischer Sprache die Lebensgeschichte<br />
der «Wölfin», einer Frau mit<br />
einer Stimme «roh wie ein ungeschliffener<br />
Granit». Von der Jugend in Corbella<br />
(TI) weit hinten im Onsernonetal, wo<br />
sie vor mehr als 60 Jahren zur Welt kam,<br />
über die Arbeit als Bankangestellte bei<br />
der «Ubiesse» in Bellinzona <strong>und</strong> ihre<br />
zwei grossen Lieben. Später bildet sie<br />
sich in Zürich <strong>und</strong> Chur zur stimmgewaltigen<br />
Sängerin weiter, die mit ihren<br />
Canzoni, Arien <strong>und</strong> saftigen Schnul zen<br />
<strong>das</strong> Publikum zum Schmelzen bringt.<br />
Ein w<strong>und</strong>erbares Buch mit üppig-sinnlichen<br />
Bildern, in Szene gesetzt von der<br />
Pariser Fotografin Gitty Darugar.<br />
Urs Rauber<br />
Markus Reiter: Lob des Mittelmasses.<br />
Warum wir nicht alle Elite sein müssen.<br />
Oekom, München 2011. 93 Seiten, Fr. 16.80.<br />
Wer für Mittelmass plädiert, gerät in<br />
Verdacht, der Mittelmässigkeit Vorschub<br />
zu leisten. Warum dem nicht so<br />
ist, zeigt die intelligente kleine Schrift<br />
des deutschen Journalisten Markus Reiter.<br />
Mittelmass – als Gegensatz zu Geniekult<br />
<strong>und</strong> Extremismus – hat nichts<br />
mit Spiessigkeit zu tun, wohl aber mit<br />
Zügelung der Leidenschaften <strong>und</strong> der<br />
von Aristoteles gelobten «goldenen<br />
Mitte». Die gesamte Gesellschaft baue<br />
auf der «Kärrnerarbeit des Mittelmasses»<br />
auf. Ohne die Mittleren gäbe es<br />
keine Spitze in Wirtschaft, Wissenschaft,<br />
Politik <strong>und</strong> Sport. So sei die Kultur<br />
des Mittelmasses der 1980er Jahre<br />
mit ein Gr<strong>und</strong> für den Erfolg der Bonner<br />
Republik gewesen. Alles wahr! Doch<br />
wenn Reiter zum x-ten Mal «die Tyrannei<br />
der Exzellenz» geisselt <strong>und</strong> die Elite<br />
verteufelt, stellt sich irgendwann die<br />
Frage, ob der Autor gelegentlich nicht<br />
selbst <strong>das</strong> Augenmass verliert.<br />
Urs Rauber<br />
Hans Christoph Binswanger: Die<br />
Glaubensgemeinschaft der Ökonomen.<br />
Murmann, Hamburg 2011. 145 S., Fr. 24.50.<br />
Was ist der Sinn allen Wirtschaftens?<br />
Der emeritierte Wirtschaftsprofessor<br />
der Universität St. Gallen <strong>und</strong> geistige<br />
Vater der ökologischen Steuer, Hans<br />
Christoph Binswanger, hat die Frage bereits<br />
1998 in seinem ersten Büchlein<br />
«Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen»<br />
beantwortet. Der Sinn der Wirtschaft<br />
sei es, die Gr<strong>und</strong>lagen zu schaffen,<br />
<strong>das</strong>s sich alles Leben voll entfalten<br />
könne. Schon damals erkannte der brillante<br />
Denker, <strong>das</strong>s die Dynamik der<br />
Wirtschaft immer wieder zum Selbstzweck<br />
ausartete. Weil diese Erkenntnis<br />
nach der Finanzkrise wahrer ist denn je,<br />
hat Binswanger sein Werk noch einmal<br />
aufgelegt <strong>und</strong> erweitert. Der Ökonom<br />
betrachtet die Wirtschaft durch die Brille<br />
von Mythos, Philosophie, Literatur<br />
<strong>und</strong> Ethnografie. Binswangers Büchlein<br />
ist zwar klein <strong>und</strong> fein, der Inhalt dafür<br />
umso gewichtiger.<br />
Charlotte Jacquemart<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch<br />
Linda a. CiCero<br />
Geschichte Warum beherrscht der Westen den Globus? Und wie lange<br />
tut er <strong>das</strong> noch? Antworten auf diese Fragen gibt der britische Historiker Ian Morris:<br />
Die erste fällt episch aus, die zweite sehr kurz<br />
Rennen<br />
um die<br />
Weltmacht<br />
Ian Morris: Wer regiert die Welt? Warum<br />
Zivilisationen herrschen oder<br />
beherrscht werden. Campus,<br />
Frankfurt 2011. 656 Seiten, Fr. 37.90.<br />
Von Geneviève Lüscher<br />
Der Wälzer liegt schwer in der Hand,<br />
aber der Text liest sich leicht. Der Archäologe<br />
Ian Morris schreibt in typisch<br />
Ian Morris<br />
Geboren 1960 in Stoke-on-Trent studierte<br />
Ian Morris Geschichte <strong>und</strong> Klassische<br />
Archäologie in Birmingham <strong>und</strong><br />
Cambridge. Von 1987 bis 1995 lehrte er<br />
als Historiker <strong>und</strong> Archäologe an der Universität<br />
in Chicago, bevor er an die kalifornische<br />
Universität von Stanford<br />
wechselte, wo er heute noch tätig ist. Von<br />
2000 bis 2006 fanden unter seiner Leitung<br />
umfangreiche Ausgrabungen auf<br />
dem Monte Polizzo auf Sizilien statt. Eine<br />
lange Liste von Fach- <strong>und</strong> Sachbüchern<br />
zeugt von seiner regen Publikationstätigkeit.<br />
Zurzeit schreibt Ian Morris an einem<br />
Buch zum Thema Krieg.<br />
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
britischer Manier unakademisch, mit<br />
trockenem Humor, bisweilen geschwätzig<br />
<strong>und</strong> etwas gar salopp. Aber die leichte<br />
Feder ist wohl nötig, um seine Leserschaft<br />
beim Gang durch die ausufernde<br />
Menschheitsgeschichte bei der Stange<br />
zu halten.<br />
«Wer regiert die Welt?», fragt ganz<br />
harmlos Ian Morris, der in den USA<br />
lehrt, im Titel der deutschen Fassung<br />
seines Buches. Auf Englisch hat «Why<br />
the West Rules – For Now» einen ganz<br />
anderen Beigeschmack. Er geht davon<br />
aus, <strong>das</strong>s heute der Westen regiert <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong> morgen vielleicht nicht mehr<br />
der Fall sein könnte. Und natürlich<br />
schwingt im Hintergr<strong>und</strong> die Sorge mit,<br />
<strong>das</strong>s der Westen vom Osten, von China,<br />
abgelöst wird. Diese Sorge treibt heute<br />
bekanntlich viele um. Um es vorweg zu<br />
nehmen: Ian Morris teilt diese Sorge<br />
nicht. Den Gegensatz Ost <strong>und</strong> West<br />
werde es in Zukunft nicht mehr geben;<br />
nur eine einzige, globalisierte Welt habe<br />
dann eine Chance zu überleben. Problematisch<br />
ist allerdings seine Definition<br />
von Ost (ohne Indien) <strong>und</strong> West (bis<br />
<strong>und</strong> mit Iran).<br />
Die Geografie entscheidet<br />
Die Frage, warum heute der Westen die<br />
Welt regiert, ist alt. Morris nennt zwei<br />
traditionelle Theorien: Die des langfristigen<br />
Determinismus, der auf der angeblichen<br />
kulturellen Überlegenheit der<br />
alten Griechen fusst; <strong>und</strong> die des Zufalls.<br />
Morris hat eine neue Theorie: Sie beruht<br />
auf der gesellschaftlichen Entwicklung,<br />
die ihrerseits aus dem Zusammenspiel<br />
von Biologie, Soziologie <strong>und</strong> Geografie<br />
entsteht. Besonders letztere hat<br />
es ihm angetan: «Geografische Unterschiede<br />
haben langfristige Auswirkungen,<br />
die aber niemals festgeschrieben<br />
sind, <strong>und</strong> was in einer Phase der gesell<br />
schaftlichen Entwicklung als geografischer<br />
Vorteil gilt, kann zu einem anderen<br />
Zeitpunkt ohne jede Bedeutung<br />
sein.» Als Beispiel nennt er die Entdeckung<br />
Amerikas: Für die Menschen am<br />
Rand des europäischen Kontinents war<br />
es einfacher, den Atlantik zu überqueren<br />
als für die Chinesen, die weiter davon<br />
entfernt waren. Dass Chinesen schon im<br />
15. Jahrh<strong>und</strong>ert bis nach Amerika gesegelt<br />
sein sollen, ist laut Morris übrigens<br />
barer Unsinn.<br />
Warum also der Westen heute die<br />
Welt regiert, liegt an seiner geografischen<br />
Lage. Um seine Theorie zu demonstrieren,<br />
greift Morris tief in die<br />
Kiste der Geschichte, beginnt sozusagen<br />
bei Adam <strong>und</strong> Eva. «Wir müssen die<br />
Menschheit im Ganzen betrachten»,<br />
von Anfang an <strong>und</strong> nicht nur die letzten<br />
– beispielsweise – 200 Jahre. Und die<br />
Betrachtung müsse alle Aspekte der<br />
Geschichte umfassen, nicht nur die der<br />
Wirtschaft oder der Evolution oder des<br />
Klimas. Als Vertreter der Archäologie,<br />
die heute nur noch interdisziplinär arbeite,<br />
sei er quasi prädestiniert, die wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse einer ganzen<br />
Reihe von Fachgebieten zu vereinen<br />
<strong>und</strong> zu interpretieren.<br />
So durchwandert Morris in Windeseile<br />
die Jahrtausende: von der letzten<br />
Eiszeit über die neolithische Revolution<br />
zu den verschiedenen Imperien bis in<br />
die Gegenwart. Wir lernen H<strong>und</strong>erte<br />
von Persönlichkeiten kennen, aber kaum<br />
haben wir uns ihre Namen eingeprägt,<br />
geht es schon weiter: Der Perserkönig<br />
Dareios galoppiert vorüber, der karthagische<br />
Feldherr Hannibal dirigiert seine<br />
Elefanten über die Alpen, der chinesische<br />
Kaiser Qin Shihuangdi baut die<br />
Grosse Mauer, die Seefahrer Francis<br />
Drake <strong>und</strong> Zheng He stechen in See,<br />
Konfuzius <strong>und</strong> Mohammed predigen –<br />
China breitet sich aus:<br />
Holzverarbeitungs-<br />
anlage in Pointe-<br />
Noire, Republik<br />
Kongo, in<br />
chinesischem Besitz<br />
(2007).
<strong>und</strong> wir haben trotz flottem Stil den<br />
Faden fast verloren.<br />
Unterwegs vergleicht Morris stets die<br />
gesellschaftliche Entwicklung in Ost<br />
<strong>und</strong> West mit Hilfe eines von ihm kreierten<br />
Index. Diesen berechnet er aus vier<br />
Merkmalen: Energieausbeute, Grad der<br />
Verstädterung, Nachrichtenwesen <strong>und</strong><br />
die Fähigkeit, Krieg zu führen. Im Anhang<br />
werden die Punktlisten aufgeführt<br />
<strong>und</strong> erklärt. So erreicht beispielsweise<br />
<strong>das</strong> Merkmal Energieausbeute um <strong>das</strong><br />
Jahr 1900 für den Osten die Punktzahl<br />
49, für den Westen liegt sie fast doppelt<br />
so hoch bei 92. Anderes Beispiel: Die<br />
Kriegsführungskapazitäten zeigen für<br />
<strong>das</strong> Jahr 2000 im Westen den Stand von<br />
250 Punkten, während sie im Osten nur<br />
12 Punkte erreichen. Das alles ist nicht<br />
einfach nachzuvollziehen. Die einen<br />
werden diese Indexierung sowieso als<br />
eine Vereinfachung der komplexen Kulturentwicklung<br />
verurteilen, aber sie<br />
macht es doch möglich, Unvergleichbares<br />
irgendwie zu vergleichen.<br />
Der Vergleich der Indices zeigen,<br />
<strong>das</strong>s der Osten dem Westen immer r<strong>und</strong><br />
2000 Jahre hinterherhinkte. In 15 Jahrtausenden<br />
hatte der Osten nur gerade<br />
etwa 1000 Jahre, nämlich von etwa 550<br />
bis 1750, die Nase vorn. Dann aber wurde<br />
der Atlantik die wichtigste Verbindung<br />
zwischen Europa <strong>und</strong> Amerika. Die Industrialisierung<br />
setzte ein. Es entstanden<br />
neue Weltreiche <strong>und</strong> Wirtschaftssysteme,<br />
auf denen die heutige Vorherrschaft<br />
des Westens beruht.<br />
Anregend, weil provozierend<br />
Was die Zukunft betrifft, so extrapoliert<br />
Morris seine Indexkurve bis ins Jahr<br />
2100; rechnerisch wird der Osten den<br />
Westen exakt im Jahr 2103 überholen.<br />
Auf dem F<strong>und</strong>ament der Geschichte <strong>und</strong><br />
ihrer Gesetzmässigkeiten prognostiziert<br />
Morris zwar einen Wechsel von Macht<br />
<strong>und</strong> Wohlstand nach Osten. Aber: Die<br />
Gattung Mensch wird sich verändern.<br />
Und einer robotergesteuerten Gesellschaft<br />
wird der Gegensatz Ost-West völ-<br />
lig gleichgültig sein. Alle Traditionen<br />
werden «zu einer einzigen posthumanen<br />
Weltzivilisation» verschmelzen. Bis<br />
dahin wird es Aufgabe globaler Institutionen<br />
sein, den Atomkrieg zu verhindern,<br />
<strong>das</strong> Klima in den Griff zu bekommen,<br />
neue Energiequellen zu schaffen,<br />
die Weltbevölkerung zu ernähren. Und<br />
sollte ihnen <strong>das</strong> nicht gelingen, so laufen<br />
wir «auf ein finsteres Ende hinaus»: Es<br />
erwartet uns dann keine posthumane Zivilisation,<br />
sondern «die Schwärze der<br />
Weltendämmerung».<br />
Morris spekulative Interpretation der<br />
Vergangenheit <strong>und</strong> seine Prognosen bieten<br />
jede Menge Angriffsflächen, auf die<br />
sich die Spezialisten stürzen werden.<br />
Den Anfang bildet seine Definition von<br />
Ost <strong>und</strong> West, <strong>und</strong> selbstverständlich<br />
wird jeder Historiker eine Indexierung<br />
lächerlich finden, die vor allem für die<br />
prähistorischen Epochen meist mit der<br />
Stange im Nebel herumrührt. Aber sein<br />
Buch bleibt dennoch ein grosser Wurf –<br />
lesenswert, anregend, provozierend. ●<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17<br />
PAOLO WOODS / ANZENBERGER
Sachbuch<br />
Menschenrechte Das Leben des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo<br />
Kampf für die Demokratie in China<br />
Bei Ling: Der Freiheit geopfert. Die<br />
Biografie des Friedensnobelpreisträgers<br />
Liu Xiaobo. Riva, München 2010.<br />
364 Seiten, Fr. 30.50.<br />
Von Harro von Senger<br />
Über Konfuzius, der vergebens jahrelang<br />
im Reich der Mitte umherreiste, um<br />
von einem Herrscher in Dienst genommen<br />
zu werden, spöttelte man: «Er<br />
weiss, <strong>das</strong>s es nicht geht, <strong>und</strong> trotzdem<br />
tut er es.» Daran denkt man unwillkürlich<br />
angesichts des Lebens des Doktors<br />
der Literaturwissenschaften Liu Xiaobo,<br />
ungeschminkt <strong>und</strong> glaubwürdig geschildert<br />
von seinem Fre<strong>und</strong> Bei Ling. Zwar<br />
hat Liu Xiaobo Konfuzius in den 1980er<br />
Jahren in Bausch <strong>und</strong> Bogen verdammt.<br />
Aber wie dieser tritt Liu Xiaobo seit vielen<br />
Jahren unbeirrt für seine Ideale ein.<br />
Es sind dies Freiheit, Demokratie <strong>und</strong><br />
Menschenrechte – im westlich-liberalen<br />
Sinne. Da er sich deswegen immer wieder<br />
mit der Kommunistischen Partei<br />
Chinas anlegte, nannte ihn seine zweite<br />
Frau Liu Xia «Dummkopf», ja liebevollscherzhaft<br />
gar «schwachsinnig».<br />
Als Elfjähriger erlebte Liu Xiaobo<br />
1966 den Ausbruch der «Kulturrevolution».<br />
Zwar distanzierte er sich später<br />
voller Scham <strong>und</strong> Reue von seinen damals<br />
verübten Grausamkeiten. Doch<br />
blieben die «Kulturrevolution» <strong>und</strong> der<br />
damals propagierte Mao-Ausspruch<br />
«Rebellion ist gerechtfertigt» nicht<br />
ohne Einfluss auf ihn, gerade bei seiner<br />
Entwicklung zum Andersdenkenden.<br />
1984 heiratete er <strong>das</strong> erste Mal, aber<br />
Treue war keine seiner Tugenden, nicht<br />
einmal im Frühjahr 1989 auf dem Platz<br />
des Himmlischen Friedens. Dort organi-<br />
Daniel Domscheit-Berg: Inside WikiLeaks.<br />
Meine Zeit bei der gefährlichsten<br />
Website der Welt. Econ, Berlin 2011.<br />
303 Seiten, Fr. 29.90.<br />
Von Michael Furger<br />
«Interessiert an einem Job?». Die Frage<br />
veränderte <strong>das</strong> Leben von Daniel Domscheit-Berg.<br />
Sie kam von Wikileaks-<br />
Gründer Julian Assange in einem Internet-Chat.<br />
Der deutsche Informatiker,<br />
auf der Suche nach Abenteuer, sagte Ja.<br />
Heute ist er den Job wieder los. Dazwischen<br />
liegen drei Jahre im Auge<br />
eines Hurrikans. Domscheit-Berg wurde<br />
neben Assange zum zweiten wichtigen<br />
Mann von Wikileaks <strong>und</strong> war etwa mitverantwortlich<br />
für die aufsehenerregenden<br />
Enthüllungen aus dem Irak- <strong>und</strong><br />
dem Afghanistankrieg. Mit «Inside Wikileaks»<br />
enthüllt er nun die Enthüller.<br />
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
sierte er einen Hungerstreik, aber in der<br />
Nacht des 4. Juni half er, den friedlichen<br />
Abzug der Studenten vom Platz zu organisieren.<br />
Dies wurde ihm offiziell als<br />
Verdienst angerechnet.<br />
Scharf geht Liu Xiaobo mit den Anführern<br />
der Studentenbewegung von<br />
1989 <strong>und</strong> mit chinesischen Intellektuellen<br />
ins Gericht. «Die studentischen Führer,<br />
die sich als Kämpfer für Demokratie<br />
<strong>und</strong> als Helden fühlen, <strong>und</strong> die chinesischen<br />
Intellektuellen im Widerstand<br />
kennen Demokratie nur aus Lehrbü-<br />
Demonstration für Liu Xiaobo im Juni 2009 in Hongkong.<br />
Internet Wikileaks-Mitgründer Domscheit-Berg rechnet mit Julian Assange ab<br />
Im Auge des Hurrikans<br />
Es ist die Geschichte einer kleinen<br />
Gruppe von Anarchisten, die mit erstaunlich<br />
simplen Mitteln <strong>und</strong> wenig<br />
Skrupel zu Werk gingen. Über die meiste<br />
Zeit betrieben Assange <strong>und</strong> Domscheit-Berg<br />
die Webseite zu zweit, unterstützt<br />
nur von ein bis zwei Technikern.<br />
Ihnen gegenüber standen Juristenteams<br />
von Banken oder die Task Force<br />
der amerikanischen Regierung. Um zu<br />
verhüllen, wie klein <strong>und</strong> verletzlich Wikileaks<br />
war, täuschte die Gruppe vor, sie<br />
habe H<strong>und</strong>erte von Mitarbeitern <strong>und</strong> Juristen<br />
im Rücken. «Hätte die gegnerische<br />
Seite gewusst, <strong>das</strong>s wir nur zwei<br />
extrem grossmäulige junge Männer mit<br />
einer einzigen Uralt-Maschine waren,<br />
hätte sie eine Chance gehabt, den Aufstieg<br />
von Wikileaks zu stoppen.»<br />
Das Buch ist süffig geschrieben – zum<br />
Teil etwas geschwätzig – <strong>und</strong> folgt dem<br />
Credo von Wikileaks. Es enthält vertrauliches<br />
Material; interne Chatproto-<br />
KING CHEUNG / AP<br />
chern. Sie haben keine Ahnung von<br />
deren Umsetzung in die Wirklichkeit.»<br />
Selbstkritisch scheinen diese Äusserungen<br />
nicht gemeint zu sein.<br />
Weder Liu Xiaobo noch Bei Ling<br />
scheinen über juristische Kenntnisse zu<br />
verfügen. Davon zeugen Formulierungen<br />
wie: «Nur weil man etwas gesagt<br />
hat, wird man verurteilt. Das entspricht<br />
nicht dem Gesetz über Menschenrechte,<br />
<strong>das</strong> in die chinesische Verfassung aufgenommen<br />
wurde.» Leider erfährt man<br />
nichts über den offenbar unveröffentlichten<br />
chinesischen Urtext <strong>und</strong> über<br />
die Übersetzer. Immer wieder überraschen<br />
Aussagen wie jene über die an der<br />
tschechoslowakischen Charta 77 orientierte<br />
Charta 08, die zusammen mit anderen<br />
Veröffentlichungen Liu Xiaobo elf<br />
Jahre Gefängnis einbrachte: «Zum Zeitpunkt<br />
des Erscheinens der ‹Charta 08›<br />
war die gesellschaftliche Entwicklung in<br />
China viel weiter vorangeschritten als<br />
damals in der Tschechoslowakei. Es<br />
herrschte zwar Unzufriedenheit, von<br />
einer gesellschaftlichen Krise konnte jedoch<br />
keine Rede sein. (…) Es gab in der<br />
Masse der Bevölkerung keine Motivation<br />
zu einem Systemwechsel. Es ging den<br />
Leuten schliesslich einigermassen gut.»<br />
An mehreren zum Teil widersprüchlichen<br />
Wiederholungen spürt man die<br />
Hast, mit der <strong>das</strong> Buch über den im<br />
Dezember 2010 mit dem Friedensnobelpreis<br />
ausgezeichneten chinesischen Dissidenten<br />
auf den Markt geworfen wurde.<br />
Insgesamt ist Bei Ling aber ein wissensmehrendes<br />
Werk über einen im Westen<br />
gefeierten, in der Volksrepublik China<br />
aber offiziell verfemten Zeitgenossen<br />
gelungen. ●<br />
Harro von Senger ist Professor für<br />
Sinologie an der Universität Freiburg i. Br.<br />
kolle, die dokumentieren, wie die Gruppe<br />
arbeitete <strong>und</strong> wie die Berühmtheit<br />
sie schliesslich zerstörte. Die Beziehung<br />
zwischen Assange <strong>und</strong> Domscheit-Berg<br />
ist der rote Faden. Anfangs war es die<br />
enge Fre<strong>und</strong>schaft von zwei, die in finsteren<br />
Wohnungen Tag <strong>und</strong> Nacht wie<br />
berauscht vor dem Computer sassen,<br />
um den Mächtigen <strong>das</strong> Fürchten zu lehren.<br />
Die in einem Mietauto durch Europa<br />
fuhren, um an geheimen Orten Server<br />
zu installieren. Am Ende blieb nur noch<br />
Hass. Julian Assange wird von Daniel<br />
Domscheit-Berg als zwar genialer Denker,<br />
aber auch als machtversessener<br />
Egomane beschrieben, chaotisch <strong>und</strong><br />
unfähig mit der öffentlichen Aufmerksamkeit<br />
umzugehen.<br />
Im September 2010 verliessen Domscheit-Berg<br />
<strong>und</strong> weitere Mitglieder Wikileaks<br />
im Streit. Das Buch ist, obwohl<br />
der Autor <strong>das</strong> bestreitet, auch eine Abrechnung<br />
mit Assange. ●
Kontroverse Vor 50 Jahren stand in Jerusalem der Nazi-Massenmörder Adolf Eichmann vor Gericht.<br />
Die Philosophin löste mit ihrem Prozessbericht eine erregte Diskussion aus<br />
Das Lachen der Hannah Arendt<br />
Hanna Arendt, Joachim Fest: Eichmann<br />
war von empörender Dummheit.<br />
Gespräche <strong>und</strong> Briefe. Hrsg. Ursula<br />
Ludz, Thomas Wild. Piper,<br />
München 2011. 206 Seiten, Fr. 25.90.<br />
Marie Louise Knott: Verlernen. Denkwege<br />
bei Hanna Arendt. Matthes & Seitz,<br />
Berlin 2011. 151 Seiten, Fr. 30.50.<br />
Von Kathrin Meier-Rust<br />
Hanna Arendt war eine ausgesprochen<br />
humor- <strong>und</strong> gedankenvolle Briefeschreiberin.<br />
Dass nach den grossartigen Briefwechseln<br />
mit ihrem Mann Heinrich Blücher,<br />
mit befre<strong>und</strong>eten Schriftstellern<br />
(Mary McCarthy, Hermann Broch, Uwe<br />
Johnson) <strong>und</strong> mit dem jüdischen Gelehrten<br />
Gershom Scholem nun auch ein<br />
solcher mit dem damals jungen deutschen<br />
Historiker <strong>und</strong> späteren Hitler-<br />
Biografen Joachim Fest angekündigt<br />
wurde, liess Vorfreude aufkommen.<br />
Gemessen an solchen Erwartungen<br />
muss <strong>das</strong> nun vorliegende schmale Buch<br />
enttäuschen: Es sind nur 17 Briefe, in den<br />
meisten geht es um Fre<strong>und</strong>lichkeiten<br />
<strong>und</strong> Organisatorisches. Nur zweimal<br />
kommt es zu einer inhaltlichen Diskussion:<br />
1964 zur Vorbereitung eines Radiogesprächs<br />
zur deutschen Ausgabe von<br />
Arendts Eichmann-Buch, dann noch<br />
einmal 1970, als die von Fest beförderten<br />
Memoiren des Nazi-Architekten Albert<br />
Speer zu einem Gedankenaustausch<br />
über <strong>das</strong> «Rätsel Speer» führen. Auch<br />
die im Buchtitel angekündigten «Gespräche»<br />
in der Mehrzahl erweisen sich<br />
im Buch als ein einziges: <strong>das</strong> erwähnte<br />
Radiogespräch vom Herbst 1964.<br />
Arendts berühmtes Diktum<br />
Dieses allerdings hat es in sich. Schon<br />
weil es neben dem berühmten Fernsehinterview<br />
mit Günter Gaus von 1964<br />
eine weitere Gelegenheit bietet, Hanna<br />
Arendt beim Sprechen zuzuhören –<br />
nicht akustisch zwar, doch unverkennbar<br />
authentisch auch als Text. Vor allem<br />
aber weil es ihre Gedanken <strong>und</strong> Erkenntnisse<br />
zum Eichmann-Prozess in<br />
Kurzform <strong>und</strong> doch in ganzer, damals so<br />
sehr Anstoss erregenden Radikalität<br />
wiedergibt. Worum ging es Arendt wirklich<br />
mit ihrem berühmten Diktum von<br />
der «Banalität des Bösen», der sich für<br />
immer mit ihrem Namen verband?<br />
Arendt versteht den Schock, den die<br />
Formel damals auslöste, gerade deshalb<br />
so gut, weil sie ihn selbst erlebt hatte.<br />
Als die Zeitschrift «New Yorker» der jüdischen<br />
Emigrantin Arendt vorschlug,<br />
über den Eichmann-Prozess in Jerusalem<br />
zu berichten – er begann vor genau<br />
50 Jahren, im April 1961 – war sie hocherfreut:<br />
Hier bot sich ihr eine Chance,<br />
jenen dämonischen Nazi-Täter leibhaftig<br />
zu erleben, der als Leiter des «Judenreferats»<br />
im Reichssicherheitshauptamt<br />
die Deportation von Millionen Men-<br />
Adolf Eichmann am<br />
11. April 1961 während<br />
seines Prozesses<br />
in Jerusalem, über<br />
den Hanna Arendt<br />
berichtete.<br />
schen in die Vernichtungslager organisiert<br />
hatte.<br />
Doch der Massenmörder im Glaskäfig<br />
von Jerusalem erwies sich nicht als<br />
dämonisches Monster, sondern als lächerlich-trauriger<br />
«Hanswurst», der mit<br />
Klischees um sich warf. Nun habe die<br />
westliche Tradition <strong>das</strong> Böse immer als<br />
dämonisch begriffen, erklärt Arendt,<br />
denn «wenn man dämonisiert, macht<br />
man sich nicht nur interessant, sondern<br />
man schreibt sich heimlich auch bereits<br />
eine Tiefe zu, die die anderen eben nicht<br />
haben.» Bei Eichmann jedoch gab es keinerlei<br />
Tiefe. Neben der Lust am reinen<br />
Funktionieren zeigte er vor allem den<br />
penetranten Unwillen, «sich je vorzustellen,<br />
was eigentlich mit dem anderen<br />
ist». «Wo kämen wir hin, wenn sich<br />
jeder Gedanken machen würde», verteidigte<br />
sich Eichmann. Diese besondere<br />
Art von «empörender Dummheit»<br />
meinte <strong>das</strong> Wort von der Banalität, ein<br />
Wort, <strong>das</strong> keineswegs verharmlosend<br />
gemeint war, wie viele fälschlicherweise<br />
meinten, sondern <strong>das</strong> im Gegenteil ein<br />
Phänomen bezeichnete, <strong>das</strong> Arendt für<br />
besonders beunruhigend hielt.<br />
Das Gespräch ist <strong>das</strong> Herzstück dieses<br />
Buches. Zusammen mit einer klugen<br />
Einführung der Herausgeber <strong>und</strong> einigen<br />
zentralen Stellungnahmen aus der<br />
Eichmann-Kontroverse – dem sie auslösenden<br />
Protest des Council of Jews<br />
from Germany etwa oder der gereiztboshaften<br />
Kritik von Golo Mann, der<br />
Arendt Originalitätssucht <strong>und</strong> Arroganz<br />
vorwirft – bietet es einen ausgezeich-<br />
neten Einblick in die Diskussion um<br />
Arendts Eichmann-Bericht, der damals<br />
die jüdische ebenso wie die nicht-<br />
jüdische westliche Welt erregt hat.<br />
Für Arendt selbst markierte die Eichmann-Erfahrung<br />
einen Wendepunkt.<br />
Dass «schiere Gedankenlosigkeit» einen<br />
kleinen Durchschnittsmenschen zu<br />
einem der grössten Verbrecher seiner<br />
Zeit gemacht hatte, führt sie zur gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />
Beschäftigung mit der Tätigkeit<br />
des Denkens überhaupt, die dann in<br />
ihr philosophisches Hauptwerk «Vom<br />
Leben des Geistes» münden sollte.<br />
Hohl, absurd, lächerlich<br />
Um derartige «Denkwege» Hanna<br />
Arendts geht es Marie Louise Knott in<br />
ihren ebenso anspruchsvollen wie subtilen<br />
Essays, die sie unter den Titel «Verlernen»<br />
stellt, weil es der Philosophin<br />
immer wieder auch um den Bruch mit<br />
der Sprach- <strong>und</strong> Denktradition geht.<br />
Knotts Essay zum Lachen bei Hanna<br />
Arendt knüpft wiederum an den Eichmann-Prozess<br />
an. «Ich weiss nicht wie<br />
oft ich gelacht habe; aber laut!» hatte<br />
Arendt nach der Lektüre von 3000 Seiten<br />
Verhörprotokoll erzählt: so hohl, so<br />
absurd, so lächerlich eben, erschienen<br />
ihr die mit heiligem Ernst vorgetragenen<br />
Platitüden des Angeklagten. Gerade<br />
deshalb sucht sie ihm mit Ironie beizukommen<br />
<strong>und</strong> verabscheut jedes Pathos,<br />
selbst jenes um die Opfer. Pathetisch<br />
nämlich dürfe man über die Katastrophe<br />
des Holocaust nie reden, «weil man sie<br />
dadurch verharmlost.» ●<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19<br />
CINETEXT
Sachbuch<br />
Musikgeschichte Zum 100. Todestag des Komponisten Gustav Mahler werden zwei lesenswerte<br />
Publikationen neu aufgelegt<br />
Mit abgebissenen Fingernägeln<br />
Gilbert Kaplan (Hrsg.): Das Mahler Album.<br />
Christian Brandstätter, Wien 2011.<br />
335 Seiten, Fr. 56.90.<br />
Kurt Blaukopf: Gustav Mahler oder Der<br />
Zeitgenosse der Zukunft. Braumüller,<br />
Wien 2011. 432 Seiten, Fr. 34.90.<br />
Von Corinne Holtz<br />
Der österreichische Komponist <strong>und</strong> Dirigent<br />
Gustav Mahler (1860–1911) ist spätestens<br />
seit Luchino Viscontis Film «Der<br />
Tod in Venedig» (1971) auch einem breiteren<br />
Publikum bekannt. Das Adagietto<br />
aus Mahlers Fünfter Sinfonie, <strong>das</strong> den<br />
So<strong>und</strong>track des Klassikers prägte, trat<br />
damals den Siegeszug in die Charts an.<br />
Die Rezeption von Mahlers Musik<br />
<strong>und</strong> seinem Hauptwerk (den zehn Sinfonien)<br />
ist faszinierend unterschiedlich:<br />
Während ihm einerseits Formlosigkeit,<br />
Gebrochenheit <strong>und</strong> Uneigentlichkeit<br />
(sprich «Kitsch») vorgeworfen wird, attestiert<br />
man ihm anderseits Modernität.<br />
Er montierte zum Beispiel Märsche <strong>und</strong><br />
Ländler in sinfonische Abläufe <strong>und</strong> entwickelte<br />
mit der Placierung von Fernorchestern<br />
einen zukunftsweisenden<br />
Raumklang. Für den Buchmarkt ist Mahlers<br />
Popularität ein Glücksfall <strong>und</strong> sein<br />
100. Todestag im Mai 2011 ein Anlass, die<br />
Aufmerksamkeit erneut zu nutzen. Eine<br />
Monografie <strong>und</strong> ein Fotoalbum sind neu<br />
herausgekommen.<br />
Angst vor dem Bild<br />
Wie macht sich Mahler vor der Kamera?<br />
Das «Mahler-Album» von Gilbert Kaplan<br />
(in zweiter überarbeiteter Fassung)<br />
liefert Antworten, ist es doch die definitive<br />
ikonografische Sammlung der überlieferten<br />
Fotografien. Mahler stand dem<br />
Bild kritisch gegenüber <strong>und</strong> hielt es mit<br />
Wagners Opern ähnlich wie Anton<br />
Bruckner: Musik braucht keine Bebilderung,<br />
<strong>das</strong> Hören beziehungsweise Lesen<br />
der Partitur ist Klang genug. Das könnte<br />
auch für ihn selbst gegolten haben: Mahler<br />
lässt sich offensichtlich ungern in<br />
Szene setzen. Auf keiner der Fotografien<br />
ein entspanntes Lachen – vielmehr<br />
spricht Ernst <strong>und</strong> Skepsis aus seinen<br />
Zügen. Als er vier oder fünf Jahre alt ist,<br />
setzt ein Fotograf den schüchternen<br />
Knaben ins Bild. Die linke Hand liegt auf<br />
einem Notenblatt, <strong>das</strong> fast halb so gross<br />
ist wie er, in der rechten Hand hält er<br />
einen Hut, was ihm einen Hauch des Erwachsenseins<br />
verleihen soll.<br />
Mahler hat überliefert, unter welch<br />
schmerzensreichen Bedingungen diese<br />
Fotografie entstanden ist: Er war überzeugt<br />
davon, <strong>das</strong>s ihn die Kamera einsaugen<br />
<strong>und</strong> dann für immer auf ein<br />
Stück schwarzen Pappkarton verbannen<br />
würde. Erst nachdem der Fotograf sich<br />
selbst abgelichtet <strong>und</strong> damit den Beweis<br />
erbracht hatte, <strong>das</strong>s die Kamera unge-<br />
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
Der kleine Gustav<br />
Mahler posiert als<br />
Fünfjähriger 1865 mit<br />
einem Notenblatt.<br />
fährlich ist, willigte der kleine Gustav<br />
ein. Die Skepsis ist geblieben, zum Beispiel<br />
1905, als Mahler im Garten der<br />
Villa des Malers Carl Moll mit illustren<br />
Kollegen zu Tisch gesessen ist. Während<br />
der Regisseur Max Reinhardt <strong>und</strong><br />
der Komponist Hans Pfitzner genüsslich<br />
an ihren Zigarren ziehen <strong>und</strong> der<br />
Hausherr an einem Glas Wein nippt,<br />
steht Mahler abseits.<br />
Den sprechenden Bildern ist der berühmte<br />
Essay des Bühnenbildners Alfred<br />
Roller vorangestellt, der nach Mahlers<br />
Tod im Auftrag von dessen Frau<br />
Alma Mahler ein kleines Buch mit Fotografien<br />
<strong>und</strong> Zeichnungen herausgebracht<br />
hat. Der Arbeitskollege an der<br />
Wiener Hofoper ist ein ausgezeichneter<br />
Beobachter <strong>und</strong> Stilist, <strong>und</strong> sein Essay<br />
gehört zum Besten, was über den Menschen<br />
Gustav Mahler geschrieben worden<br />
ist. «Ich konnte diesen prachtvoll<br />
modellierten, braungebrannten Rücken<br />
nie ansehen, ohne an ein fites Rennpferd<br />
erinnert zu werden. Seine Hand war<br />
eine rechte Arbeiterhand, kurz <strong>und</strong><br />
breit, <strong>und</strong> die Finger ohne Verjüngung<br />
wie abgehackt endigend. Die Fingernägel<br />
– es muss leider gesagt werden –<br />
ÖSTERREICHISCHES THEATERMUSEUM / IMAGNO<br />
waren meist kurz abgebissen, oft bis<br />
aufs Blut.»<br />
Ähnlich ungeschminkt geht es in der<br />
wiederaufgelegten Biografie des Musiksoziologen<br />
Kurt Blaukopf zu, dem die<br />
Nachwelt die erste populärwissenschaftliche<br />
Mahler-Biografie von Rang<br />
verdankt. Der Autor erlag nicht der Versuchung,<br />
die zwischen Apologie <strong>und</strong> Polemik<br />
gespaltene Rezeption zu glätten.<br />
Vielmehr nahm er die damals noch<br />
kaum erschlossenen Quellen zum Anlass,<br />
1969 höchst anschaulich über<br />
Leben <strong>und</strong> Werk zu schreiben – so etwa<br />
über eines der frühen Engagements. Olmütz,<br />
im Winter 1883: Ein junger Kapellmeister<br />
reist aus Wien an, um <strong>das</strong><br />
Theater der mährischen Stadt aus der<br />
Krise zu führen.<br />
Couragierte Pionierleistung<br />
Abends findet man ihn im Gasthaus – er<br />
trinkt nur Wasser <strong>und</strong> isst vege tarisch.<br />
Kein W<strong>und</strong>er, <strong>das</strong>s der der Lebensreform<br />
zugeneigte «Nervenmensch» als närrischer<br />
Sonderling gilt. Allmählich gewöhnt<br />
man sich an die Eigenheiten des<br />
Dirigenten, der statt Mozart <strong>und</strong> Wagner<br />
«herunterzutaktieren» angeblich<br />
Bedeutungsloseres von Meyerbeer <strong>und</strong><br />
Verdi aufführt. Seine direkte «Art zu<br />
fordern, zu befehlen, war eine so dezidierte,<br />
<strong>das</strong>s es niemand wagte, ihm zu<br />
widersprechen», überlieferte ein Sänger,<br />
dem die Kunst am Herzen lag.<br />
Kurt Blaukopf war neben Lothar<br />
Knessl der einzige Musikpublizist in<br />
ganz Österreich, der nach 1945 gegen die<br />
anti semitisch geprägte Mahler-Rezeption<br />
(insbesondere auch des sehr einflussreichen<br />
Musikwissenschafters <strong>und</strong><br />
Ordinarius Erich Schenk) angetreten<br />
war <strong>und</strong> den Komponisten auf hohem<br />
Niveau verteidigte.<br />
Blaukopf schrieb den Gegenentwurf<br />
zu Adornos dialektischer Mahler-Monografie,<br />
indem er Leben <strong>und</strong> Werk positivistisch<br />
deutete. Ausserdem richtete<br />
er sich an ein breites Musikpublikum,<br />
<strong>das</strong> den schon vor dem Nationalsozialismus<br />
diffamierten Komponisten kaum<br />
kennen konnte.<br />
Blaukopfs Biografie gilt neben Adornos<br />
Monografie zu Recht als Standardwerk.<br />
Die Lektüre ist über weite Strecken<br />
erfrischend, auch wenn der Autor<br />
gelegentlich Kriegsmetaphern bemüht<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> Thema Mahler <strong>und</strong> die Frauen<br />
heutigen Ansprüchen nicht genügt. Hingegen<br />
verzichtet er auf die Rolle des Hagiografen<br />
<strong>und</strong> bleibt bei aller Liebe zum<br />
Gegenstand der kritische Autor, der sich<br />
als Interpret seiner Quellen offenbart.<br />
So kommt Blaukopf etwa zum Schluss,<br />
<strong>das</strong>s sich Mahlers «Doppelcharakter»<br />
schon früh ausgeprägt hat <strong>und</strong> der verinnerlichte<br />
«Träumer» immer dann zum<br />
nüchternen «Taktiker» wurde, wenn es<br />
um die Kunst ging. ●
Nahrung Weltweit werden tonnenweise Lebensmittel<br />
vernichtet – Tristram Stuart hat die Fakten gesammelt<br />
Frische Mangos aus<br />
dem Müll<br />
Tristram Stuart: Für die Tonne. Wie wir<br />
unsere Lebensmittel verschwenden.<br />
Artemis & Winkler, Mannheim 2011.<br />
380 Seiten, Fr. 32.50.<br />
Von Sabine Sütterlin<br />
Das sei «eines dieser Bücher, die jeder<br />
gelesen haben sollte», schrieb die britische<br />
<strong>Zeitung</strong> «The Independent». Diesem<br />
Urteil kann man nur zustimmen.<br />
Denn jedem Konsumenten mit halbwegs<br />
klarem Verstand ist zwar klar, <strong>das</strong>s<br />
der Luxus stets gut gefüllter Regale im<br />
Supermarkt problematische Nebenerscheinungen<br />
hat. Aber die wenigsten<br />
dürften wissen, <strong>das</strong>s von den aufwendig<br />
produzierten <strong>und</strong> oft über Tausende von<br />
Kilometern eingeflogenen Nahrungsmitteln<br />
viel Nichtgekauftes oder Abgelaufenes<br />
im Müll landet. «Für die<br />
Tonne» dokumentiert <strong>das</strong> wahre Ausmass<br />
an Vergeudung – <strong>und</strong> <strong>das</strong> lässt niemanden<br />
kalt.<br />
Der britische Ökoaktivist Tristram<br />
Stuart hat schon als Schuljunge eigene<br />
Philosophie Eine neue Nietzsche-Biografie führt Leben <strong>und</strong> Werk überzeugend zusammen<br />
Erdrückt von den Frauen seiner Familie<br />
Sabine Appel: Friedrich Nietzsche.<br />
Wanderer <strong>und</strong> freier Geist. C. H. Beck,<br />
München 2011. 270 Seiten, Fr. 30.50.<br />
Von Manfred Koch<br />
Seine Haus-Frauen waren sein Schicksal.<br />
«Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu<br />
mir suche», schrieb Friedrich Nietzsche<br />
im Herbst 1888, «finde ich immer meine<br />
Mutter <strong>und</strong> meine Schwester, – mit solcher<br />
Canaille mich verwandt zu glauben,<br />
wäre eine Lästerung auf meine<br />
Göttlichkeit.»<br />
Vielleicht waren Nietzsches Masslosigkeiten<br />
ein Versuch, sich durch geistigen<br />
Extremismus von seiner erdrückend<br />
weiblichen Familie abzunabeln. Der<br />
Vater war gestorben, als er fünf Jahre alt<br />
war. Dass er an diese Mutter <strong>und</strong> diese<br />
Schwester geraten war, <strong>das</strong> konnte in<br />
seinen Augen nur, wie Sabine Appel in<br />
ihrer Nietzsche-Biografie kommentiert,<br />
ein «kosmischer Unfall» sein. Der Schaden<br />
war irreparabel, er entkam den beiden<br />
nie. Dem Basler Professor führte die<br />
Schwester den Haushalt; in den folgenden<br />
Wanderjahren kehrte der schmerzgeplagte<br />
Nietzsche wie zwanghaft regelmässig<br />
ins Elternhaus zurück. Nach dem<br />
Schweine mit Abfällen aus Küchen <strong>und</strong><br />
Läden gemästet. Als Student begann er<br />
aus den Kehrichtcontainern von Supermärkten<br />
<strong>und</strong> Schnellimbissen noch<br />
Geniessbares herauszufischen. Seither<br />
ernährt er so sich selbst <strong>und</strong> seine<br />
Fre<strong>und</strong>e, ohne sich je den Magen zu<br />
verderben. Reife Mangos oder frisches<br />
Brot, Milchprodukte, Fertiggerichte<br />
oder Luxus-Eiscreme mit abgelaufenem<br />
Mindesthaltbarkeitsdatum – es fehlt an<br />
nichts. Doch nicht nur Konsumenten<br />
<strong>und</strong> Handel entsorgen Essbares. Auch<br />
Hersteller vernichten wegen kleiner<br />
Schönheitsfehler oder schwankender<br />
Nachfrage palettenweise Produkte.<br />
Nicht einmal die Entwicklungsländer<br />
sind ausgenommen: Zwischen 10 <strong>und</strong><br />
40 Prozent der Ernten verschimmeln<br />
oder werden von Insekten gefressen,<br />
weil es an Infrastruktur für Transport<br />
<strong>und</strong> Lagerung fehlt.<br />
Für sein Buch hat Stuart akribisch<br />
Zahlen zusammengetragen <strong>und</strong> r<strong>und</strong> um<br />
den Globus recherchiert. Sein Fazit: Von<br />
dem tonnenweise Weggeworfenen<br />
könnten Hungrige satt werden. Sie<br />
Auch in New York<br />
ernähren sich<br />
Aktivisten aus dem<br />
Müll (18. März 2009).<br />
Zusammenbruch 1889 war er wieder <strong>das</strong><br />
unmündige Kind seiner Mutter, die ihm<br />
täglich die Speisereste aus dem Schnauz<br />
kämmte. Die deutschnationale Schwester,<br />
eine spätere Hitler-Verehrerin, übernahm<br />
die «Pflege» des Œuvres, <strong>das</strong> sie<br />
durch Unterdrückung unliebsamer Stellen<br />
<strong>und</strong> die Kompilation eines angeblichen<br />
Hauptwerks mit dem Titel «Der<br />
Wille zur Macht» konsequent fälschte.<br />
Die fatale Verstrickung des Philosophen<br />
in die familiäre «Höllenmaschine»<br />
ist einer der Leitfäden, an denen Sabine<br />
Appel ihre Lebensbeschreibung ausrichtet.<br />
Dabei erliegt sie an keiner Stelle<br />
der Gefahr des platten Psychologisierens.<br />
Nietzsches trostloses Verhältnis zu<br />
Frauen wird zurückhaltend lakonisch<br />
dargestellt: seine auszehrende Verehrung<br />
Cosima Wagners, seine Überrumpelungs-Heiratsanträge,<br />
zuerst an eine<br />
gewisse Mathilde Trampedach, dann an<br />
die berühmte Lou von Salomé; beide endeten<br />
unvermeidlich mit einer Abfuhr.<br />
Die misogynen Entgleisungen dieses<br />
Mannes, der nie eine erotisch erfüllte<br />
Liebesbeziehung erlebte, sich dafür aber<br />
vermutlich bei einem Bordellbesuch mit<br />
Syphilis infizierte, kommentiert Appel<br />
mit feiner Ironie. Ebenso gelassen zitiert<br />
sie die einschlägigen, schauderhaften<br />
könnten in den natürlichen Kreislauf zurückgeführt<br />
oder zu Bioenergie verarbeitet<br />
werden. Damit müssten weniger<br />
neue Anbauflächen erschlossen werden<br />
<strong>und</strong> obendrein würde sich unsere CO2-<br />
Bilanz verbessern.<br />
Allerdings ist «Für die Tonne» schwer<br />
verdauliche Lektüre: 380 eng beschriebene<br />
Seiten, eine schier unüberschaubare<br />
Fülle von Daten, ein mitunter eifernder<br />
Ton («wenn Sie keine Rinde mögen,<br />
essen Sie kein Brot»). Untypisch für<br />
einen Engländer, mangelt es Stuart an<br />
Selbstironie, mit der etwa Karen Duves<br />
Selbsterfahrungsbericht «Anständig<br />
essen» geschrieben ist. Schade. ●<br />
Stellen, in denen er <strong>das</strong> Aggressiv-<br />
Männliche, Kriegerische, Brutale preist.<br />
Nietzsches rhetorische Kraftmeierei<br />
hat, <strong>das</strong> zeigt Appel in der Entfaltung<br />
der ganzen Lebensgeschichte, bis zuletzt<br />
etwas vom Backenaufblasen eines<br />
ängstlichen, einsamen Kindes. «Liebe<br />
Fre<strong>und</strong>in», fragt er als über 40-Jähriger<br />
seine Gönnerin Malwida von Meysenbug,<br />
«giebt es denn nicht irgend einen<br />
Menschen auf der Welt, der mich liebt?»<br />
Auf weniger als 300 Seiten bietet Appels<br />
Biografie nicht nur einen souverän<br />
erzählten Überblick über Nietzsches<br />
Leben, sondern führt auch k<strong>und</strong>ig <strong>und</strong><br />
gut verständlich, anhand längerer Zitate,<br />
in seine Philosophie ein. Vor allem die<br />
Erläuterungen zur «Geburt der Tragödie»<br />
<strong>und</strong> zur Lehre der «ewigen Wiederkehr»<br />
im «Zarathustra» dürften vielen<br />
Lesern Lust auf <strong>das</strong> Original machen.<br />
Auffallend ihr schöner Sinn für <strong>das</strong> prägnante<br />
Detail: Nietzsches Mutter, berichtet<br />
sie am Anfang, rühmte sich einmal,<br />
aus einem einzigen Ei 1444 Plätzchen<br />
gebacken zu haben. Mehr braucht<br />
es eigentlich nicht, um jenes protestantische<br />
Pfarrhaus zu vergegenwärtigen,<br />
dem Friedrich Nietzsche, der unglückliche<br />
Überwinder des Christentums, ein<br />
Leben lang entrinnen wollte! ●<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21<br />
ERIC THAYER / REUTERS
Sachbuch<br />
Deutschland Die Publizistin Cora Stephan rechnet mit B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel ab.<br />
Eine Kritik aus bürgerlicher Sicht<br />
Eine Wählerin wendet sich ab<br />
Cora Stephan: Angela Merkel. Ein Irrtum.<br />
Knaus, München 2011. 224 Seiten,<br />
Fr. 26.90.<br />
Von Ina Boesch<br />
Beim Fall Guttenberg hat Angela Merkel<br />
erneut Führungsschwäche bewiesen:<br />
Trotz des massiven Protests der Wissenschafter<br />
hat sie dem Verteidigungsminister<br />
ihr Vertrauen ausgesprochen.<br />
Diese Aktualität konnte Cora Stephan<br />
nicht mehr in ihre polemische Streitschrift<br />
aufnehmen – es wird sie gewurmt<br />
haben. Der Fall illustriert bestens den<br />
Regierungsstil der einst unscheinbaren<br />
Naturwissenschafterin, die sich zur<br />
deutschen «Mutti» mauserte <strong>und</strong> nun<br />
anspruchslos vor sich hinregiere. Und<br />
Probleme sitze sie hartnäckiger aus als<br />
ihr Ziehvater Helmut Kohl.<br />
Cora Stephan ist, wie so viele, abgr<strong>und</strong>tief<br />
enttäuscht von der Kanzlerin,<br />
die in Zeiten der Krise kein Projekt<br />
habe, <strong>das</strong> die Deutschen beflügeln<br />
könne. Stephan hat Merkel gewählt, weil<br />
sie «anders» war: unbefangen, unbelastet,<br />
ungeübt, unprätentiös, uneitel, unabhängig.<br />
Es war <strong>das</strong> kleine Präfix «un»,<br />
welches die damalige Kanzlerkandidatin<br />
Angela Merkel von ihren Konkurrenten<br />
positiv unterschied <strong>und</strong> sie für viele<br />
CDU-ferne Wählerinnen wählbar machte.<br />
So auch für die Publizistin Cora Stephan,<br />
welche die Frau aus dem Osten<br />
erfrischend fand.<br />
Für die Frankfurterin, die einst zur radikalen<br />
«Pflasterstrand»-Redaktion gehörte,<br />
repräsentierte die DDR-Pflanze<br />
Michael Hüther: Die disziplinierte Freiheit.<br />
Eine neue Balance von Markt <strong>und</strong> Staat.<br />
Murmann, Hamburg, 2011. 200 Seiten,<br />
Fr. 30.50.<br />
Von Sebastian Bräuer<br />
Die Finanzkrise hat bei vielen Volkswirten<br />
Selbstzweifel ausgelöst. Nicht nur,<br />
weil die Verwerfungen der Jahre 2008<br />
<strong>und</strong> 2009 von kaum einem Experten<br />
vorhergesehen worden waren. Sondern<br />
noch mehr, weil der Beinahekollaps des<br />
amerikanischen Bankensystems die vorher<br />
mehrheitsfähige Lehre von den<br />
Selbstheilungskräften der Finanzmärkte<br />
eindrucksvoll widerlegt hatte. Raguram<br />
Rajan, ehemaliger Chefökonom des Internationalen<br />
Währungsfonds, hat die<br />
Stimmungslage innerhalb seiner Zunft<br />
vor kurzem in ein vernichtendes Urteil<br />
gebündelt: «Ich würde behaupten, <strong>das</strong>s<br />
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
Meisterin im<br />
Aussitzen statt<br />
Reformmotor: Angela<br />
Merkel kommt in Cora<br />
Stephans Streitschrift<br />
schlecht weg.<br />
drei Faktoren unser kollektives Versagen<br />
im Wesentlichen erklären: Spezialisierung,<br />
die Schwierigkeit, Vorhersagen<br />
zu treffen, <strong>und</strong> die Losgelöstheit eines<br />
Grossteils der Ökonomen von der realen<br />
Welt.»<br />
Bei Michael Hüther, seit 2004 Direktor<br />
des Instituts der deutschen Wirtschaft<br />
in Köln, ist von derartiger Selbstreflexion<br />
nichts zu spüren. Er belegt mit<br />
seinem aktuellen Werk, <strong>das</strong>s es weiterhin<br />
prominente Ökonomen gibt, die unbeeindruckt<br />
im Vorkrisendenken verharren.<br />
Statt sich an Erklärungen für die<br />
schwerste Rezession seit den 30er Jahren<br />
zu versuchen, bezeichnet er diese<br />
mal verschleiernd als «spontane Unordnung»,<br />
mal verniedlichend als «Wachstumspause».<br />
Sie nicht kommen gesehen<br />
zu haben, sei «kein Gr<strong>und</strong> zu Scham <strong>und</strong><br />
Schande». Derart reingewaschen, erteilt<br />
er der Politik erwartbare Ratschläge.<br />
Hüther ist gegen eine Finanzmarktsteu-<br />
nicht «die provinzielle Wessi-Kultur der<br />
Alt-68er», sondern sie hielt den Wert<br />
der Freiheit hoch <strong>und</strong> versprach, «Reformmotor»<br />
zu sein. Eine solche Liebe,<br />
die vor allem auf der Abgrenzung zu<br />
schlechteren Alternativen beruht, muss<br />
zu einer enttäuschten Liebe werden. Mit<br />
dieser zwangsläufigen Entwicklung hat<br />
Cora Stephan erstaunlicherweise nicht<br />
gerechnet. Das Ausmass der Wut, <strong>das</strong><br />
einem bei der Lektüre des polemischen<br />
Essays entgegenschlägt, legt diesen<br />
Schluss nahe. Zu gross war offensichtlich<br />
die Hoffnung auf einen neuen Regierungsstil<br />
<strong>und</strong> notwendige Reformen<br />
gewesen, so<strong>das</strong>s die Essayistin heute die<br />
notwendige Distanz vermissen lässt.<br />
Naiv kann man Cora Stephan, die seit<br />
Jahren kluge Essays <strong>und</strong> unter dem<br />
Pseudonym Anne Chaplet bitterböse<br />
Krimis schreibt, beileibe nicht nennen.<br />
Sie schreibt vielmehr als Vertreterin<br />
jener Menschen, «die ihre Interpretation<br />
der Wirklichkeit für entschieden<br />
tauglicher halten als die der politischen<br />
Klasse». Sie hält der Kanzlerin vor, ein<br />
Gespür für jene Mitte vermissen zu lassen.<br />
Auch ein Gespür für sie als Steuerzahlerin:<br />
«Sie plündert die Kassen, auch<br />
die zukünftiger Generationen, <strong>und</strong><br />
nimmt die Steuerbürger in Geiselhaft.»<br />
An der verpassten Steuerreform<br />
macht Stephan unter anderem den «Irrtum»<br />
Merkel fest, der sich aus fünf grossen<br />
Irrtümern zusammensetze. So kreidet<br />
sie der Kanzlerkandidatin an,<br />
während des Wahlkampfes 2005 unter<br />
der Attacke von Gerhard Schröder von<br />
ihrem designierten Finanzminister<br />
Kirchhoff, der die sozialste <strong>und</strong> radikalste<br />
Steuerreform vorgeschlagen habe, abgerückt<br />
zu sein (Irrtum 1). Weiter macht<br />
sie ihr den Vorwurf, die Rentengarantie<br />
beschlossen zu haben (2); dem Minderwertigkeitskomplex<br />
Deutschlands gegenüber<br />
nach wie vor befangen zu sein<br />
(3); die Debatte über die Vertreibung<br />
der Deutschen <strong>und</strong> die Versöhnung mit<br />
den Nachbarn wenig sachgerecht zu<br />
lösen (4) sowie <strong>das</strong> ehrgeizige Ziel zu<br />
verfolgen, die Erderwärmung auf höchstens<br />
zwei Grad zu begrenzen (5).<br />
Letzteres findet Stephan «übertrieben<br />
ehrgeizig», nähmen doch die begründeten<br />
Zweifel am menschengemachten<br />
Klimawandel zu. Den Gr<strong>und</strong><br />
für die Zweifel erwähnt sie nicht, wie sie<br />
auch sonst selten Belege anführt. Ihre<br />
Wut auf Merkel, ihre Frustration über<br />
die gegenwärtige Misere sind ihr für den<br />
R<strong>und</strong>umschlag Gr<strong>und</strong> genug. Für mich<br />
als Leserin ist <strong>das</strong> zu wenig. ●<br />
Ökonomie Ordnungspolitische Programmschrift aus dem Institut der deutschen Wirtschaft<br />
Wenig gelernt aus der Finanzkrise<br />
MICHAEL SOHN / AP<br />
er (sie treffe die Falschen), für Studiengebühren<br />
(um die Bildungsausgaben erhöhen<br />
zu können) <strong>und</strong> gegen einen<br />
branchenübergreifenden Mindestlohn<br />
(er bedrohe Arbeitsplätze).<br />
Teilweise sind die im Vorbeigehen<br />
formulierten Gedanken harter Tobak.<br />
Etwa der indirekt vorgetragene Vorwurf,<br />
Demonstranten gegen Infrastrukturprojekte<br />
gefährdeten die Funktionsfähigkeit<br />
moderner Gesellschaften. Erwähnenswert<br />
ist der Vorschlag zur Lösung der<br />
Eurokrise, alle Länder der Europäischen<br />
Währungsunion sollten eine Schuldenbremse<br />
nach deutschem <strong>und</strong> Schweizer<br />
Vorbild einführen. Relevant ist zudem<br />
die Thematisierung des Fachkräftemangels,<br />
der ein Umdenken in der Zuwanderungspolitik<br />
nötig mache. Doch unterm<br />
Strich tut Hüther genau <strong>das</strong>, was er<br />
Nichtökonomen vorwirft, die sich gegen<br />
Reformen stemmen: Er hält an Altem<br />
<strong>und</strong> scheinbar Bewährtem fest. ●
Kraftorte Wanderungen im<br />
Dreiländereck<br />
Ru nd u m den<br />
Bodensee<br />
Barbara Hutzl-Ronge: Magischer<br />
Bodensee. Wanderungen zu Orten der<br />
Kraft. AT, Aarau 2011. 408 Seiten,<br />
Fr. 39.90.<br />
Von Adrian Krebs<br />
«Von den Riesenfischen im Mindelsee<br />
zu den Sonnenpferden im Ahnengrab im<br />
Heidenbühl.» Was tönt wie ein Lehrstück<br />
über heidnische Bräuche aus dem<br />
Mittelalter-Lexikon ist in Wahrheit die<br />
Beschreibung einer Wanderung im<br />
grenznahen Baden-Württemberg. Seit<br />
einigen Jahren veröffentlicht der Aarauer<br />
AT-Verlag Wanderbücher mit Ausflügen<br />
zu sogenannten «Orten der Kraft».<br />
Das neueste Werk «Magischer Bodensee»<br />
erschliesst 29 Wanderungen im<br />
Dreiländereck r<strong>und</strong> um <strong>das</strong> Schwäbische<br />
Meer. Die Autorin Barbara Hutzl-<br />
Ronge, eine in Zürich wohnhafte Österreicherin,<br />
hat schon dem «Magischen<br />
Zürich» zum Spitzenplatz in der Bestsellerliste<br />
verholfen.<br />
Wer sich nun mit der Autorin auf<br />
Wanderschaft begibt, erlebt sie als unterhaltsame<br />
Begleiterin, die die Phänomene,<br />
die sie seit Jahrzehnten auch wandernd<br />
erforscht, mit augenzwinkernder<br />
Distanz weitergibt.<br />
Jede Wanderung ist zum Auftakt mit<br />
einem Serviceteil versehen. Hier finden<br />
durchaus auch weltliche Genüsse ihren<br />
Eingang, obwohl die Hinweise auf währschafte<br />
Gartenbeizen weniger ausführlich<br />
ausfallen als bei anderen Wanderpäpsten.<br />
Der detaillierten Wegbeschreibung<br />
folgt jeweils eine Würdigung der<br />
«mythischen» Sehenswürdigkeiten.<br />
Die R<strong>und</strong>wanderung von <strong>und</strong> nach<br />
Markelfingen beispielsweise widmet<br />
sich der Frage, was wohl in den Tiefen<br />
des Mindelsees lauern möge. Historische<br />
Quellen – davon zeugt eine lange<br />
Literaturliste im Anhang – wüssten von<br />
einem Fang, der so gross war, <strong>das</strong>s sich<br />
alleine am Kopf 34 Geistliche satt gegessen<br />
hätten. Es kommen aber nicht nur<br />
Fabeltiere zur Sprache, sondern auch<br />
zeitgenössische Fauna wie der Waldlaubsänger,<br />
der die Autorin mit seinem<br />
«flötenden Gesang» beglückt hat.<br />
Weiter geht’s zu den Grabhügeln im<br />
Heidenbühl. Der Ameisenberg südlich<br />
von Dettingen heisse nicht zufälligerweise<br />
so: Wer vor der Vielzahl<br />
von Hügeln stehe, begreife, warum<br />
der Volksm<strong>und</strong><br />
die Gegend so<br />
benannte. Dass<br />
Hutzl-Ronge sich<br />
diese Gegend auswählte,<br />
hat einen<br />
ganz besonderen<br />
Gr<strong>und</strong>: Es ist die<br />
Heimat ihrer Urururgrossmutter<br />
Anna-Katherina<br />
Bodensee rin. ●<br />
GEORG FRUHSTORFER / BAYRISCHE STAATSBIBLIOTHEK / BPK Trümmerfrauen Schutt <strong>und</strong> Asche wegschaffen<br />
Bald gibt es keine Zeitzeugen des Zweiten<br />
Weltkrieges mehr. Antonia Meiners, die 1949 als<br />
Sechsjährige von München in ihre Heimatstadt Berlin<br />
zurückkehrte <strong>und</strong> die Tränen der Mutter nicht<br />
verstand (<strong>das</strong> Kind kannte <strong>das</strong> einstige Berlin ja<br />
nicht), hat sich von 20 Trümmerfrauen erzählen<br />
lassen, wie diese Generation <strong>das</strong> Kriegsende <strong>und</strong> die<br />
Jahre danach erlebt hat. Dazwischen berichten<br />
Textausschnitte ab Januar 1945 von den brutalen<br />
Erlebnissen <strong>und</strong> Entbehrungen, welche diese Frauen<br />
erlitten. Einer Frau erfror auf der Flucht <strong>das</strong> Kind an<br />
der Brust. Tausende wurden vergewaltigt. Dann der<br />
Aufbau: Man schaffte Schutt <strong>und</strong> Asche weg (im Bild:<br />
vor dem Münchner Rathaus, 1945) <strong>und</strong> baute mitten<br />
in der Stadt Gemüse an. Städterinnen fuhren aufs<br />
Land, tauschten Porzellan, Lampen <strong>und</strong> alles<br />
Mögliche gegen Lebensmittel; sie «hamsterten»,<br />
stets unter der Gefahr, dafür gebüsst oder verhaftet<br />
zu werden. In Deutschland gab es 7 Millionen mehr<br />
Frauen als Männer. Sie erledigten Knochenarbeit,<br />
aber immer noch keine Politik – <strong>das</strong> betrieben die<br />
verbliebenen Männer. Regula Freuler<br />
Antonia Meiners: Wir haben wieder aufgebaut.<br />
Frauen der St<strong>und</strong>e null erzählen. Zahlreiche<br />
Abbildungen. Verlag Elisabeth Sandmann, München<br />
2011. 153 Seiten, Fr. 37.90.<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch<br />
Suchtmittel Pflanzen als Rauschgift <strong>und</strong> Medizin gehören zum kulturellen Brauchtum <strong>und</strong> lassen<br />
sich kaum eindämmen oder abschaffen<br />
Keine Gesellschaft kommt<br />
ohne Drogen aus<br />
Mike Jay: High Society. Eine<br />
Kulturgeschichte der Drogen. Primus,<br />
Darmstadt 2011. 192 Seiten, Fr. 43.50.<br />
Von Peter Durtschi<br />
Wenn die ersten Sonnenstrahlen China<br />
erreichen, werden dort bereits Teeblätter<br />
zubereitet. In zahllosen Varianten<br />
rinnt der koffeinhaltige Aufguss durch<br />
die Kehlen. Von Indonesien bis nach Indien<br />
hingegen werden über h<strong>und</strong>ert<br />
Millionen Menschen ein Blatt des Betel-<br />
Pfeffers mit Kalk bestreichen, ein Stück<br />
der Aretanuss darin einrollen <strong>und</strong> den<br />
Bissen mit den Zähnen zerdrücken. Die<br />
Erde rollt schon dem Nachmittag entgegen,<br />
<strong>und</strong> im Jemen kaut man die Blätter<br />
des Khatstrauches. Wenn im Westen der<br />
Tag anbricht, stärken sich Millionen mit<br />
Espresso. Lastwagen liefern Alkohol<br />
<strong>und</strong> Tabak an, Kokain- <strong>und</strong> Ecstasy-Portionen<br />
wechseln den Besitzer, Cannabisrauch<br />
steigt in Afrika auf. In Mexiko ernten<br />
Ureinwohner den Peyote-Kaktus.<br />
Und wenn die letzten Sonnenstrahlen<br />
die Inseln im Südpazifik erreichen,<br />
macht dort ein Trank aus der Wurzel<br />
des Rauschpfeffers die R<strong>und</strong>e.<br />
Keine Gesellschaft, stellt der britische<br />
Kulturhistoriker Mike Jay zu Beginn<br />
seines Streifzugs durch die «high<br />
societies» fest, kommt ohne Drogen aus.<br />
Zwar konsumieren auch Tiere Substanzen,<br />
die auf <strong>das</strong> Bewusstsein oder den<br />
Körper eine biochemische Wirkung<br />
ausüben. Anders als bei den Tieren sei<br />
der menschliche Drogenkonsum aber<br />
«Bestandteil einer sprachlichen <strong>und</strong><br />
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
symbolischen Kultur, in deren Rahmen<br />
er Bedeutung erhält». So wirkt beispielsweise<br />
Kawa, der südpazifische<br />
Trunk aus dem Rauschpfeffer, sozial stabilisierend.<br />
Das Gebräu beschert ein<br />
paar St<strong>und</strong>en leichter Trance <strong>und</strong> fördert<br />
damit positive Verhaltensweisen<br />
wie Grosszügigkeit <strong>und</strong> Sensibilität.<br />
Beim gemeinsamen Kawatrinken werden<br />
fre<strong>und</strong>schaftliche Beziehungen hergestellt<br />
<strong>und</strong> Verträge besiegelt.<br />
Drogen in der Subkultur<br />
Nun hat sich aber nicht jede Substanz in<br />
jeder Gemeinschaft durchgesetzt – geschichtlich<br />
gesehen war es in den meisten<br />
Kulturen üblich, nur eine kleine Anzahl<br />
von Drogen für den allgemeinen<br />
Gebrauch zu bestimmen. Kam es zu Verboten,<br />
waren diese auch Zeichen eines<br />
tiefgreifenden sozialen Wandels. Das ist<br />
beispielsweise beim Alkoholverbot im<br />
Islam der Fall: Die muslimischen Händler<br />
pflegten asketisch-einfache Lebensgewohnheiten;<br />
in den bis dahin dominierenden<br />
Kaufleuten der mediterranen<br />
Küstenstädte sahen sie eine dekadente<br />
Elite, die ihren Reichtum am Wein verschwendete.<br />
Erst als sich <strong>das</strong> Alkoholverbot<br />
durchgesetzt hatte, war auch die<br />
kulturelle Hegemonie etabliert. Konzentrationsfördernde<br />
Drogen wie Tee <strong>und</strong><br />
Kaffee, teilweise auch die Kolanuss <strong>und</strong><br />
Khat, wurden nun zu Elementen des sozialen<br />
Austausches <strong>und</strong> der Musse.<br />
Auch Subkulturen waren in vormoderner<br />
Zeit zu beobachten. Im London<br />
des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts beispielsweise galt<br />
<strong>das</strong> Leben in den Kaffeehäusern Beteiligten<br />
wie Aussenstehenden als Drogen-<br />
Dealer verkauft<br />
Kokainkapseln in<br />
Berlin, 1920er-Jahre.<br />
BUNDESARCHIV BERLIN<br />
Subkultur – die Vorliebe für ein exotisches<br />
Stimulans bot einer kleinen, aber<br />
einflussreichen Gruppe <strong>das</strong> Motiv, einen<br />
Raum zu schaffen, wo man mit Gleichgesinnten<br />
verkehren konnte. Was man<br />
dort chemisch gesehen zu sich nahm,<br />
war aber weitgehend unbekannt. Mehr<br />
als 1500 Jahre für die Pharmazie massgebend<br />
war die «Materia medica». In diesem<br />
Buch behandelt der spätantike<br />
Autor Pedanios Dioskurides auch Pflanzen<br />
mit bewusstseinsverändernden<br />
Wir kungen. Er nahm allerdings an, <strong>das</strong>s<br />
die Wirkung einer Droge nicht in der<br />
Substanz selbst liege, sondern in der<br />
eingenommenen Dosis.<br />
Erst durch weltweite Entdeckungsreisen<br />
gelangte die reiche Flora stimulierender<br />
<strong>und</strong> bewusstseinserweiternder<br />
Pflanzen der <strong>Neue</strong>n Welt in den Westen.<br />
Und mit dem wachsenden Wissen über<br />
chemische Zusammenhänge begriffen<br />
die Praktiker allmählich, <strong>das</strong>s Drogen<br />
unabhängig von der Pflanze wirken, die<br />
sie enthält. Auch dank Selbstversuchen<br />
der Forscher nahm die Pharmazie einen<br />
stürmischen Fortschritt. Der deutsche<br />
Apothekergehilfe Friedrich Sertürner<br />
beispielsweise isolierte ab 1803 aus Opiumkonzentrat<br />
nicht bloss eine pflanzliche<br />
Essenz, sondern eine eigenständige<br />
Substanz, die er Morphin nannte.<br />
Medizinische Wirkung<br />
Um 1890 boten Apotheken Kokain in<br />
Form von Pillen oder energiesteigernden<br />
Getränken an. Cannabis war Bestandteil<br />
zahlreicher Tinkturen, Bayer<br />
verkaufte ein opiathaltiges Hustenmittel<br />
unter dem Markennamen «Heroin».<br />
Auch kleine Stahlschachteln mit Morphin<br />
<strong>und</strong> mehreren Nadeln waren frei<br />
erhältlich; sie revolutionierten zwar die<br />
Schmerzbehandlung, verführten aber<br />
auch zum Missbrauch. Die Substanzen<br />
wurden nun zum Ziel medizinischer<br />
<strong>und</strong> medialer Kampagnen. Zunehmend<br />
überlagerte die Alltagssprache den ursprünglichen<br />
Drogenbegriff. Wurden im<br />
Englischen ab 1400 «getrocknete<br />
Waren» als drugs bezeichnet, galt nun<br />
eine «Droge» als bewusstseinsverändernde<br />
Substanz, die illegal ist.<br />
In seinem flüssig geschriebenen <strong>und</strong><br />
prachtvoll illustrierten Buch geht Mike<br />
Jay auf den Opium- <strong>und</strong> Teehandel im<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>ert ebenso ein wie auf die<br />
Entwicklung von Designerdrogen oder<br />
<strong>das</strong> 1961 von der Uno beschlossene Einheitsabkommen<br />
über Betäubungsmittel.<br />
Ironischerweise trat just in dieser Zeit<br />
eine neugierige Jugend auf den Plan.<br />
«Drogengenuss als Brauchtum ist ein<br />
kulturelles Konstrukt: Offizielle Verfügungen<br />
können es eindämmen, aber<br />
kaum abschaffen», sagt der Autor. ●
Sozialdemokratie Die Erinnerungen von Verena Siegrist spiegeln ein linkes <strong>Zürcher</strong> Frauenleben<br />
Immer unterwegs, irgendwohin<br />
Verena Siegrist: Bewegte Zeiten –<br />
bewegtes Leben. Erinnerungen einer<br />
<strong>Zürcher</strong>in. Rotpunkt, Zürich 2011.<br />
375 Seiten, Fr. 38.−.<br />
Von Urs Rauber<br />
Die heute 79-jährige Verena Siegrist war<br />
weder Politikerin noch prominente<br />
Frauenrechtlerin, genoss aber eine gewisse<br />
Bekanntheit in- <strong>und</strong> ausserhalb<br />
der <strong>Zürcher</strong> Sozialdemokratie. Aufgewachsen<br />
in einer Handwerkerfamilie in<br />
Altstetten, Wiedikon <strong>und</strong> Unterstrass,<br />
machte sie eine Laborlehre an der Empa,<br />
jobbte als Serviertochter, Verkäuferin<br />
<strong>und</strong> Sozialarbeiterin <strong>und</strong> liess sich<br />
schliesslich zur Psychotherapeutin ausbilden.<br />
Mit ihrem Mann Albi, den sie in<br />
der sozialistischen «Freien Jugend» (FJ)<br />
kennengelernt <strong>und</strong> mit 21 geheiratet<br />
hatte, zog sie drei Kinder gross.<br />
Die jugend- <strong>und</strong> altersbewegte Frau<br />
engagierte sich zeitlebens für die Linke:<br />
bei den Naturfre<strong>und</strong>en, in der Antiatomwaffen-Bewegung,<br />
im Umfeld des «Globuskrawalls»<br />
1968 <strong>und</strong> der <strong>Zürcher</strong> Unruhen<br />
1980, später in der Frauenbewegung<br />
– im Kampf für eine Fristenlösung.<br />
Die junge Genossin kam in Kontakt mit<br />
PdA-Chef Edgar Woog, dem Marxisten<br />
Konrad Farner, FJ-Präsident Ueli Kägi,<br />
dem Buchhändler-Ehepaar Amalie <strong>und</strong><br />
Theo Pinkus, später mit den Stadträtinnen<br />
Ursula Koch <strong>und</strong> Emilie Lieberherr.<br />
1972 trat Verena Siegrist in die Sozialdemokratische<br />
Partei der Stadt Zürich<br />
ein, die damals von Moritz Leuenberger<br />
präsidiert wurde (er kommt im Buch<br />
nicht vor). Sie bekleidete parteiinterne<br />
Funktionen, wurde Schulpflegerin, jedoch<br />
nie in ein Parlament gewählt. Beseelt<br />
von den Idealen des Sozialismus<br />
schwamm sie im breiten Strom der Linken<br />
jener Zeit, auch in Phasen, als man<br />
zu Beginn der 50er Jahre noch Stalin ver-<br />
Inge Sprenger Viol: Erst recht.<br />
Aussergewöhnliche Wege von Frauen<br />
mit einer Behinderung. Hrsg. avanti<br />
donne. efef, Wettingen 2010.<br />
144 Seiten, Fr. 26.–.<br />
Von Michael Nägeli<br />
Während die <strong>Zeitung</strong>sspalten voll sind<br />
mit gelehrten Diskussionen <strong>und</strong> Vorschlägen<br />
zur Sanierung der IV <strong>und</strong> an<br />
den Stammtischen über «Scheininvalide»<br />
gelästert wird, ist still <strong>und</strong> leise ein<br />
Buch erschienen, welches ein ganz anderes<br />
Bild von Menschen mit Behinderung<br />
<strong>und</strong> ihre Lebensführung zeichnet.<br />
In diesem Buch werden fünf Frauen por-<br />
Genossin Verena Siegrist engagierte sich auch in der Schulpflege (1984).<br />
ehrte oder in den frühen Achtzigern <strong>das</strong><br />
Drogenelend als Folge einer schrankenlosen<br />
Jugendpolitik in Kauf nahm.<br />
Über diese Auseinandersetzungen –<br />
die «Umwege ihrer Generation», wie<br />
der Verlag schreibt – erfährt man im<br />
Buch mehr Episodisches als Analytisches.<br />
Beim Konflikt der SP mit Emilie<br />
Lieberherr, die sie als Jugendarbeiterin<br />
angestellt hatte, stand die Autorin auf<br />
Seiten der Partei. Es dominierte wie bei<br />
vielen Mitstreiterinnen <strong>das</strong> Bewusstsein,<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich auf der «richtigen»<br />
trätiert, welche trotz körperlicher Behinderung<br />
eine akademische Laufbahn<br />
realisieren konnten, zum Teil mit grossem<br />
Aufwand. Fünf Frauen, für die nicht<br />
<strong>das</strong> Handicap im Vordergr<strong>und</strong> steht,<br />
sondern der Anspruch auf ein erfülltes<br />
Leben.<br />
Es wird dargestellt, wie die unterschiedlichen<br />
Behinderungen <strong>das</strong> Le-<br />
ben einer Versicherungsmathematikerin,<br />
einer Pädagogin, einer Pfarrerin,<br />
einer Ärztin <strong>und</strong> einer Geologin beeinflusst<br />
haben. Was am meisten bewegt,<br />
ist aber, <strong>das</strong>s nicht nur die körperliche<br />
Andersartigkeit ein Hindernis war, sondern<br />
die lieben Mitmenschen – Verwandte,<br />
Lehrer, Ärzte, Behörden – bewusst,<br />
unbewusst oder aus Gleichgültig-<br />
Seite zu stehen. Ehrlichkeit in der politischen<br />
Auseinandersetzung <strong>und</strong> ein unermüdlicher<br />
Einsatz für die Sache der<br />
Jugendlichen, der Frauen <strong>und</strong> der<br />
Schwachen sind der Autorin ebenso<br />
wenig abzusprechen wie ihr Wille zur<br />
Emanzipation in den eigenen vier Wänden.<br />
Beim Kampf gegen die traditionelle<br />
Hausfrauen- <strong>und</strong> Mutterrolle <strong>und</strong> dem<br />
Wunsch nach beruflicher Verwirklichung<br />
musste sie, so liest man zwischen<br />
den Zeilen, auch bei ihrem Mann Widerstände<br />
überwinden. Angetrieben von<br />
einer inneren Unruhe war Verena Siegrist<br />
stets «unterwegs irgendwohin».<br />
«Ich habe mich oft eingemischt. Missstände<br />
trieben mich um, <strong>und</strong> mein<br />
Drang nach mehr sozialer Gerechtigkeit<br />
blieb zeitlebens ein wichtiger Motor für<br />
mein Tun.» Hat es sich gelohnt, fragt sie<br />
sich am Schluss. Wäre es nicht manchmal<br />
gescheiter gewesen, nichts zu tun?<br />
Auch die Überzeugung, <strong>das</strong>s die von<br />
Natur aus ungleiche Ausstattung der<br />
Menschen durch eine Verbesserung der<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse erreicht<br />
werden könnte, stellt sie – nach 60 Jahren<br />
– auf den Prüfstand. «Wir waren bereit<br />
gewesen, <strong>das</strong> Böse ausserhalb anzusiedeln.»<br />
Und heute? Die Antworten<br />
hätten interessiert.<br />
Das Buch bietet eine Fülle interessanter<br />
Geschichten <strong>und</strong> Episoden, darunter<br />
auch einen farbig beschriebenen Abstecher<br />
nach Brasilien. Enthüllungen oder<br />
Interna aus der linken Szene jedoch<br />
sucht man vergebens. So bleibt diese unspektakuläre<br />
Lebensgeschichte stark im<br />
Lokalen verankert, auch wenn sie ein<br />
Stück weit typisch für Frauenbiografien<br />
aus der Arbeiterbewegung des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
ist. Bescheiden, aber nicht anspruchslos,<br />
warm-, aber auch treuherzig<br />
bleibt sie den Idealen des 1. Mai <strong>und</strong> der<br />
traditionellen Arbeiterbewegung verb<strong>und</strong>en.<br />
Einer Welt, die uns heute ziemlich<br />
fern scheint. ●<br />
Gleichberechtigung Frauen mit körperlicher Behinderung werden oft von der Umwelt benachteiligt<br />
Barrieren der Gedankenlosigkeit<br />
keit Steine in ihren Lebensweg legten.<br />
Integration <strong>und</strong> Gleichstellung – insbesondere<br />
von Frauen mit einer Behinderung<br />
– sind nach wie vor nicht gewährleistet.<br />
Diese Hürde lässt sich überwinden,<br />
wenn mehr Begegnungen geschaffen,<br />
mehr Brücken zueinander gebaut<br />
würden, wenn der Fokus auf Chancen<br />
<strong>und</strong> Stärken gelegt würde statt auf<br />
Schranken <strong>und</strong> Beeinträchtigungen.<br />
Die porträtierten Frauen haben es<br />
dank grosser Willenskraft <strong>und</strong> einem<br />
positiv eingestellten Umfeld geschafft,<br />
ihre Ziele zu erreichen. Das lesenswerte<br />
Buch regt an, darüber nachzudenken,<br />
wo wir heute in Sachen Gleichberechtigung<br />
stehen, welche Werte wir wie gewichten.<br />
●<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch<br />
Erinnerungen Der Biochemiker Gottfried Schatz erzählt aus seinem aufregenden Forscherleben<br />
Auch Wissenschafter sind Menschen<br />
Gottfried Schatz: Feuersucher. Die Jagd<br />
nach dem Geheimnis der Lebensenergie.<br />
NZZ Libro, Zürich 2011. 221 S., Fr. 34.-.<br />
Von Patrick Imhasly<br />
Die Arbeit eines Naturwissenschafters<br />
ist eine elende Plackerei. Wer es zum<br />
Beispiel als Biochemiker zu Ruhm <strong>und</strong><br />
Ehre bringen will, muss sich manchmal<br />
die Nächte im Labor um die Ohren<br />
schlagen. Unzählige Male wiederholt er<br />
seine Experimente, nur um Monate später<br />
festzustellen, <strong>das</strong>s sein Ansatz<br />
schlicht <strong>und</strong> einfach falsch war.<br />
So erging es in jungen Jahren auch<br />
Gottfried Schatz. Der gebürtige Österreicher<br />
war bis zu seiner Emeritierung<br />
im Jahr 2000 Professor am Biozentrum<br />
Basel, danach stand er vier Jahre lang<br />
dem Schweizerischen Wissenschafts-<br />
<strong>und</strong> Technologierat vor, der den Bun-<br />
Das amerikanische Buch Lomax hat der Welt die Kultur der Folklore gebracht<br />
Folklore-Forscher, Musiker <strong>und</strong> Konzertveranstalter:<br />
Diese Liste der<br />
Metiers, in denen sich Alan Lomax<br />
(1915–2002) gut 70 Jahre lang r<strong>und</strong> um<br />
den Erdball betätigt hat, ist noch sehr<br />
unvollständig. Der Texaner hat Musiker<br />
in andalusischen Bergdörfern, den<br />
Hebriden oder in den Gefängnis-<br />
Farmen des amerikanischen Südens<br />
aufgenommen <strong>und</strong> neben Büchern <strong>und</strong><br />
akademischen Artikeln zahllose Radiosendungen<br />
sowie umfangreiche Serien<br />
für Plattenfirmen wie Decca geschaffen.<br />
Alan Lomax hat seine kaum mehr<br />
überschaubaren Projekte <strong>und</strong> Reisen<br />
stets akribisch dokumentiert.<br />
Doch eben dies mag bislang Biografen<br />
abgeschreckt haben. So ist es nun<br />
John Szwed zu danken, <strong>das</strong>s er sich für<br />
Alan Lomax. The Man Who Recorded the<br />
World (Viking 2010, 438 Seiten) nach<br />
eigenen Angaben durch 5000 St<strong>und</strong>en<br />
Musik, 130 Kilometer Film <strong>und</strong> 200<br />
Bände mit Aufzeichnungen <strong>und</strong><br />
Dokumenten gearbeitet hat. Der Musikwissenschafter<br />
ist durch exzellente<br />
Biografien über die Jazz-Grössen Miles<br />
Davis <strong>und</strong> Sun Ra bekannt geworden.<br />
Die umfangreichen Materialien fand<br />
Szwed im Nachlass von Lomax an der<br />
Columbia University in New York.<br />
Ansporn <strong>und</strong> Hilfe zugleich war für den<br />
Biografen die Tatsache, <strong>das</strong>s er an der<br />
Universität lehrt <strong>und</strong> Lomax dort in<br />
den 1960er Jahren kennenlernen<br />
konnte. Eigensinnig, dabei mitunter<br />
von Zweifeln geprägt <strong>und</strong> doch selbstbewusst<br />
bis zur Arroganz, hat der<br />
Folklorist zeitlebens eine akademische<br />
oder kommerzielle Karriere verschmäht.<br />
Gleichzeitig machte ihn sein<br />
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />
desrat in Sachen Wissenschaftspolitik<br />
berät. Gottfried Schatz hat eine glänzende<br />
internationale Karriere als Forscher<br />
hinter sich. Und wie kein anderer in der<br />
Schweizer Forschungslandschaft hat er<br />
sich dafür stark gemacht, <strong>das</strong>s die Universitäten<br />
ihre steilen Hierarchien abschaffen,<br />
jungen Talenten Raum geben<br />
<strong>und</strong> ohne schlechtes Gewissen nur die<br />
Besten unter den Besten fördern.<br />
Jetzt legt Gottfried Schatz mit «Feuersucher»<br />
einen Rückblick auf sein vielfältiges<br />
Forscherleben vor. Das Buch ist<br />
nicht bloss eine Biografie, sondern ein<br />
spannender Streifzug durch mehr als ein<br />
halbes Jahrh<strong>und</strong>ert Zeitgeschehen, Wissenschaftsgeschichte<br />
<strong>und</strong> durch <strong>das</strong><br />
Wesen wissenschaftlichen Denkens<br />
schlechthin. Schonungslos schildert der<br />
Wissenschafter etwa, wie er als junger<br />
Student in der Nachkriegszeit seine österreichische<br />
Heimat als «ein verstocktes<br />
geistiges Abseits ohne politische<br />
Der Folklore-Forscher<br />
Alan Lomax (zweiter<br />
von rechts) mit dem<br />
Sänger Pete Seeger<br />
(ganz rechts) bei<br />
einer Probe.<br />
Autor John Szwed<br />
(unten).<br />
Engagement für Gewerkschaften <strong>und</strong><br />
linke Zwecke – häufig an der Seite von<br />
Fre<strong>und</strong>en wie Woody Guthrie <strong>und</strong> Pete<br />
Seeger – für Arbeitgeber zu einem Risiko.<br />
Im fortgeschrittenen Alter fand Lomax<br />
jedoch an der Columbia University<br />
eine karg bezahlte Anstellung, die seine<br />
permanente Geldnot lindern konnte.<br />
Szwed nähert sich seinem komplexen<br />
Protagonisten in klassischer Manier,<br />
umklammert seine chronologische<br />
Lebensbeschreibung jedoch mit persönlichen<br />
Erinnerungen an Lomax. Damit<br />
wird dieser Enthusiast, dessen<br />
Bohemien-Habitus so gar nicht zu seiner<br />
Energie <strong>und</strong> Disziplin als Forscher<br />
passen will, auch als Person greifbar.<br />
Szwed macht deutlich, wie stark Lomax<br />
zunächst im Schatten seines Vaters<br />
John stand, der ihn schon als Teenager<br />
auf musikalische Forschungsreisen<br />
zwischen Texas <strong>und</strong> Florida mitgenommen<br />
hat. Die Unsicherheit über den<br />
JOHN COHEN / GETTY IMAGES<br />
Reife, Ehrlichkeit <strong>und</strong> Weltoffenheit»<br />
erlebte. Weitergekommen ist er erst<br />
durch mehrere Forschungsaufenthalte<br />
in den USA, wo gerade an den renommiertesten<br />
Instituten stets eine «lockere<br />
<strong>und</strong> internationale Arbeitsatmosphäre»<br />
herrschte.<br />
Als Krimi im Wissenschaftsmilieu beschreibt<br />
Schatz die Entstehung seines<br />
eigenen Spezialgebiets: die Erforschung<br />
der Mitochondrien, der Kraftwerke unserer<br />
Zellen. Diese Geschichte ist geprägt<br />
von brillanten Forschern mit verrückten<br />
Ideen, aber auch von Neid,<br />
Missgunst <strong>und</strong> kruden Fälschungen. Bisweilen<br />
mutet die Erzählweise von<br />
Schatz etwas barock an. Trotzdem: Mit<br />
«Feuersucher» ist ihm ein Wurf gelungen.<br />
Immer klar <strong>und</strong> anschaulich, oft<br />
witzig <strong>und</strong> erfrischend selbstironisch,<br />
erklärt er uns, wie Forschung funktioniert<br />
<strong>und</strong> Wissenschafter ticken – die<br />
halt auch nur Menschen sind. ●<br />
eigenen Daseinszweck erklärt für den<br />
Bio grafen die Selbstzweifel <strong>und</strong> die<br />
mangelnde Zuverlässigkeit des<br />
Familienmannes Alan Lomax. Aber<br />
diese Schwächen verblassen vor der<br />
Selbstlosigkeit, mit der er «Entdeckungen»<br />
wie den Bluessänger Leadbelly<br />
gefördert hat. Dem Forscher ging es<br />
allem Anschein nach in erster Linie um<br />
die Sache, die er selbst im Sinne einer<br />
vergleichenden Musikwissenschaft als<br />
Suche nach den Verbindungen zwischen<br />
«Song <strong>und</strong> Seele» begriff.<br />
Lomax suchte Musik als «cantometrischen<br />
Code» zu entschlüsseln, in dem<br />
Menschen festhalten <strong>und</strong> übermitteln,<br />
wie sie sich selbst wahrnehmen <strong>und</strong><br />
miteinander <strong>und</strong> der Welt um sie<br />
herum umgehen.<br />
Lomax konnte dieses ehrgeizige Projekt<br />
nicht abschliessen. Aber dies mindert<br />
seine Bedeutung nicht. Obwohl die<br />
«New York Times» in ihrer ansonsten<br />
positiven Kritik eine fehlende Wirkungsgeschichte<br />
von Lomax vermisst,<br />
arbeitet Szwed heraus, wie stark der<br />
Folklorist nicht nur Musiker von<br />
Muddy Waters bis zu Bob Dylan, den<br />
Beatles oder den Rolling Stones<br />
berührt hat. Er hat auch weltweit mit<br />
Politikern, Künstlern <strong>und</strong> Intellektuellen<br />
zusammengewirkt, um hier nur<br />
Eleanor Roosevelt <strong>und</strong> Alberto Moravia<br />
zu nennen. So war Lomax nicht nur<br />
«der beste Zuhörer», den viele Musiker<br />
je hatten. Szwed zeigt, <strong>das</strong>s sein Einfluss<br />
eigentlich kaum auszuloten ist:<br />
Lomax hat der Welt die in Folklore<br />
enthaltene Kultur verfügbar gemacht,<br />
als die Unterhaltungsindustrie diese<br />
aufzulösen begann. ●<br />
Von Andreas Mink
Agenda<br />
Fetisch Wohnwagen Das einfache Leben<br />
Manche könnten sich auf keinen Fall vorstellen, in der<br />
Freizeit oder in den Ferien freiwillig <strong>das</strong> gleiche Leben<br />
wie sonst, einfach «en miniature», zu führen. Für<br />
andere ist ein kleiner, enger Wohnwagen <strong>das</strong> wahre<br />
Glück. So geht es auch den Engländern Jane Field-<br />
Lewis <strong>und</strong> Chris Hadden, beide selbst Wohnwagenbesitzer,<br />
die eine Recherche gestartet haben in<br />
eigener Sache: Sie suchten andere Wohnwagenbesitzer<br />
auf <strong>und</strong> sprachen mit ihnen über <strong>das</strong> Leben<br />
in der Büchse auf Rädern. Entstanden ist ein liebevoll<br />
gestalteter Band, dessen Ernsthaftigkeit die<br />
Wohnwagen-Verschmäher (<strong>und</strong> vielleicht auch die<br />
Bestseller März 2011<br />
Belletristik<br />
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Simon Beckett: Verwesung.<br />
W<strong>und</strong>erlich. 448 Seiten, Fr. 25.90.<br />
Alex Capus: Léon <strong>und</strong> Louise.<br />
Hanser. 320 Seiten Fr. 26.40.<br />
Martin Suter: Allmen <strong>und</strong> die Libellen.<br />
Diogenes. 208 Seiten, Fr. 25.90.<br />
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil.<br />
Hanser. 192 Seiten, Fr. 24.90.<br />
Sarah Lark: Im Schatten des Kauribaums.<br />
Bastei Lübbe. 848 Seiten, Fr. 22.95.<br />
Melinda Nadj Abonji : Tauben fliegen auf.<br />
Jung <strong>und</strong> Jung. 320 Seiten, Fr. 30.70.<br />
Martin Suter: Der Koch.<br />
Diogenes. 320 Seiten, Fr. 33.50.<br />
Peter Stamm: Seerücken.<br />
Fischer. 192 Seiten, Fr. 28.90.<br />
Philip Roth: Nemesis.<br />
Hanser. 224 Seiten, Fr. 27.50.<br />
Cody McFadyen: Der Menschenmacher..<br />
Bastei Lübbe. 608 Seiten, Fr. 30.50.<br />
Sachbuch<br />
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9<br />
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Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 16. 3. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.<br />
anderen) öfter einmal zum Schmunzeln bringt. Die<br />
Sorgfalt, mit welcher die jeweiligen Besitzer der<br />
40 rollenden Eigenheime – der Anhänger im Bild<br />
diente Prinz Charles <strong>und</strong> Prinzessin Anne in den<br />
fünfziger Jahren als Spielzeug – dieselben ausstatten,<br />
ist rührend. Ob man Schweizer oder Engländer sein<br />
muss, um diese Liebe zum Kleinen zu verstehen?<br />
Regula Freuler<br />
Jane Field-Lewis, Chris Hadden: Mein w<strong>und</strong>erbarer<br />
Wohnwagen. Mobil, retro, cool. Fotografien von<br />
Hilary Walker. Knesebeck, München 2011.<br />
160 Seiten, Fr. 30.50.<br />
Rhonda Byrne: The Power.<br />
Dromer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 23.50.<br />
Amy Chua: Die Mutter des Erfolgs.<br />
Nagel & Kimche. 256 Seiten, Fr. 29.90.<br />
Martin Betschart: Ich weiss, wie du tickst.<br />
Orell Füssli. 192 Seiten, Fr. 34.90.<br />
Pascal Voggenhuber: Botschafter der<br />
unsichtbaren Welt. Ansata. 256 S., Fr. 26.90.<br />
Remo H. Largo: Lernen geht anders.<br />
Edition Körber. 190 Seiten, Fr. 21.90.<br />
Natascha Kampusch: 3096 Tage.<br />
List. 220 Seiten, Fr. 33.90.<br />
Richard D. Precht: Wer bin ich – <strong>und</strong> wenn ja,<br />
wie viele? Goldmann. 400 Seiten, Fr. 24.90.<br />
Michael Mittermeier: Achtung Baby!<br />
Kiepenheuer & Witsch. 256 Seiten, Fr. 23.50.<br />
Daniel Domscheit-Berg: Inside WikiLeaks.<br />
Econ. 302 Seiten, Fr. 29.90.<br />
Duden. Die deutsche Rechtschreibung.<br />
25. Auflage. Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 48.90.<br />
Agenda April 2011<br />
Ganze Schweiz<br />
Samstag, 23. April<br />
Unesco-Welttag des Buches. Anlässe in<br />
mehreren Schweizer Städten.<br />
Info: www.welttagdesbuches.ch.<br />
Basel<br />
Dienstag, 5. April, 20 Uhr<br />
Susanna Schwager: Ida. Lesung, Fr. 15.–.<br />
Thalia, Freie Str. 32, Tel. 061 264 26 55.<br />
Donnerstag, 7. April, 19 Uhr<br />
Gabrielle Alioth: Die<br />
griechische Kaiserin.<br />
Lesung. Fr. 15.–.<br />
Literatur haus,<br />
Barfüssergasse 3,<br />
Tel. o61 261 29 50.<br />
Mittwoch, 13. April, 20 Uhr<br />
Jens Steiner: Hasenleben. Lesung, Fr. 20.–.<br />
Allgemeine Lesegesellschaft, Münsterplatz<br />
8, Reservation: Tel. 061 261 43 49.<br />
Bern<br />
Donnerstag, 7. April, 19 Uhr<br />
Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern.<br />
Lesung, Fr. 15.– inkl. Apéro. Buchhandlung<br />
Haupt, Falkenplatz 14,<br />
Tel. 031 309 09 09.<br />
Sonntag, 10. April, 20 Uhr<br />
Juri Andruchowytsch: Gedichte. Konzertante<br />
Performance mit der Band Werwolf<br />
Sutra. Fr. 20.–. ONO, Kramgasse 6,<br />
Vorverkauf: www.onobern.ch.<br />
Zürich<br />
Donnerstag, 7. April, 19 Uhr<br />
Emil Zopfi: Finale. Lesung.<br />
SAC Uto. Schulhaus Hirschengraben,Hirschengraben<br />
46, Info:<br />
www.limmatverlag.ch.<br />
Dienstag , 12. April, 18.30 Uhr<br />
Alice Chalupny: Victory <strong>und</strong> Vekselberg.<br />
Buchvernissage. Rüffer & Rub, Sachbuchverlag,<br />
Konkordiastrasse 20. Anmeldung:<br />
Tel. 044 381 77 30.<br />
Mittwoch, 13. April, 20 Uhr<br />
Linus Reichlin: Er. Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten,<br />
Festsaal, Pelikanplatz 1,<br />
Tel. 044 225 33 77.<br />
Montag, 18. April, 19.30 Uhr<br />
Marcel Hänggi: Ausgepowert. Buchvernissage,<br />
Lesung. Kanzlei-Turnhalle,<br />
Kanzleistrasse 56.<br />
Mittwoch, 20. April, 20.30 Uhr<br />
Catalin Dorian Florescu: Jacob beschliesst<br />
zu lieben. Lesung <strong>und</strong> Apéro,<br />
Fr. 15.–. Orell Füssli am Bellevue, Theaterstrasse<br />
8, Tel. 0848 849 848.<br />
Bücher am Sonntag Nr. 4<br />
erscheint am 24. 4. 2011<br />
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am<br />
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60<br />
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange<br />
Vorrat – beim K<strong>und</strong>endienst der NZZ, Falkenstrasse 11,<br />
8001 Zürich, erhältlich.<br />
3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27<br />
SILVIA WIEGERS<br />
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Schillernd wie Dichtung, wahr wie <strong>das</strong> Leben.<br />
Biografien.<br />
Wenige Menschen werden sich rühmen können, so aktiv für die Erhaltung der<br />
Natur gekämpft zu haben wie der 88-jährige Luc Hoffmann. In diesem Buch<br />
erzählt der sonst eher wortkarge <strong>und</strong> zurückhaltende Mann dem Schriftsteller <strong>und</strong><br />
Publizisten Jil Silberstein sein reich erfülltes Leben.<br />
Fr. 40.– / € 33.–<br />
Ab 13. 4. 2011 erhältlich<br />
www.nzz-libro.ch<br />
Luc Hoffmann<br />
Der Mitbegründer des<br />
WWF im Gespräch mit<br />
Jil Silberstein.<br />
200 S., 30 Abb.,<br />
Klappenbroschur.<br />
Monsieur Simon Simons Leben war schillernder als es Fiktion jemals sein könnte.<br />
Ein Lebemann <strong>und</strong> Weltbürger, ein Causeur <strong>und</strong> Charmeur. Sekretär Clemenceaus,<br />
Geliebter Piafs. Sich selbst nannte er augenzwinkernd: Operettenbaron von Zürich.<br />
Fr. 28.–<br />
Claus Helmut Drese<br />
Monsieur Simon Simon<br />
276 S., zahlr. Abb.,<br />
Klappenbroschur.<br />
10CEXKIQ6AMAwF0BPR_LZrR6kkc8sEwc8QNPdXJBjEc6_3NMJnb-NsRzJQbGFV90gLI6meqwih1ISKCJg3hHqJqJr_nuBwhU6m57pfddKe8FoAAAA=<br />
10CAsNsjY0MDAx1TU0NjYzswQAeOJRrg8AAAA=<br />
Benjamin Steffen<br />
Christof Gertsch<br />
Fabian Cancellaras<br />
Welt Die Geschichte eines Radrennfahrers<br />
Cancellara gehört zu den populärsten Sportlern der Schweiz, obwohl kaum eine<br />
Sportart öffentlich so in der Kritik steht wie seine. Zwei Journalisten sind dieser<br />
Diskrepanz auf der Spur. Inausführlichen Gesprächen mit ihm, seinen Weggefährten<br />
<strong>und</strong> Familienangehörigen erschliessen sie «Fabian Cancellaras Welt».<br />
Fr. 39.– / € 33.–<br />
Gespräche<br />
mit<br />
PETER BICHSEL<br />
MASSIMO ROCCHI<br />
GUNTER GEBAUER<br />
Verlag <strong>Neue</strong> <strong>Zürcher</strong> <strong>Zeitung</strong><br />
Benjamin Steffen, Christof<br />
Gertsch<br />
Fabian Cancellaras Welt<br />
167 S., 24 farb. Abb.,<br />
Klappenbroschur.<br />
Eine einmalige Mischung aus literarischem Vergnügen <strong>und</strong> wissenschaftlichem<br />
Thriller. Die fesselnde Lebensgeschichte des weltweit renommierten Biochemikers<br />
Gottfried Schatz.<br />
Fr. 34.–<br />
Gottfried Schatz<br />
Feuersucher<br />
229 S., 21 Zeichnungen,<br />
geb<strong>und</strong>en.