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Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

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<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong> | Matthias Zschokke Lieber<br />

Niels | Angela Merkel Die Biografie | Hannah Arendt <strong>und</strong> der Eichmann-<br />

Prozess | Fotoalbum zu Gustav Mahler | Der Kodex 801 Geschichte einer<br />

Restaurierung | Weitere Rezensionen zu Michel Houellebecq, Mike Jay,<br />

Liu Xiaobo, Ian Morris <strong>und</strong> anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese<br />

Nr. 3 | 3. April 2011


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Inhalt<br />

Menschliche<br />

Grösse zeigt sich<br />

im Unglück<br />

Belletristik<br />

4 Matthias Zschokke: Lieber Niels<br />

Von Thomas Feitknecht<br />

6 <strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong>: <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong><br />

Von David Signer<br />

7 Rolf Hermann: Kurze Chronik einer<br />

Bruchlandung<br />

Von Manfred Papst<br />

8 Andrea Levy: Das lange Lied eines Lebens<br />

Von Pia Horlacher<br />

Pieter Hugo: Permanent Error<br />

Von Gerhard Mack<br />

9 Michel Houellebecq: Karte <strong>und</strong> Gebiet<br />

Von Stefan Zweifel<br />

10 Aris Fioretos: Der letzte Grieche<br />

Von Sandra Leis<br />

11 Linus Reichlin: Er<br />

Von Christine Brand<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

11 Alice Schmid: Dreizehn ist meine Zahl<br />

Von Regula Freuler<br />

Xavier de Maistre: Reise um mein Zimmer<br />

Von Manfred Papst<br />

Matthias Politycki: London für Helden<br />

Von Manfred Papst<br />

Isabel Morf: Satzfetzen<br />

Von Regula Freuler<br />

Essay<br />

Nr. 3 | 3. April 2011<br />

<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong> | Matthias Zschokke Lieber<br />

Niels | Angela Merkel Die Biografie | Hannah Arendt <strong>und</strong> der Eichmann-<br />

Prozess | Fotoalbum zu Gustav Mahler| Der Kodex 801 Geschichte einer<br />

Restaurierung | Weitere Rezensionen zu Michel Houellebecq, Mike Jay,<br />

Liu Xiaobo, Ian Morris <strong>und</strong> anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese<br />

<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong><br />

(Seite 6).<br />

Illustration von<br />

André Carrilho<br />

12 Kodex 801: Aus dem Leben eines<br />

Gebetbuches<br />

Ein Augenschein im Restaurierungsatelier<br />

der Universitätsbibliothek Bern<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Kolumne<br />

15 Charles Lewinsky<br />

Das Zitat von Plinius dem Älteren<br />

Heiter über <strong>das</strong> Tragische zu schreiben, zeichnet grosse Literatur aus.<br />

In ihrem neuen Roman «Das lange Lied eines Lebens» schildert die<br />

karibischstämmige Andrea Levy, <strong>das</strong> Schicksal eines Sklavenkindes aus<br />

Jamaika, <strong>das</strong> von seiner Mutter getrennt wird – «wie ein Kälbchen, <strong>das</strong><br />

der Kuh weggenommen wird» (Seite 8). Es ist mehr als die fiktive <strong>und</strong><br />

dennoch wahre Geschichte einer Sklavin. Es ist die mitreissend<br />

erzählte Geschichte einer Emanzipation. Levy zeigt, wie der Stolz eines<br />

Opfers die Schande überwindet, wie Heiterkeit die Scham besiegt.<br />

Überlebenswille <strong>und</strong> Gelassenheit angesichts eines monströsen<br />

Unglücks – diese Fähigkeiten haben uns in den letzten Wochen auch<br />

viele Menschen in Japan vorgelebt.<br />

Mit Witz, Distanz <strong>und</strong> ohne Pathos hat sich die jüdische Philosophin<br />

Hanna Arendt mit einer anderen Monstrosität auseinandergesetzt: mit<br />

den Verbrechen des Nationalsozialismus. Ihre klugen Analysen <strong>und</strong><br />

Kommentare über den Eichmann-Prozess, der vor genau 50 Jahren, im<br />

April 1961, in Jerusalem stattgef<strong>und</strong>en hat, sind in zwei neuen Büchern<br />

wieder zu lesen (S. 19). Diese <strong>und</strong> weitere Besprechungen anregender<br />

<strong>Neue</strong>rscheinungen finden Sie auf den folgenden Seiten.<br />

Aus versandtechnischen Gründen erscheint die vorliegende Ausgabe<br />

eine Woche später als angekündigt. Die nächste Nummer folgt wie<br />

gewohnt am letzten Sonntag des Monats: am 24. April. Urs Rauber<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

15 Marc Baumann, Martin Langeder u.a.:<br />

Feldpost<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

Markus Reiter: Lob des Mittelmasses<br />

Von Urs Rauber<br />

Silvana Schmid: La Lupa<br />

Von Urs Rauber<br />

Hans Christoph Binswanger: Die<br />

Glaubensgemeinschaft der Ökonomen<br />

Von Charlotte Jacquemart<br />

Sachbuch<br />

16 Ian Morris: Wer regiert die Welt?<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Hanna Arendt (1906–1975) prägte <strong>das</strong> berühmte Diktum<br />

von der «Banalität des Bösen».<br />

18 Bei Ling: Der Freiheit geopfert<br />

Von Harro von Senger<br />

Daniel Domscheit-Berg: Inside Wikileaks<br />

Von Michael Furger<br />

19 Hanna Arendt, Joachim Fest: Eichmann war<br />

von empörender Dummheit<br />

Marie Louise Knott: Verlernen<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

20 Gilbert Kaplan: Das Mahler Album<br />

Kurt Blaukopf: Gustav Mahler<br />

Von Corinne Holtz<br />

21 Tristram Stuart: Für die Tonne<br />

Von Sabine Sütterlin<br />

Sabine Appel: Friedrich Nietzsche<br />

Von Manfred Koch<br />

22 Cora Stephan: Angela Merkel. Ein Irrtum<br />

Von Ina Boesch<br />

Michael Hüther: Die disziplinierte Freiheit<br />

Von Sebastian Bräuer<br />

23 Barbara Hutzl-Ronge: Magischer Bodensee<br />

Von Adrian Krebs<br />

Antonia Meiners: Wir haben wieder aufgebaut<br />

Von Regula Freuler<br />

24 Mike Jay: High Society<br />

Von Peter Durtschi<br />

25 Verena Siegrist: Bewegte Zeiten – bewegtes<br />

Leben<br />

Von Urs Rauber<br />

Inge Sprenger Viol: Erst recht<br />

Von Michael Nägeli<br />

26 Gottfried Schatz: Feuersucher<br />

Von Patrick Imhasly<br />

Das amerikanische Buch: Alan Lomax<br />

Von Andreas Mink<br />

Agenda<br />

27 Jane Field-Lewis: Mein Wohnwagen<br />

Von Regula Freuler<br />

Bestseller März 2011<br />

Belletristik <strong>und</strong> Sachbuch<br />

Agenda April 2011<br />

Veranstaltungshinweise<br />

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)<br />

Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,<br />

Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG<br />

Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />

Jewish ChroniCle ArChive / heritAge imAges<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3


Belletristik<br />

Briefe Kaum ein anderer Autor vermag <strong>das</strong> Leiden an der Gegenwart so vergnüglich zu<br />

schildern <strong>und</strong> gleichzeitig so brillant in Frage zu stellen wie Matthias Zschokke<br />

Journal im<br />

Mail-Format<br />

Matthias Zschokke: Lieber Niels.<br />

Wallstein, Göttingen 2011. 764 Seiten,<br />

Fr. 43.90.<br />

Von Thomas Feitknecht<br />

Seit 1982 korrespondiert der 1954 in<br />

Bern geborene Wahlberliner Matthias<br />

Zschokke mit dem elf Jahre älteren Kölner<br />

Autor <strong>und</strong> Literaturkritiker Niels<br />

Höpfner. Ungefähr 3000 Briefe hat er in<br />

den ersten zwanzig Jahren per Post <strong>und</strong><br />

Fax versandt, <strong>und</strong> seither sind weitere<br />

Tausende von Mails hinzugekommen.<br />

Die nun gedruckt vorliegende Auswahl<br />

der Mails aus dem Textkorpus 2002 bis<br />

2009 umfasst immer noch r<strong>und</strong> 764<br />

Buchseiten. 764 Seiten? Ja, gewiss, ein<br />

ungewöhnlich dickes Buch des Autors,<br />

der den Roman «Der dicke Dichter» geschrieben<br />

hat. Doch nach ein paar Seiten<br />

verspürt der Leser einen Sog, der ihn<br />

weiter <strong>und</strong> weiter hineinzieht. Ein «Lesesog»,<br />

wie ihn Zschokke bei der Lektüre<br />

der Briefe von Gottfried Benn an den<br />

Bremer Kaufmann <strong>und</strong> Kunstfre<strong>und</strong><br />

Friedrich Wilhelm Oelze erlebt.<br />

Matthias Zschokke<br />

Der Schweizer Autor <strong>und</strong> Filmemacher<br />

Matthias Zschokke (*1954) lebt seit<br />

1980 in Berlin. Er debütierte 1982 mit<br />

dem Roman «Max», dem der Robert-<br />

Walser-Preis zugesprochen wurde <strong>und</strong><br />

dem seither neun weitere Prosabände<br />

folgten. Für «Maurice mit Huhn» erhielt<br />

Zschokke 2006 den Solothurner Literaturpreis<br />

<strong>und</strong> den Schweizerischen Schillerpreis<br />

sowie 2009 (als erster<br />

deutschsprachiger Autor) den französischen<br />

Literaturpreis «Prix Femina<br />

Étranger». Nach der Schliessung des<br />

<strong>Zürcher</strong> Ammann-Verlages wechselte<br />

Zschokke zum Göttinger Wallstein-<br />

Verlag, der in diesem Frühjahr auch den<br />

1995 erschienenen Roman «Der dicke<br />

Dichter» wieder auflegt. Der Genfer<br />

Verlag Zoé hat Zschokke im französischen<br />

Sprachraum bekannt gemacht.<br />

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

Dass private Briefe bereits zu Lebzeiten<br />

der Schreibenden publik werden,<br />

weil sie weit über <strong>das</strong> Persönliche hinausgehen,<br />

ist in der Literatur kein neues<br />

Phänomen. Schon zu Lebzeiten von Madame<br />

de Sévigné zirkulierten im späten<br />

17. Jahrh<strong>und</strong>ert Briefe von ihr in Abschriften.<br />

Die Korrespondenzen des<br />

Berner Patriziers Karl Viktor von Bonstetten<br />

an den deutschen Dichter Friedrich<br />

von Matthisson <strong>und</strong> an die dänischdeutsche<br />

Schriftstellerin Friederike<br />

Brun erschienen in Buchform mehrere<br />

Jahre vor Bonstettens Tod 1832. Und in<br />

jüngster Zeit kennen wir auch bereits<br />

die Veröffentlichung von Mails, <strong>und</strong><br />

zwar seit Michel Mettler vor zwei Jahren<br />

Jürg Laederachs «Depeschen nach<br />

Mailland» herausgegeben hat.<br />

Der «Traum von Kunst»<br />

Laederachs <strong>und</strong> Zschokkes Mails decken<br />

sich teilweise zeitlich <strong>und</strong> thematisch:<br />

Die beiden Autoren (die sich übrigens<br />

gegenseitig Reverenz erweisen)<br />

kämpfen mit den Tücken der Telekommunikation,<br />

schreiben über gleiche politische<br />

<strong>und</strong> sportliche Ereignisse <strong>und</strong><br />

berichten über ihre persönliche Befindlichkeit<br />

<strong>und</strong> ihre Depressionen. Doch<br />

«Lieber Niels» geht weiter, ist dichter,<br />

inhaltlich vielschichtiger, hat eher Züge<br />

von Henri-Frédéric Amiels «Journal intime»<br />

(ohne dessen Religiosität), Ludwig<br />

Hohls «Notizen» (ohne deren Dogmatismus)<br />

oder Paul Nizons «Journalen»<br />

(ohne deren Erotomanie).<br />

Zschokkes digitale Botschaften an<br />

seinen abwesenden Fre<strong>und</strong> Niels konnten<br />

in den vergangenen Wochen bereits<br />

Tag für Tag – zeitverschoben um fünf<br />

Jahre – im Internet «vorabgelesen» werden.<br />

Dem Medium entsprechend sind<br />

die einzelnen Eintragungen dieses Online-Tagebuchs<br />

kürzer als in den meisten<br />

Dichter-Diarien auf Papier, prägnanter<br />

auch <strong>und</strong> spontaner. Jetzt als Buch,<br />

sozusagen umgewandelt in die analoge<br />

Form, üben sie mit dem Funkeln <strong>und</strong><br />

Flimmern der Sprache, mit dem Leichtfüssigen<br />

<strong>und</strong> Eleganten der Formulierungen<br />

diesen ganz besonderen «Lesesog»<br />

aus. Der Leser wird, von Seite zu<br />

Seite, immer wieder überrascht. Das<br />

Buch ist ein ironisches Reflektieren in<br />

Gegensätzen, es lebt von Wiederholung<br />

<strong>und</strong> Widerspruch, Übertreibung <strong>und</strong><br />

Untertreibung, Urteil <strong>und</strong> Vorurteil.<br />

«Lieber Niels» beginnt zeitlich mit<br />

Zschokkes Aufenthalt als Stipendiat der<br />

Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr in<br />

Budapest <strong>und</strong> der Arbeit am Roman<br />

«Maurice mit Huhn». Es folgt ein Zeitabschnitt,<br />

in dem Matthias Zschokke<br />

sich erfolglos um die Realisierung seines<br />

Kinospielfilms «Die Unvollendeten»<br />

bemüht <strong>und</strong> ein Semester lang an<br />

der Universität der Künste in Berlin<br />

Szenisches Schreiben unterrichtet. Das<br />

Buch endet mit den Aufenthalten in Jordanien<br />

auf Einladung des schweizerischen<br />

Botschafters Paul Widmer <strong>und</strong> in<br />

New York als Writer-in-Residence –<br />

Keim des langsam entstehenden Buchs<br />

«Auf Reisen».<br />

Zschokkes Thema ist deshalb immer<br />

wieder die Kunst, der «Traum von<br />

Kunst» <strong>und</strong> die harte Realität des Marktes,<br />

die Hoffnungen <strong>und</strong> Erwartungen<br />

eines Autors, sein Gelingen <strong>und</strong> Scheitern.<br />

«Ich meine heute noch, Kunst<br />

müsse aus dem Überfluss kommen, sie<br />

müsse unnütz sein, frei von jedem Kalkül,<br />

sie müsse von selbst entstehen, aus<br />

einer Laune heraus, sie müsse der pure<br />

Luxus sein, sie dürfe nicht funktionalisiert<br />

werden», meint Zschokke. Die «Industrieschreiberei»<br />

eines Philip Roth,<br />

<strong>das</strong> «Kunsthandwerk à la Thomas<br />

Mann», die «Karaoke-Literatur» findet<br />

Zschokke entsetzlich, die erfolgsabhängige<br />

Kulturförderung verfehlt, die<br />

«Installateure <strong>und</strong> Eventmonteure» im<br />

heutigen Theaterbetrieb ärgern ihn. Er<br />

fragt sich, warum ein Albert Vigoleis<br />

Thelen seinerzeit so wenig wahrgenommen<br />

wurde, <strong>und</strong> er denkt, irgendwo<br />

müsste auch heute ein Tschechow möglich<br />

sein, «die Figur, der Traum, die<br />

Hoffnung, die er verkörperte». Zschokke<br />

weiss, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> zunächst einmal sein<br />

eigenes Problem ist, aber wenn er es in<br />

Worte zu fassen versucht, so deshalb,<br />

weil er es für eine allgemeine Zeiterscheinung<br />

hält. Dabei macht er historische<br />

Parallelen sichtbar: Eingehend beschäftigt<br />

er sich mit dem englischen<br />

Autor George Gissing, der Ende des


19. Jahrh<strong>und</strong>erts in seinem Roman «New<br />

Grubb Street» den Fluch des Literaturkommerzes<br />

<strong>und</strong> des «Zeilengelds» (so<br />

der Titel der deutschen Übersetzung)<br />

schildert.<br />

Flucht aus der Zeit<br />

Immer wieder liebäugelt Zschokke<br />

damit, der Zeit zu entfliehen, nach Imperia-Oneglia<br />

zum Beispiel: Diese real<br />

existierende Doppelstadt an der ligurischen<br />

Küste wird in seinen Mails zum<br />

imaginären Fluchtpunkt, zum erträumten<br />

Orts- <strong>und</strong> Wohnungswechsel, der<br />

sich immer wieder verflüchtigt: «Das<br />

stelle ich mir in düsteren Momenten in<br />

Berlin immer ganz einfach vor. Kaum<br />

komme ich aber in an – <strong>das</strong><br />

steht für die verschiedensten Auswanderungstraumziele<br />

–, gebe ich den Vorsatz<br />

auf <strong>und</strong> gehe einfach ein wenig rum<br />

<strong>und</strong> kehre erschöpft <strong>und</strong> glücklich in<br />

meine Berliner Wohnung zurück.» Dann<br />

wieder stellt sich Zschokke <strong>das</strong> sorgenlose<br />

Wohlleben in der Prunkvilla des<br />

Clowns Grock in Imperia vor, mit mediterranem<br />

Garten, Gästezimmern, Haushälterin<br />

<strong>und</strong> Putzkraft. Er schwärmt von<br />

den «winzigen Kaffeetässchen, Birrinis,<br />

Prosecchinis, Paninis usw.» an der italienischen<br />

Riviera <strong>und</strong> vergegenwärtigt<br />

sich schaudernd ein deutsches Frühstück:<br />

«Was für Riesenbrote, was für<br />

blutigrote Wursträder, was für bedrohliche<br />

Kaffeeeimer einen hingegen in<br />

Crimmitschau schon frühmorgens grim-<br />

Der in Bern geborene<br />

Matthias Zschokke,<br />

hier in seinem Atelier<br />

in Berlin, analysiert<br />

subtil <strong>das</strong> Verhalten<br />

der Massen.<br />

PhiliPPe Matsas / agence OPale<br />

mig anstarren <strong>und</strong> <strong>das</strong> Fürchten lehren!»<br />

Wenn Zschokke schliesslich von seinem<br />

Kölner Briefpartner an Imperias faschistische<br />

Vergangenheit erinnert wird, erwidert<br />

er ungerührt: «War da nicht auch<br />

mal was mit Berlin <strong>und</strong> Nazis? Köln <strong>und</strong><br />

Inquisition? Griechenland <strong>und</strong> Militärjunta?<br />

Spanien <strong>und</strong> Junta? Selbst im<br />

märchenhaften Persien scheint es eine<br />

Vergangenheit zu geben, die Dir nicht<br />

konveniert. Wenn ich an einen unkontaminierten<br />

Ort ziehen wollte, müsste ich<br />

lange suchen. Vielleicht Palau?»<br />

Verw<strong>und</strong>ert über sich selber<br />

Wie gesagt: Für Zschokke sind die persönlichen<br />

Probleme letztlich Symptome<br />

einer gesellschaftlich-politischen Entwicklung,<br />

die alle angeht. Sehr subtil<br />

analysiert er <strong>das</strong> Verhalten der Massen,<br />

die Übergänge von der Begeisterung in<br />

den Fanatismus, u. a. anlässlich der Fussball-Weltmeisterschaft<br />

2006. Er freut<br />

sich über die fröhliche Stimmung auf<br />

den Berliner Chausseen <strong>und</strong> Plätzen,<br />

macht sich über die eigene Begeisterung<br />

lustig <strong>und</strong> fragt Niels launig: «Hast Du<br />

Dir auch ein Fähnchen gekauft?» Aber<br />

ein paar Tage später bereits bemerkt er<br />

nachdenklich: «Gestern kam ich mir bereits<br />

leicht stigmatisiert vor ohne deutsche<br />

Fahne. Nicht mehr lange, <strong>und</strong> man<br />

traut sich nicht mehr unbeflaggt auf die<br />

Strasse. Das ist ein wenig unheimlich.»<br />

Zuweilen klingen die Mails larmoyant<br />

<strong>und</strong> misanthropisch, werden bitter <strong>und</strong><br />

missgünstig. Dann denkt der Leser:<br />

Schon wieder? Muss <strong>das</strong> denn sein?<br />

Aber bereits auf der nächsten Seite wird<br />

alles ganz anders, ist <strong>das</strong> Selbstmitleid<br />

verflogen, löst sich in selbstkritische<br />

Heiterkeit auf. Denn Zschokke lässt sich<br />

immer wieder von einem Film, einer<br />

Opernaufführung oder einer Ausstellung<br />

begeistern, von einer Stadt, einem<br />

Strand oder einer Begegnung faszinieren.<br />

Und dann w<strong>und</strong>ert er sich nicht nur<br />

über die Welt, sondern auch über sich<br />

selber: «Alle Klischees erfüllt, alle widerlegt»,<br />

schreibt er nach der Rückkehr<br />

aus Kalifornien. l<br />

Thomas Feitknecht leitete von 1990 bis<br />

2005 <strong>das</strong> Schweizerische Literaturarchiv<br />

in Bern.<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5


Belletristik<br />

Roman Wiederum unterhält <strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> die Leserschaft mit einer modernen Geschichte, in der<br />

Einfallsreichtum die Mächte des Bösen besiegt<br />

Die Magie schwindet aus<br />

dem Universum<br />

<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong>: <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />

<strong>Lebensfeuer</strong>. Aus dem Englischen von<br />

Bernhard Robben. Rowohlt,<br />

Reinbek 2011. 268 Seiten, Fr. 30.50.<br />

Von David Signer<br />

Am 14. Februar 1989 verurteilte Ayatollah<br />

Khomeini den indisch-britischen<br />

Schriftsteller <strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> wegen<br />

seiner «gotteslästerlichen» Schilderungen<br />

im Roman «Die satanischen Verse»<br />

zum Tod. <strong>Rushdie</strong> musste untertauchen,<br />

lebte isoliert an ständig wechselnden<br />

Orten <strong>und</strong> unter permanenter Bewachung.<br />

In dieser Zeit schrieb er für seinen<br />

Sohn Zafar <strong>das</strong> Märchen «Harun<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> Meer der Geschichten». Es handelt<br />

von einem Mann, dem die Fähigkeit<br />

zum Erzählen abhandenkommt, weil<br />

man ihm den «Geschichtenhahn» abgedreht<br />

hat, <strong>und</strong> der schliesslich von seinem<br />

Sohn gerettet wird.<br />

Inzwischen, berichtet <strong>Rushdie</strong>, las<br />

sein zweiter Sohn Milan dieses Buch<br />

<strong>und</strong> wollte auch eins. Also schrieb er<br />

«<strong>Luka</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong>» für ihn.<br />

Dieses neueste Werk des inzwischen<br />

64-jährigen Autors ist eine Art Fortsetzung,<br />

kann aber auch unabhängig von<br />

«Harun» gelesen werden. <strong>Luka</strong> ist darin<br />

der jüngere Bruder von Harun. Als der<br />

Zirkus «Grosse Feuerreifen» in die Stadt<br />

kommt, verflucht <strong>Luka</strong> dessen Direktor<br />

Captain Aag wegen seiner Grausamkeit.<br />

Tatsächlich bricht noch in derselben<br />

Nacht ein Brand aus, <strong>und</strong> die Tiere erheben<br />

sich gegen ihren Peiniger. Zwei von<br />

ihnen, «H<strong>und</strong> der Bär» <strong>und</strong> «Bär der<br />

H<strong>und</strong>», nehmen Zuflucht bei <strong>Luka</strong>.<br />

Doch dann fällt sein Vater, Raschid Khalifa,<br />

der legendäre Geschichtenerzähler,<br />

plötzlich in einen rätselhaften Schlaf.<br />

Seine Familie ist verzweifelt. Und dann<br />

taucht auch noch Nobodaddy, ein halb<br />

durchsichtiger Doppelgänger des Vaters,<br />

auf.<br />

Rettung dank Naivität<br />

Es stellt sich heraus, <strong>das</strong>s ihn der rachsüchtige<br />

Captain Aag geschickt hat, um<br />

<strong>Luka</strong>s Vater seine Identität zu stehlen. Je<br />

schwächer der wird, umso lebensvoller<br />

wird Nobodaddy. Es gibt nur eine einzige<br />

Möglichkeit, diesen fatalen Prozess<br />

zu stoppen: <strong>Luka</strong> muss ins Reich der<br />

Magie reisen, dort <strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong> entwenden<br />

<strong>und</strong> es seinem Vater raschmöglichst<br />

verabreichen.<br />

Der Hauptteil des Buches handelt von<br />

dieser modernen Gralssuche, die den<br />

Jungen durch eine unheimliche <strong>und</strong><br />

abenteuerliche Gegenwelt führt, erzählt<br />

in einer Mischung aus Fantasy, Trickfilm,<br />

Epos <strong>und</strong> Videogame. Das Buch<br />

6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

<strong>Salman</strong> <strong>Rushdie</strong> hat<br />

ein weiteres, leichtfüssiges<br />

Märchen<br />

geschrieben – auch<br />

für Erwachsene.<br />

erlaubt mehrere Lesarten: Jugendliche<br />

mögen es als actionreichen, spannenden,<br />

verrückten Trip verschlingen; ältere<br />

Leser verstehen es vielleicht als Allegorie<br />

des Problems, wie man sich dem<br />

Schw<strong>und</strong> der Imagination, der Kreativität<br />

<strong>und</strong> der Spontaneität widersetzen,<br />

wie man <strong>das</strong> eigene <strong>Lebensfeuer</strong> retten<br />

kann. Oder, politischer ausgedrückt:<br />

wie man angesichts von Autoritäten,<br />

Manipulation <strong>und</strong> Repression die Freiheit<br />

aufrechterhält, sei es individuell, sei<br />

es kollektiv. Oder, <strong>und</strong> hier verschwimmen<br />

die Lesarten: wie man sich trotz<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> (vorgeblichem) Wissen<br />

einen unverstellten kindlichen oder<br />

jugendlichen Blick auf die Welt bewahren<br />

kann. Denn wie so oft in Märchen<br />

<strong>und</strong> Mythen rettet auch in «<strong>Luka</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>das</strong> <strong>Lebensfeuer</strong>» der Junge seinen<br />

Vater am Ende gerade dank einer gewissen<br />

Unschuld <strong>und</strong> Naivität. Und dank<br />

einer Magie, die <strong>Rushdie</strong> einem «erwachsenen»<br />

Pragmatismus gegenüberstellt,<br />

der immer weniger Spielraum<br />

übrig lässt.<br />

PAUL STUART / CAMERA PRESS / KEYSTONE<br />

«Die Magie schwindet aus dem Universum»,<br />

erklärt die mächtige Zauberin<br />

Soraya <strong>Luka</strong>, während sie auf dem fliegenden<br />

Teppich über zerfallende Pyramiden<br />

sausen. «Eines Tages aber werdet<br />

ihr wach, <strong>und</strong> wir sind fort; dann sollt<br />

ihr spüren, wie es sich in einer Welt lebt,<br />

wo Magie nicht einmal mehr in den Gedanken<br />

existiert.»<br />

Tödlich gekränkte Ratten<br />

Es finden sich herrliche Persiflagen <strong>und</strong><br />

Minisatiren in dem Buch, beispielsweise<br />

<strong>das</strong> Kapitel über die Ratten des «Ich-<br />

Respektorats». Dauernd sind sie gekränkt,<br />

<strong>und</strong> sogar wenn sich ausnahmsweise<br />

mal eine Nichtratte beleidigt<br />

fühlt, empfinden sie <strong>das</strong> als Respektlosigkeit.<br />

«Unverschämtheit», kreischt die<br />

Grenzratte einmal <strong>Luka</strong> <strong>und</strong> seine beiden<br />

Begleiter H<strong>und</strong> <strong>und</strong> Bär an. «Ihr behauptet,<br />

beleidigt zu sein? Ich finde, <strong>das</strong><br />

ist eine tödliche Kränkung, Und wer<br />

eine Ratte tödlich kränkt, der hat alle<br />

Ratten schwer gekränkt.»<br />

Jeder kann sich selber ausmalen,<br />

wofür die respektversessenen Ratten<br />

stehen. Es gibt viele Möglichkeiten. Klar<br />

ist, <strong>das</strong>s die Sympathie des Autors eher<br />

bei ihren Gegenspielern, den Ottern <strong>und</strong><br />

ihrer Anführerin Soraya, liegt. Die Ottern<br />

sind Anhänger des Exzesses <strong>und</strong><br />

der Übertreibung in allen Formen, <strong>und</strong><br />

dazu gehört, <strong>das</strong>s sie nichts lieber tun,<br />

als andere <strong>und</strong> auch sich selber – re spektlos<br />

– durch den Kakao zu ziehen. Sie<br />

besiegen die Respekto-Ratten schliesslich<br />

durch einen Juckpulver-Luftangriff.<br />

Köstlich ist auch die Odyssee durch<br />

<strong>das</strong> Pantheon der abgehalfterten Götter.<br />

Was gibt es für einen Allmächtigen wie<br />

Zeus, Jupiter, Ra oder Wotan Schlimmeres,<br />

als ins Abseits gestellt zu werden,<br />

weil niemand mehr an ihn glaubt? Die<br />

Pointe des Buches liegt darin, <strong>das</strong>s <strong>Luka</strong><br />

schliesslich all die mythischen <strong>und</strong> religiösen<br />

Helden für sich gewinnen kann,<br />

indem er sie davon überzeugt, <strong>das</strong>s sie<br />

vom menschlichen Einfallsreichtum<br />

<strong>und</strong> also vom Überleben von Künstlern<br />

wie Raschid abhängen.<br />

Es gibt in <strong>Rushdie</strong>s neuem Werk viel<br />

Kapriolen <strong>und</strong> Sprachakrobatik. Manchen<br />

Lesern mag es gar zu leichtfüssig<br />

daherkommen. Zahlreiche Seiten sind<br />

wie Zuckerwatte: Sie sind süss, aber<br />

lösen sich nach kurzer Zeit in Nichts<br />

auf. Was man <strong>Rushdie</strong> jedoch zugute<br />

halten muss: Trotz dem Märchengenre<br />

gleitet er nie in Kitsch oder ins Pittoreske<br />

ab. Dafür ist er zu sehr Anarchist.<br />

Und wenn er kürzlich verlauten liess, er<br />

habe schon lange nicht mehr so viel<br />

Spass gehabt wie bei diesem Werk, so<br />

glaubt man ihm gerne. Es ergeht einem<br />

als Leser nämlich ebenso. ●


Lyrik Der Walliser Autor Rolf Hermann überzeugt auch mit Collagen<br />

Poetische Betrachtungen<br />

über<br />

eine Büroklammer<br />

Rolf Hermanns<br />

Collage «Private<br />

Quiz Show» ergänzt<br />

sinnfällig sein<br />

Gedicht.<br />

Rolf Hermann: Kurze Chronik einer<br />

Bruchlandung. Gedichte mit Collagen<br />

des Autors. X-Time, Bern 2011.<br />

101 Seiten, Fr. 20.–.<br />

Von Manfred Papst<br />

Eine Milbe studiert ein schräg hängendes<br />

Tafelbild auf unverputzter Wand. Es<br />

zeigt <strong>das</strong> Wachstum eines Vulkankegels<br />

zwischen Juli <strong>und</strong> Oktober 1767. Die<br />

Milbe erforscht wie kaum ein anderes<br />

Tier die Übergänge zwischen Liegen<br />

<strong>und</strong> Sitzen. Der Dichter steht derweil<br />

demütig am Herd, lässt Salzwasser aufkochen,<br />

legt einen Bindfaden hinein. Mit<br />

seinem Lieblingstier will er ein Buch im<br />

Wachzustand schreiben. Die beiden<br />

zählen bis zehn, doch bei vier fallen<br />

ihnen die Augen zu.<br />

Wer Sinn für solche surrealistischen<br />

Sprachbilder hat, der ist bei Rolf Hermann<br />

gut aufgehoben. Der 1973 im<br />

Wallis geborene Autor <strong>und</strong> Collage-<br />

Künstler hat mit «Kurze Chronik einer<br />

Bruchlandung» soeben seinen zweiten<br />

Gedichtband vorgelegt. Er ist exakt so<br />

aufgebaut wie sein 2007 (ebenfalls bei<br />

X-Time) erschienener Vorgänger, der<br />

den so umständlichen wie schönen Titel<br />

«Hommage an <strong>das</strong> Rückenschwimmen<br />

in der Nähe von Chicago <strong>und</strong> anderswo»<br />

trug: Fünf Gruppen von Gedichten,<br />

darunter der zehnteilige Zyklus «Der<br />

Hosenträgerpianist», verbinden sich<br />

mit Collagen des Autors.<br />

Diese entstammen seinem gross<br />

ange legten «Museum nach eigenen<br />

Regeln». Darin kombiniert Hermann<br />

Ausschnitte aus bekannten Gemälden<br />

verschiedenster Epochen mit Fotos,<br />

Schriftzügen <strong>und</strong> Schildern zu so ab-<br />

MARIE R. TRÜB<br />

gründigen wie witzigen Gebilden, die er<br />

fiktiven Künstlern <strong>und</strong> Standorten zuordnet.<br />

«Rudy Angel van der Weyden»,<br />

lesen wir da zum Beispiel, «Peeping<br />

John, 1464–2008, Oil and Tempera on<br />

Wood, 19,5 × 14,3 cm, Private Collection,<br />

Randclove». Das Bild zitiert van der<br />

Weyden, Bronzino <strong>und</strong> Ingres. Eine andere<br />

Collage Hermanns, «Private Quiz<br />

Show», wird Marie R. Trüb zugeschrieben<br />

<strong>und</strong> hängt angeblich im Museum of<br />

Cultural Art in Tarnewitz. Es zitiert<br />

Marie Louise Catherine Breslau <strong>und</strong><br />

Wilhelm Trübner.<br />

Bild <strong>und</strong> Text ergänzen sich bei Hermann<br />

aufs Sinnfälligste. Seine Gedichte<br />

sind federleicht <strong>und</strong> doch tiefsinnig, von<br />

ausserordentlicher Musikalität <strong>und</strong><br />

plastischer Kraft. Sie gehen von exakten<br />

kleinen Wahrnehmungen im Alltag aus,<br />

die sie dann verdichten, verfremden, in<br />

der Art eines Flickenteppichs verarbeiten.<br />

Alles Pathetische <strong>und</strong> Prätentiöse<br />

ist ihnen fremd. Natürlich sind sie nicht<br />

alle gleichermassen gelungen; doch von<br />

welchem Lyriker liesse sich solches<br />

schon behaupten?<br />

Rolf Hermann lässt sich viel Zeit für<br />

sein lyrisches Schaffen. Doch neben seinen<br />

Gedichten ist der 38-Jährige mit<br />

etlichen Hörspielen, Theater- <strong>und</strong> Performance-Texten<br />

hervorgetreten. Zusammen<br />

mit Michael Stauffer hat er die<br />

Hörspiele «Kein Zucker im Kaffee:<br />

Hommage an Grossmutter» <strong>und</strong> «Am<br />

Tag vor der Abreise», eine Würdigung<br />

des Zermatter Dichters Hannes Taugwalder,<br />

verfasst.<br />

Mit dem Trio «Gebirgspoeten», zu<br />

dem neben Rolf Hermann Matto Kämpf<br />

<strong>und</strong> Achim Parterre gehören, hat er die<br />

CD «Letztbesteigung» (Ges<strong>und</strong>er Menschenversand<br />

2010) herausgegeben, eine<br />

Sammlung skurriler M<strong>und</strong>arttexte. Als<br />

Spoken-Word-Künstler trägt Rolf Hermann,<br />

der in Bern, Fribourg <strong>und</strong> Iowa<br />

studiert hat, seine Texte auf Hochdeutsch,<br />

in Walliser M<strong>und</strong>art <strong>und</strong> auch<br />

auf Englisch vor.<br />

In Susten ist er aufgewachsen, in Biel<br />

lebt <strong>und</strong> arbeitet er, doch seine eigentliche<br />

Heimat ist die Welt zwischen den<br />

Wörtern, <strong>das</strong> Reich zwischen Traum<br />

<strong>und</strong> Wachen. Er vertieft sich in die Betrachtung<br />

einer Büroklammer <strong>und</strong> entdeckt<br />

sein Selbstporträt. Die Vorstellung<br />

einer im Schlick schlafenden Seeschnecke<br />

versetzt ihn in einen Zustand<br />

allumfassender Zuversicht. Summend<br />

wiegt er seine Urteilskraft in den Schlaf.<br />

Lieber bleibt er ratlos, als <strong>das</strong>s er<br />

Schwarzwurzeln kaut. Erschöpft liegt er<br />

zwischen zwei Buchdeckeln <strong>und</strong> schiebt<br />

sich zurück ins Regal. ●<br />

©NZZ<br />

405 Seiten. Geb<strong>und</strong>en<br />

sFr 30,50(UVP) / f 19,95<br />

„Catalin Dorian Florescu<br />

katapultiert<br />

sich mit seinem neuen<br />

Roman in die vorderste<br />

Reihe unserer<br />

Literatur …Esist ein<br />

wirkliches Buch der<br />

Liebe geworden. Alle<br />

10CAsNsjY0MDAx0jUwMDQ3NQIA42pcPw8AAAA=<br />

Achtung.“<br />

10CEXKIQ6AMAwF0BPR_N-t60YlmVsQBD9D0NxfkWAQz70xwgSfre9nP4JA1gWgmwbNpKGEVxM2DyS6glyZzbR4LfHvCbaSkCblue4XikSUVVoAAAA=<br />

Elke Heidenreich,<br />

FAZ<br />

„Wenn Catalin Dorian<br />

Florescu erzählt, blühen<br />

die Seiten.“<br />

Martin Amanshauer,<br />

Der Standard<br />

C.H.BECK<br />

www.chbeck.de<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7


Belletristik<br />

Roman Andrea Levy schildert die fiktive Lebensgeschichte einer Sklavin in der Karibik<br />

Scham mit Heiterkeit überwinden<br />

Andrea Levy: Das lange Lied eines Lebens.<br />

Aus dem Englischen von Hans-Christian<br />

Oeser. DVA, München 2011. 364 Seiten,<br />

Fr. 33.90.<br />

Von Pia Horlacher<br />

Es hätte ein trauriges Lied werden können.<br />

Und ein kurzes. Feldsklavinnen auf<br />

den Zuckerrohrplantagen in Jamaika<br />

sind nicht alt geworden, zu brutal war<br />

die Schinderei, die ihnen die britischen<br />

Kolonialherren abtrotzten. Erst recht<br />

nicht kurz vor Ausbruch der blutigen<br />

Aufstände, die dazu beigetragen haben,<br />

<strong>das</strong>s dort die Sklaverei, nach r<strong>und</strong> dreih<strong>und</strong>ert<br />

Jahren, 1834 mit dem Slavery<br />

Abolition Act offiziell abgeschafft<br />

wurde. Doch July hatte schon vorher<br />

Glück im Unglück – so man unter diesen<br />

Umständen von Glück reden will. Das<br />

hübsche Kind einer Feldsklavin <strong>und</strong><br />

eines weissen Aufsehers erregt zufällig<br />

die Aufmerksamkeit von Caroline Mortimer,<br />

Schwester des Besitzers einer<br />

gutgehenden Plantage mit prächtigem<br />

Herrschaftshaus.<br />

Die Witwe nimmt <strong>das</strong> «süsse Ding»<br />

zu sich, als eine Art Kuscheltier gegen<br />

<strong>das</strong> Heimweh, <strong>das</strong> sie in diesem fremden<br />

Land plagt. July – sie erhält gleich einen<br />

passenderen Namen – wird als ihr persönliches<br />

Hausmädchen trainiert. Die<br />

Trennung von der Mutter ist nicht der<br />

Rede wert – Sklaven wurden wie Vieh<br />

gehalten, <strong>und</strong> July gilt nicht mehr als ein<br />

Kälbchen, <strong>das</strong> der Kuh weggenommen<br />

wird. Eine Weile noch schleicht Kitty,<br />

die Mutter, des Nachts ums grosse Haus,<br />

dann verschwindet sie für lange Jahre<br />

aus dem Leben <strong>und</strong> dem Lied ihrer<br />

Tochter: «The Long Song», wie July ihre<br />

Memoiren nennt, die sie als alte <strong>und</strong><br />

mittlerweile freie Frau am Ende ihres<br />

Lebens schreibt.<br />

Doch «Das Lange Lied eines Lebens»<br />

ist kein Trauergesang geworden, keine<br />

bittere Poesie aus den Abgründen der<br />

Barbarei wie bei Toni Morrison, sondern<br />

die erstaunlich heitere Erzählung<br />

von der tapferen Überlebenskunst einer<br />

Frau in den Ketten der Sklaverei. Dass<br />

solche Ketten, solche Unterdrückung<br />

für Frauen noch immer existieren, wenn<br />

auch unter anderem Namen, ist eine gewiss<br />

nicht zufällige Nebenerkenntnis<br />

des Romans von Andrea Levy, selbst<br />

Nachfahrin jamaikanischer Einwanderer<br />

in England. Das System der Sklaverei<br />

lebt vom ökonomischen Besitzanspruch<br />

des weissen Mannes über den schwarzen<br />

Körper, dessen Gr<strong>und</strong>muster die<br />

sexuelle Unterwerfung des weiblichen<br />

Körpers ist. So beginnt <strong>das</strong> Buch denn<br />

auch mit jener selbstverständlich anmutenden<br />

Vergewaltigung von Kitty, der<br />

schliesslich July entspringt. Eine beiläufige,<br />

alltägliche Tat, doch für die Opfer<br />

eine Schande, die sie nur in der Umdeutung<br />

– als gottgegebene Herrschaftsverhältnisse<br />

– oder der Leugnung überleben<br />

können. Wie Kitty, die sich ein-<br />

8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

redet, <strong>das</strong>s der Aufseher sie einfach<br />

wieder einmal von hinten angerempelt<br />

hat, ein bisschen grob, wie üblich.<br />

Diese Leugnung der Schande – die<br />

Sozialpsychologie nennt es heute Internalisierung<br />

– <strong>und</strong> die schmerzliche<br />

Überwindung der Scham sind thematisch<br />

zentral für die raffinierte Erzählperspektive,<br />

ja für die Motivation des<br />

Romans. Andrea Levy lässt Miss July<br />

ihre Geschichte erzählen unter der<br />

strengen Aufsicht ihres Sohnes, den sie<br />

einst als Säugling ausgesetzt hat. Der<br />

heute renommierte Buchdrucker Thomas<br />

Kinsman wurde damals von den<br />

Baptisten, welche die Sklaverei bekämpften,<br />

aufgenommen <strong>und</strong> als intelligentes<br />

Vorzeigekind zur Schulung nach<br />

England geschickt.<br />

Der politisch gebildete Mann will der<br />

störrischen Mutter keine schamvolle<br />

Verharmlosung oder Schönfärberei<br />

durchgehen lassen, auch nicht die des<br />

eigenen Rassedenkens oder der Gründe<br />

für seine schmerzliche Aussetzung.<br />

Abfall des Westens Elektronikschrott in Afrika<br />

«Sodom <strong>und</strong> Gomorrah» nennen die Anwohner die<br />

Gegend. Ein alter Computer schaut aus dem Boden,<br />

Plastikteile liegen herum. Die jungen Männer<br />

bewachen Feuer wie Hirten ihre Herde. Mit ihren<br />

langen Stecken können sie die Metallteile aus dem<br />

schmelzenden Kunststoff herauslösen, die sie für ein<br />

wenig Geld verkaufen. Der Müllplatz neben dem Slum<br />

Agbogbloshie in Ghana hat es weltweit zu trauriger<br />

Berühmtheit gebracht, als Greenpeace 2008<br />

Bodenproben nahm <strong>und</strong> Rückstände von Blei,<br />

Quecksilber, Schwermetallen <strong>und</strong> PVC nachwies.<br />

50 Millionen Tonnen Elektronikschrott produzieren<br />

Auch wenn er am Ende gegen die spezifischen<br />

Legendenbildungen der «oral<br />

history», der mündlichen Geschichtsschreibung<br />

der «Sprachlosen», nicht<br />

immer ankommt. Doch Vor- <strong>und</strong> Nachwort<br />

sowie die redaktionellen Streitereien<br />

zwischen Mutter <strong>und</strong> Sohn relativieren<br />

mit Witz <strong>und</strong> Einsicht die schelmenhafte<br />

Erzählung, die halb in der<br />

würzigen englischen Kreolsprache der<br />

West-Indies, halb in der ambitiösen<br />

Nach ahmung eines gehobenen Literatur-Englisch<br />

gehalten ist.<br />

Andrea Levy, 55, ist in England berühmt<br />

geworden mit dem Roman «Small<br />

Island» <strong>und</strong> dessen Verfilmung durch<br />

die BBC, den sie der ersten Einwanderer-Generation<br />

ihrer jamaikanischen Eltern<br />

gewidmet hat. Mit «The Long<br />

Song», letztes Jahr für den gewichtigen<br />

Booker-Preis nominiert, reagierte sie<br />

auf die Frage, wie man es denn schaffen<br />

könne, auf eine solche Sklavenabstammung<br />

stolz zu sein. Die Antwort ist<br />

überzeugend ausgefallen. ●<br />

die westlichen Länder laut UN im Jahr. Nur ein Viertel<br />

entsorgen sie selbst, der Rest landet auf Müllhalden<br />

in Afrika. Pieter Hugo zeigt in seinem Bildessay, wie<br />

Menschen über Berge von Discs, Tastaturen <strong>und</strong><br />

Gehäusen wandern; ein Kalvarienberg unserer<br />

schönen schnellen Cyberwelt. Er fotografiert sie bei<br />

der Arbeit, in Pausen oder beim Schlafen. Und er<br />

lässt ihnen stets eine Würde, die archaisch wirkt <strong>und</strong><br />

die man bei denen vermisst, die ihre Abfälle bei ihnen<br />

abladen <strong>und</strong> sie vergiften. Gerhard Mack<br />

Pieter Hugo: Permanent Error. Prestel, München<br />

2011. 112 Seiten, 41 Farbbilder, Fr. 58.90.


Roman Skandalautor Michel Houellebecq gelang in Frankreich ein Bestseller über Regionalküche,<br />

imaginäre Bilder <strong>und</strong> <strong>das</strong> Ende der Welt<br />

Implodiertes Genie<br />

Michel Houellebecq: Karte <strong>und</strong> Gebiet.<br />

Aus dem Französischen von Uli<br />

Wittmann. Dumont, Köln 2011.<br />

400 Seiten, Fr. 34.90.<br />

Von Stefan Zweifel<br />

Es gibt nichts Peinlicheres, als eine<br />

Peinlichkeit mit einer Peinlichkeit vertuschen<br />

zu wollen. 1998 verweigerte die<br />

Jury des Prix Goncourt Michel Houellebecqs<br />

epochalem Roman «Elementarteilchen»<br />

den wichtigsten französischen<br />

Literaturpreis zugunsten der blassen<br />

Paule Constant. Nun wurde <strong>das</strong> wieder<br />

gut gemacht <strong>und</strong> Houllebecqs «Karte<br />

<strong>und</strong> Gebiet» gekrönt. Ein peinlich<br />

schwacher Roman. Paradoxerweise hat<br />

aber gerade diese Schwäche einen eigenen<br />

Reiz. Statt die vereinzelten Menschen<br />

wie Elementarteilchen in Fickorgien<br />

zu Konsum-Molekülen zu verklumpen<br />

oder über die Enge muslimischer<br />

Vaginas zu philosophastern (<strong>das</strong><br />

brachte ihn bei «Plateforme» um die<br />

Chance auf den Goncourt), träumt der<br />

Autor nun den Traum, <strong>das</strong>s die Welt<br />

sanft verschwindet <strong>und</strong> verwildert.<br />

Alles überwuchert von Pflanzen. Stille.<br />

Mit Houllebecq im Ruhrpott<br />

So imaginiert er <strong>das</strong> Ende der Welt – auf<br />

der vorletzten Seite steht der Erzähler in<br />

einer Zeche im Ruhrpott <strong>und</strong> betrachtet<br />

die Landschaft. Jene Fabriken, die nicht<br />

zu Event-Hallen ausgebaut wurden,<br />

sehen sich von anstürmenden Wäldern<br />

bedrängt <strong>und</strong> werden von Efeu überwuchert.<br />

Der Held des Buches – ein Kunststar<br />

– vollendet 2030 sein letztes Werk,<br />

indem er Playmobils mit ätzender Flüssigkeit<br />

übergiesst <strong>und</strong> im Dschungel seines<br />

Gartens abfilmt. Dieses imaginäre<br />

Kunstwerk erinnert an eine entpolitisierte<br />

Version von Thomas Hirschhorns<br />

«Wirtschaftslandschaft Davos». Und<br />

der Blick von der Zeche erinnert mich<br />

an eine Reise mit Houellebecq durch<br />

<strong>das</strong> Ruhrgebiet.<br />

Damals stand er verträumt <strong>und</strong> verkatert<br />

auf den Dächern von Fabrikhallen,<br />

die er für ein Filmprojekt inspizierte. In<br />

der Kantine stimmte er bei einem Teller<br />

mit matschigen Spaghetti Bolognese ein<br />

Loblied auf die deutsche Küche an,<br />

sehnte sich nach einem Fernseher, um<br />

bei der Tour de France die Bilder verlorener<br />

Dörfer im Hinterland von Frankreich<br />

zu betrachten. Dann schlief er im<br />

Auto ostentativ ein, statt mit mir über<br />

Nietzsche <strong>und</strong> Freud zu diskutieren.<br />

Beim Aussteigen analysierte er die Qualität<br />

des BMW, der sanftes Schlafen erlaubt.<br />

Und ich bedauerte, <strong>das</strong>s ich ihn<br />

auf der Autobahn nicht aus dem Wagen<br />

gekippt hatte, diesen Ekelzwerg. Genau<br />

dieser Michel Houellebecq kommt nun<br />

im Buch als Romanfigur vor. Viele Kritiker<br />

fragten sich, ob es ein Selbstporträt<br />

sei. Aus meiner Sicht: Ja, ist es!<br />

Michel Houellebecq<br />

nach der Verleihung<br />

des Prix Goncourt<br />

für die französische<br />

Version von «Karte<br />

<strong>und</strong> Gebiet» in Paris,<br />

8. November 2010.<br />

Der erfolglose Künstler Jed Martin<br />

entdeckt eines Tages die Schönheit der<br />

Michelin-Karten, auf denen Frankreich<br />

zu abstrakter Schönheit aufblüht. Seine<br />

Arbeiten werden zum Kunstknüller. Zufällig<br />

schreitet auch die schöne Olga mit<br />

ihren unendlich langen Beinen an den<br />

Bildern vorbei, <strong>und</strong> zufällig arbeitet sie<br />

für Michelin. Houellebecq-Fans erwarten<br />

nun Orgien, die beiden driften aber<br />

nur ins Leben gutbetuchter Pärchen ab,<br />

die in Drei-Sterne-Lokalen den Reiz des<br />

Terroirs entdecken: einheimische Produkte,<br />

die Rückkehr zu Frikassee <strong>und</strong><br />

Froschschenkeln in Romantik-Hotels.<br />

Doch die Parodie auf die Verlogenheit<br />

unserer Heimatboden-Nostalgie in<br />

Form von Terroir-Küche ist schlapp,<br />

stilistisch auf <strong>das</strong> Niveau von Martin Suters<br />

Bestseller «Der Koch» gesunken.<br />

Banalität der Gegenwart<br />

Der Romantitel «La carte et le territoire»<br />

spielt auch auf den Philosophen<br />

Gilles Deleuze an, der uns aus dem<br />

Katasterplan unseres kartografierten<br />

Lebens befreien wollte. Als Nomaden<br />

sollten wir uns «de-territorialisieren»,<br />

den Fluchtlinien unserer Wünsche folgen.<br />

Doch diese Fluchtlinie gibt es nicht<br />

mehr. Alles ist vom Konsum besetzt.<br />

Auch <strong>das</strong> Hinterland. Kein unberührtes<br />

Terroir, nirgends.<br />

Vom langbeinigen Luxusleben gelangweilt,<br />

beginnt Jed eine neue Werkreihe:<br />

Zurück zur Malerei! Riesige Gemälde<br />

über «Ferdinand Desroches, Pferdemetzger»<br />

oder «Aimée, Escort-Girl»<br />

entstehen, eine knallbunte Enzyklopädie<br />

der Gegenwart. Das Gemälde «Jeff<br />

Koons <strong>und</strong> Damian Hirst teilen sich den<br />

Kunstmarkt» soll den Zyklus abschliessen.<br />

Doch Jed scheitert daran, denn<br />

Koons entzieht sich mit seiner Kitschkunst<br />

unserem Urteil genauso wie mit<br />

seinem Gesicht eines «mormonischen<br />

Pornografen» dem Pinsel des Künstlers.<br />

Zum Glück. Denn dieses Bild hätte nach<br />

Ressentiment gerochen – so aber wird<br />

die Ausstellung zum Hit des Jahrzehnts,<br />

jedes Gemälde für Millionen gehandelt.<br />

Nicht zuletzt dank Michel Houellebecq.<br />

Denn diesen hat Jed in Irland aufgesucht<br />

<strong>und</strong> für ein Vorwort gewonnen – dann<br />

malt er «Michel Houellebecq, Schriftsteller».<br />

In einem weiteren Strang des<br />

Buches verschwindet <strong>das</strong> Bild aus dem<br />

Raum, in dem die Überreste von Michel<br />

Houellebecq wie ein Pollock-Bild über<br />

den Boden verstreut sind, einsam grinst<br />

Houellebecqs abgesägter Kopf dem abgetrennten<br />

Schädel seines Lieblingsh<strong>und</strong>es<br />

zu… Ob Jed der Mörder ist?<br />

«Plateforme» – Houellebecqs früherer<br />

Romantitel – blieb auch diesmal Programm.<br />

Viele Stellen hat er direkt aus<br />

dem Internet übernommen, um uns in<br />

die Banalität der Gegenwart zu schleudern.<br />

Damit knüpft er an Georges Perec<br />

an, der 1965 in «Die Dinge» <strong>das</strong> Leben<br />

seiner Epoche aus Lifestyle-Zitaten <strong>und</strong><br />

Werbe-Sprüchen konstruiert hat. Das<br />

erwähnt Houellebecq im 4. Kapitel des<br />

zweiten Teils. Nicht aber, <strong>das</strong>s Perec mit<br />

«Das Kunstkabinett» ebenfalls einen<br />

Roman über imaginäre Bilder vorgelegt<br />

<strong>und</strong> die Manipulation des Kunstmarktes<br />

aufgezeigt hat.<br />

Gleichwohl bleibt der Erzählstrang<br />

zum Künstler Jed <strong>das</strong> Beste am Buch.<br />

Man kann sich dessen Kunstwerke selber<br />

ausmalen – <strong>und</strong> <strong>das</strong> in einer eigenen<br />

Sprache, die weniger platt <strong>und</strong> banal ist.<br />

Denn so wie die Welt am Ende im Pflanzenwuchern<br />

implodiert, so ist auch<br />

Houellebecqs Genie implodiert. Dass er<br />

dafür preisgekrönt wurde, zeigt nur, wie<br />

leer Frankreichs literarische Landschaft<br />

ist. Da gibt’s nur eins: Perec lesen! ●<br />

Stefan Zweifel ist Publizist <strong>und</strong><br />

Mitglied des «Literaturclubs» am<br />

Schweizer Fernsehen.<br />

FRED DUFOUR / AFP<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9


Belletristik<br />

Roman Aris Fioretos, griechisch-österreichisch stämmiger Schwede, erzählt in seinem Roman<br />

ebenso klug wie vergnüglich von der Migration im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Lauter Mücken im Kopf<br />

Aris Fioretos: Der letzte Grieche. Aus<br />

dem Schwedischen von Paul Berf.<br />

Hanser, München 2011. 416 Seiten,<br />

Fr. 37.90.<br />

Von Sandra Leis<br />

Manche Nachschlagewerke behaupten,<br />

<strong>das</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert sei <strong>das</strong> goldene Zeitalter<br />

der Migration gewesen. Der<br />

Schriftsteller Aris Fioretos notiert in<br />

seinem neuen Roman: «Mag sein. Aber<br />

viel eher müssten die Chronisten von<br />

Blei sprechen – diesem (. . .) alltäglichen<br />

Material, <strong>das</strong> in Röntgenschutzwesten,<br />

Autobatterien <strong>und</strong> manchen Arten von<br />

Kristallglas enthalten ist. (. . .) Und in<br />

Gewehrkugeln.»<br />

Jannis Georgiadis, der Held dieses<br />

weitverzweigten Romans, verlässt sein<br />

griechisches Bauerndorf nicht aus politischen,<br />

sondern aus persönlichen<br />

Gründen, nachdem er beim Pokerspiel<br />

auch noch seinen Stall verzockt hat.<br />

1967 bricht er als 24-jähriger Mann auf<br />

<strong>und</strong> sucht sein Glück als Gastarbeiter in<br />

Schweden, wo bereits <strong>das</strong> befre<strong>und</strong>ete<br />

Geschwisterpaar Kostas <strong>und</strong> Efi aus<br />

dem Nachbardorf lebt. Auch Jannis, ausgestattet<br />

mit einem abenteuerlichen<br />

Herzen <strong>und</strong> vielen Mücken (gemeint<br />

sind Verrücktheiten) im Kopf, will mehr<br />

vom Leben als bloss eine griechische<br />

Scholle.<br />

Das klingt nach einer Migrationsgeschichte,<br />

wie sie in der Literatur derzeit<br />

en vogue ist: Ein Autor schreibt in chronologischer<br />

Form nieder, was ihm <strong>und</strong><br />

seiner Familie in der Fremde widerfahren<br />

ist. Aris Fioretos skizziert in seinem<br />

Roman «Der letzte Grieche» nicht die<br />

10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

Beim Pokern alles<br />

verzockt: Der<br />

Protagonist des<br />

Buches muss seine<br />

Heimat Griechenland<br />

verlassen. Filmszene<br />

aus «Drama im<br />

Spiegel» (1960).<br />

eigene Familiengeschichte <strong>und</strong> Emigration,<br />

weiss aber sehr genau, wovon er<br />

schreibt: 1960 in Göteborg geboren als<br />

Sohn einer österreichischen Künstlerin<br />

<strong>und</strong> eines griechischen Arztes, wuchs er<br />

in Schweden auf. Er studierte Vergleichende<br />

Literaturwissenschaft in Stockholm,<br />

Paris <strong>und</strong> in Yale, habilitierte 2001<br />

<strong>und</strong> lebt jetzt seit fast einem Jahrzehnt<br />

in Berlin. Fioretos, der sich auch als<br />

Übersetzer von Auster, Hölderlin <strong>und</strong><br />

Nabokov ins Schwedische einen Namen<br />

gemacht <strong>und</strong> 2010/11 die erste kommentierte<br />

Werkausgabe von Nelly Sachs<br />

herausgebracht hat, ist ein europäischer<br />

Kosmopolit.<br />

Karteikarten als Gr<strong>und</strong>lage<br />

Vorbild für den Roman ist eine «Enzyklopädie<br />

der Auslandgriechen», die eine<br />

Gruppe von Frauen zusammengetragen<br />

hat nach der Vertreibung <strong>und</strong> Ermordung<br />

der griechischen Minderheit in<br />

Smyrna durch Atatürk im Jahr 1922. Die<br />

«Gehilfinnen Clios» legten den Gr<strong>und</strong>stein<br />

für ein kollektives Gedächtnis, <strong>das</strong><br />

an all jene erinnert, die Griechenland im<br />

Lauf des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts verliessen.<br />

Aris Fioretos hat nun, so schreibt er<br />

im Vorwort, aus einem zu dieser Enzyklopädie<br />

gehörenden Supplement einen<br />

Roman verfasst: Kostas, der oben erwähnte<br />

Fre<strong>und</strong> von Jannis <strong>und</strong> spätere<br />

Rivale in der Liebe, hat wichtige Ereignisse<br />

aus dessen Leben auf Karteikarten<br />

festgehalten <strong>und</strong> veranlasst, <strong>das</strong>s sie zur<br />

weiteren Verwendung an den Schriftsteller<br />

Aris Fioretos gelangen. Dieser<br />

war sieben Jahre alt, als sein Vater eines<br />

Tages den mittellosen Landsmann Jannis<br />

Georgiadis nach Hause brachte <strong>und</strong><br />

ihm Unterschlupf gewährte.<br />

AUS DEM FILM: DRAMA IM SPIEGEL / DDP IMAGES<br />

Eine derart verschachtelte Konstruktion<br />

ist raffiniert, anspruchsvoll <strong>und</strong><br />

mag typisch sein für einen Autor mit<br />

akademischen Weihen. Sie spiegelt eine<br />

Erkenntnis, die sowohl Quelle der Hoffnung<br />

als auch der Verzweiflung ist: Kein<br />

Mensch ist eine Insel, kein Vorgang geschieht<br />

isoliert, alles hängt miteinander<br />

zusammen. Und weil dem so ist, hält<br />

sich Fioretos nicht an <strong>das</strong> herkömmliche<br />

Nacheinander einer Chronik, sondern<br />

jongliert souverän mit Rückblenden,<br />

Einschüben, Zeitkolorits, Porträts <strong>und</strong><br />

Szenen <strong>und</strong> entwickelt daraus ein unglaublich<br />

reichhaltiges <strong>und</strong> schillerndes<br />

Panorama, <strong>das</strong> zurückreicht bis in die<br />

zweite Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Ein<br />

Stammbaum im Buchdeckel hilft, die<br />

Übersicht zu bewahren.<br />

Dass sich Schicksale <strong>und</strong> Geschichten<br />

ins Gedächtnis eingraben ist die grosse<br />

Kunst dieses Romans. Fioretos zeichnet<br />

seine griechischen Landsleute mit<br />

einem zugleich liebevollen wie listigen<br />

Blick. Er spitzt zu, konterkariert, hat ein<br />

Gespür fürs Komödiantische <strong>und</strong> wahrt<br />

gleichzeitig stets den Respekt vor seinen<br />

Figuren. Dem Übersetzer Paul Berf<br />

wiederum gelingt <strong>das</strong> fast Unmögliche:<br />

Er macht einen vergessen, <strong>das</strong>s man<br />

eine deutsche Übersetzung liest, so<br />

stimmig <strong>und</strong> perfekt sind Wortwahl,<br />

Satzbau <strong>und</strong> Sprachrhythmus, so elegant<br />

<strong>und</strong> geschmeidig ist die Sprache.<br />

Leben in der Fremde<br />

Das Opus ist umfangreich, sein Kern<br />

aber umfasst eine nur kurze Zeitspanne<br />

von 1967 bis zum traumatischen Finale<br />

im November 1969. Als Gastarbeiter<br />

kommt Jannis 1967 nach Schweden <strong>und</strong><br />

findet Zuflucht im Haus des Arztes Florinos.<br />

Der junge Mann lernt Schlittschuhlaufen,<br />

träumt, obwohl er kaum<br />

lesen <strong>und</strong> schreiben kann, von einem<br />

Studium der Hydrologie, um <strong>das</strong> Bewässerungssystem<br />

in Makedonien zu reformieren.<br />

Er verliebt sich in <strong>das</strong> Kindermädchen<br />

der Familie, <strong>das</strong> von einer<br />

Ausbildung <strong>und</strong> einem unabhängigen<br />

Leben träumt. Als sie gegen ihren Willen<br />

schwanger wird, heiraten die beiden,<br />

doch <strong>das</strong> Glück ist kurz <strong>und</strong> die Ehe bald<br />

heillos aus den Fugen. In der Schilderung<br />

dieser Szenen läuft der Autor,<br />

geschult an den grossen Realisten des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts, zu Höchstform auf.<br />

Jannis’ Frau, die ihn für Kostas verlässt,<br />

gibt später zu Protokoll: «Einen<br />

solchen Hunger hatte ich noch bei keinem<br />

anderen Menschen erlebt. Keiner<br />

der Männer (. . .) war so. Sie waren nicht<br />

neugierig <strong>und</strong> bescheiden <strong>und</strong> trotzdem<br />

bärenstark. (. . .) Jannis gehörte die Zukunft.<br />

Obwohl er keine Ahnung hatte,<br />

was ein Toaster war.» Was aus ihm geworden<br />

ist, bleibt völlig offen. Zweierlei<br />

aber ist gewiss: Er lebt, <strong>und</strong> Aris Fioretos<br />

hat ihm mit diesem Buch ein berührendes<br />

Denkmal gesetzt. ●


JOCHEN ZICK / ACTION PRESS<br />

Roman Ein Krimi, der sich nicht um Mord,<br />

sondern um Liebe <strong>und</strong> Verrat dreht<br />

Der<br />

eifersüchtige<br />

Kommissar<br />

Linus Reichlin: Er. Galiani, Berlin 2011.<br />

288 Seiten, Fr. 28.90.<br />

Von Christine Brand<br />

Nein, ein Krimi ist <strong>das</strong> nicht. Obwohl die<br />

Zutaten dafür durchaus gegeben wären:<br />

Die Geschichte handelt von einem ehemaligen<br />

Kommissar, ein bis zwei Leichen,<br />

verworrenen Lebens- <strong>und</strong> Liebesgeschichten<br />

<strong>und</strong> einer gehörigen Portion<br />

Eifersucht. Doch <strong>das</strong> Verbrechen<br />

fehlt. Kein Mord, kein Totschlag, keine<br />

kriminalistische Ermittlung – höchstens<br />

eine unterlassene Hilfeleistung.<br />

Mit seinem dritten Roman, der den<br />

spartanischen Namen «Er» trägt, hat<br />

sich der Schweizer Autor Linus Reichlin<br />

von der Sparte Krimi verabschiedet <strong>und</strong><br />

sich an <strong>das</strong> komplexeste Thema überhaupt<br />

herangeschrieben: an die Liebe,<br />

auch wenn es nicht die ganz grosse ist,<br />

<strong>und</strong> an die Eifersucht, die in diesem Fall<br />

kaum grösser sein könnte. Und an <strong>das</strong><br />

Leiden, <strong>das</strong> mit beiden einhergeht. Wiederum<br />

spielt der frühpensionierte Kommissar<br />

Hannes Jensen die Hauptrolle,<br />

der Eigenbrötler, bei dem man sich nie<br />

so recht entscheiden kann, ob man ihn<br />

mögen soll oder nicht.<br />

Der Zufall will es, <strong>das</strong>s Jensen sich in<br />

die alleinerziehende Lea mit hochbegabter<br />

Tochter verliebt – <strong>und</strong> schliesslich<br />

doch wieder zum Ermittler wird,<br />

wenn auch nur in eigener Sache: Getrieben<br />

von seiner Eifersucht, die durch<br />

eine verschwommene Liebesbotschaft<br />

an ihrem Badezimmerspiegel angestachelt<br />

wird, begibt er sich auf Spurensuche<br />

in ihrer Vergangenheit <strong>und</strong> verstrickt<br />

sich in ein Netz aus Verdächtigungen,<br />

Verrat <strong>und</strong> Lügen.<br />

Alsbald vermischen sich die zwei Parallelgeschichten,<br />

auf denen der Roman<br />

aufbaut: Die Liebesgeschichte zwischen<br />

Jensen <strong>und</strong> Lea sowie die geheimnisumwobene<br />

Lebensgeschichte von Angus,<br />

einem urchigen Naturburschen, der wie<br />

Lea von der Isle of Lewis stammt – auf<br />

welcher Hannes Jensen letztlich in seiner<br />

Verzweiflung landet <strong>und</strong> strandet<br />

<strong>und</strong> zur Einsicht kommt.<br />

Zur Einsicht, <strong>das</strong>s er nicht länger nur<br />

<strong>das</strong> Glück suchen darf, sondern bereit<br />

sein muss zu leiden – damit ihm die<br />

Liebe gehört <strong>und</strong> er sich nicht mehr unterworfen<br />

fühlt.<br />

Obwohl nicht Kriminal-, sondern<br />

Eifersuchtsroman, mangelt es<br />

nicht an Spannung, skurrilen<br />

Figuren <strong>und</strong> überraschenden<br />

Grenzüberschreitungen. So, <strong>das</strong>s<br />

man zum Schluss <strong>das</strong> Verbrechen<br />

gar nicht mehr vermisst. ●<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

Alice Schmid: Dreizehn ist meine Zahl.<br />

Roman. Nagel & Kimche, München 2011.<br />

156 Seiten, Fr. 23.90.<br />

Gibt es die Formel für literarischen Erfolg?<br />

Die Zentrale Intelligenz Agentur<br />

(ZIA) um Kathrin Passig schrieb eigens<br />

für Literaturwettbewerbe Texte – <strong>und</strong><br />

war in Klagenfurt immerhin dreimal erfolgreich.<br />

Ähnliches Kalkül strahlt <strong>das</strong><br />

Roman-Début der Filmproduzentin<br />

Alice Schmid (*1951) aus. Allzu pointiert<br />

gesetzt, scheint die Schockwirkung der<br />

Geschichte, die im Napfgebiet der fünfziger<br />

Jahre spielt <strong>und</strong> aus der Ich-Perspektive<br />

der neunjährigen Lilly erzählt<br />

wird. Vor dem Kolorit einer Provinzmystik<br />

à la «Sennentuntschi» finden Inzest<br />

<strong>und</strong> andere Grausamkeiten allenthalben<br />

statt. Dazu kommen die psychischen<br />

Störungen Lillys: Inkontinenz<br />

aus Angst, Schlafanfälle, übersteigerte<br />

Liebe zur bösen Mutter. Zusammen mit<br />

der modischen Swissness – hier in Form<br />

einer von M<strong>und</strong>artwörtern durchsetzten<br />

Sprache – ergibt <strong>das</strong> eine oft unfreiwillig<br />

komische Missbrauchsfolklore.<br />

Regula Freuler<br />

Matthias Politycki: London für Helden.<br />

The Ale Trail. Hoffmann & Campe,<br />

Hamburg 2011. 96 Seiten, Fr. 28.90.<br />

Mitunter mag man sich fragen, was es<br />

bringt, wenn Autoren in fernen Landen<br />

als «writers in residence» installiert<br />

werden. Umso froher ist man, wenn<br />

klare Beweise für die Nützlichkeit dieser<br />

Art von Kulturförderung vorliegen.<br />

Wie zum Beispiel hier. Matthias Politycki,<br />

der 1955 geborene, in München <strong>und</strong><br />

Hamburg beheimatete Romancier, Essayist<br />

<strong>und</strong> Lyriker, war nach London eingeladen.<br />

Diese Zeit hat er genutzt, um<br />

die Bierkneipen der Stadt systematisch<br />

zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> in Versen zu besingen.<br />

Das Resultat beeindruckt. Wir erleben<br />

einen Pilger, dem <strong>das</strong> britische Ale zunächst<br />

fremd <strong>und</strong> widerwärtig ist, auf<br />

seinem Weg der Läuterung. Die Verse<br />

des von keinem verkaterten Elend angefochtenen<br />

Autors wenden sich gegen<br />

den «bierischen Ernst» <strong>und</strong> entdecken<br />

am Ende in der vermeintlichen Metropole<br />

eine liebenswerte Provinz.<br />

Manfred Papst<br />

Xavier de Maistre: Reise um mein<br />

Zimmer. Aus dem Französischen von Eva<br />

Mayer. Aufbau, Berlin 2011. 172 S., Fr. 25.90.<br />

Auf dieses so schlanke wie entzückende<br />

Buch kann man nicht oft genug hinweisen:<br />

Xavier de Maistres «Voyage autour<br />

de ma Chambre» erschien 1794, die fünf<br />

Jahre später verfasste «Expédition nocturne<br />

autour de ma Chambre» aber erst<br />

1825. Meist werden die beiden Teile zusammen<br />

publiziert. So auch hier. Nach<br />

einem Duell steht der Autor, ein Offizier<br />

im Dienst des Königreichs Sardinien,<br />

ausgerechnet während des Turiner Karnevals<br />

sechs Wochen unter Hausarrest.<br />

Reisen, sich amüsieren kann er nicht.<br />

Also erk<strong>und</strong>et er sein Zimmer – <strong>und</strong><br />

findet auf dieser Gedankenreise die<br />

wahren Abenteuer. De Maistre ist ein<br />

Aufklärer mit dem Verstand <strong>und</strong> Temperament<br />

Diderots: ein witziger Kopf,<br />

sinnlich <strong>und</strong> neugierig, ein H<strong>und</strong>enarr<br />

<strong>und</strong> Liebling der Frauen, ein Plauderer<br />

<strong>und</strong> Philosoph, ein Meister der Abschweifung<br />

wie Laurence Sterne <strong>und</strong> ein<br />

Erk<strong>und</strong>er seiner selbst wie Montaigne.<br />

Manfred Papst<br />

Isabel Morf: Satzfetzen.<br />

Ein Zürich-Krimi. Gmeiner, Messkirch 2011.<br />

273 Seiten, Fr. 15.90.<br />

Die Bündnerin Isabel Morf legt nach.<br />

Wer ihr Krimi-Début «Schrottreif» gelesen<br />

hat, trifft in «Satzfetzen» auf alte<br />

Bekannte: Die Wiediker Fahrradhändlerin<br />

Valerie Gut <strong>und</strong> Kommissar Beat<br />

Streiff sind in die Ermittlung um den<br />

Mord an Kantonsrätin Angela Legler<br />

verwickelt. Die CVP-Politikerin verscherzte<br />

es sich mit vielen, auch mit den<br />

Protokollführern des Rats, von denen<br />

einer kurz nach Legler ermordet wird.<br />

Morf, Redaktorin für <strong>das</strong> Parlament in<br />

Bern, kann aus ihrem Alltag schöpfen.<br />

Besonders einfühlsam sind daher die<br />

Passagen über die Menschen im Hintergr<strong>und</strong>,<br />

welche sprachlich ungelenken<br />

Politikern unverzichtbare Dienste leisten.<br />

Erneut geht Morf psychologisch<br />

eine Stufe weiter als viele Krimis, in dem<br />

sie Betroffene über <strong>das</strong> Gefühlschaos<br />

nach einem Mord im nahen Umfeld reflektieren<br />

lässt.<br />

Regula Freuler<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11


Reportage<br />

Werden alte Bücher misshandelt, hilft oft nur noch <strong>das</strong> Skalpell. In der<br />

Universitätsbibliothek Bern haben Restauratorinnen <strong>das</strong> mittelalterliche<br />

Gebetbuch einer Strassburger Nonne gerettet. Ein Augenschein im<br />

Atelier. Von Geneviève Lüscher<br />

Aus dem<br />

Leben eines<br />

Gebetbuches<br />

Zwei massgeschneiderte, feste Kartonschachteln<br />

braucht es heute für den Kodex 801 der<br />

Burgerbibliothek Bern. Im Mittelalter stand <strong>das</strong><br />

nur handtellergrosse, bullige Gebetbuch wohl<br />

im Regal einer Klosterbibliothek oder lag auf<br />

dem Gebetsstuhl einer Nonne. Jedenfalls wurde<br />

fleissig darin geblättert. Die Leserin vertiefte<br />

sich in die Gebete <strong>und</strong> liess – noch ganz unberührt<br />

von der heutigen Bilderflut – <strong>das</strong> Auge<br />

entzückt auf den bunten Illustrationen ruhen.<br />

Heute liegt in der einen Schachtel der alte Originaleinband<br />

<strong>und</strong> in der anderen die mit einem<br />

ganz neuen Einband versehene, restaurierte<br />

Handschrift.<br />

Beutegut aus Napoleons Kriegen<br />

«Ja, <strong>das</strong> Herausschneiden des Buchblocks aus<br />

dem Einband war brutal», meint Ulrike Bürger,<br />

«aber es musste sein»; die Leiterin des Zentrums<br />

Historische Bestände der Universitätsbibliothek<br />

Bern erinnert sich höchst ungern an<br />

diesen Akt. Nun hebt die Buchrestauratorin behutsam<br />

den Einband aus seiner Kassette. Er<br />

präsentiert sich als traurige, leere Hülle, ist<br />

aber unversehrt <strong>und</strong> steht so der Einbandforschung<br />

zur Verfügung. Das über die Holzdeckel<br />

gezogene Schweinsleder ist fleckig verfärbt, im<br />

Innern baumeln einsam ein paar lose Fäden, ein<br />

Exlibris prangt auf der hinteren Innenseite. Es<br />

weist einen Ulrich Felix Lindinner­Escher<br />

(1762–1854), Privatgelehrten <strong>und</strong> Archivar in<br />

Zürich, als Besitzer aus. Lindinner hat <strong>das</strong> kleine<br />

Bijoux 1823 dem Berner Schultheissen Ni­<br />

Kodex 801<br />

Mit Kodex 801 wird <strong>das</strong> Gebetbuch der Nonne<br />

Ursula Begerin bezeichnet. Er umfasst insgesamt<br />

390 Seiten. Von den 195 Doppelseiten sind<br />

50 reine Bilderblätter, 64 Blätter mit Text <strong>und</strong><br />

Bild, 54 reine Textblätter; vorn <strong>und</strong> hinten sind<br />

zusätzliche Gebete eingeb<strong>und</strong>en. Das Buch kann<br />

in der Burgerbibliothek in Bern (Münstergasse<br />

63; Tel. 031 320 33 33) auf begründetes Gesuch<br />

hin zu wissenschaftlichen Zwecken eingesehen<br />

werden. Auch Mikrofilme stehen zur Verfügung.<br />

12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

klaus Friedrich von Mülinen (1760–1833) geschenkt.<br />

1937 hat es die Stadtbibliothek Bern<br />

erworben; heute gehört es der Burgerbibliothek.<br />

Wie aber war Lindinner in den Besitz der<br />

Handschrift gekommen? Archivrecherchen im<br />

Zusammenhang mit der Restaurierung haben<br />

einen Brief aus dem Jahr 1823 zutage gefördert,<br />

in dem Lindinner an von Mülinen schreibt: «Le<br />

manuscrit ... vient de Strasbourg ou un officier<br />

de la garde nationale me L’adonné, L’ayant trou­<br />

«Es geht nicht darum, einen<br />

künstlichen Urzustand zu<br />

reproduzieren, sondern <strong>das</strong><br />

Buch wieder lesbar zu<br />

machen. Bücher sind<br />

Gebrauchsgegenstände.»<br />

vé dans une bibliotheque de réligieuses pendant<br />

qu’on pilloit le couvent.» Vermutlich also<br />

Beutegut aus den napoleonischen Kriegen.<br />

Dem Kodex wurde auf seinem langen Lebensweg<br />

nicht immer die nötige Sorgfalt entgegengebracht<br />

– mit den Jahrh<strong>und</strong>erten wurde er ein<br />

Fall für die Restaurierung.<br />

«Solche Restaurierungen gelten bei uns als<br />

seltene Leckerbissen», sagt Petra Hanschke,<br />

Leiterin der Dienststelle Konservierung, die<br />

zum Zentrum Historische Bestände gehört. Der<br />

Alltag der fünf Restauratorinnen – Männer interessieren<br />

sich kaum mehr für diesen Beruf –<br />

ist prosaischer <strong>und</strong> widmet sich den alltäglichen<br />

Schäden, die durch den Gebrauch alter<br />

Bücher entstehen. Da werden Risse an Pergamenteinbänden,<br />

lose Buchrücken, zerfledderte<br />

Papierseiten geflickt. Japanpapier ist dabei allgegenwärtig.<br />

«Wir restaurieren nicht nur Papier,<br />

sondern auch Pergamenteinbände mit Japanpapier,<br />

weil seine Eigenschaften bestens<br />

bekannt sind», sagt Hanschke. Pergament, also<br />

getrocknete Tierhaut, ist ein höchst anspruchsvolles<br />

Material, <strong>das</strong> «lebt». Je nach Feuchtigkeit<br />

dehnt es sich aus oder schrumpft. Zudem wird<br />

modernes Pergament heute ganz anders hergestellt<br />

als im Mittelalter <strong>und</strong> hat mechanische<br />

Eigenschaften, die sich nicht immer mit dem<br />

alten Pergament vertragen.<br />

Es geht also nicht darum, einen künstlichen<br />

Urzustand zu reproduzieren, sondern <strong>das</strong> Werk<br />

wieder benützbar zu machen. Bücher sind Gebrauchsgegenstände<br />

<strong>und</strong> sollen <strong>das</strong> bleiben.<br />

Gleichzeitig ist aber die Erhaltung der Originalsubstanz<br />

wichtig: «Das Buch als solches ist<br />

auch ein Kulturgut, <strong>und</strong> wir tun alles, um so viel<br />

wie möglich davon zu erhalten.» Um diese bisweilen<br />

schwierige Gratwanderung zu bewältigen,<br />

musste sich der Beruf des Restaurators,<br />

der Restauratorin völlig ändern. «Früher kamen<br />

Buchrestauratoren hauptsächlich aus einer<br />

Buchbinderlehre. Heute absolvieren sie ein<br />

Studium an einer Fachhochschule», erklärt<br />

Hanschke, ein naturwissenschaftlicher Hintergr<strong>und</strong><br />

sei unerlässlich. Eine Restauratorin muss<br />

eine Schadensanalyse vornehmen können, sie<br />

muss epochenspezifische Materialkenntnisse<br />

haben, wissen, wie Schäden entstehen <strong>und</strong> wie<br />

chemische <strong>und</strong> physikalische Abbaumechanismen<br />

funktionieren.<br />

Probleme mit dem Grünpigment<br />

Der Kodex 801 war eine restauratorische Herausforderung:<br />

1998 kam <strong>das</strong> mittlerweile zum<br />

Problemstück mutierte Werk aus der Burgerbibliothek<br />

ins Atelier. Was tun? Ulrike Bürger erinnert<br />

sich: «Der völlig verhärtete Ledereinband<br />

liess sich nicht mehr aufklappen, Blättern<br />

<strong>und</strong> Lesen waren unmöglich.» Dazu kamen unsachgemässe<br />

alte Reparaturen mit Klebstreifen,<br />

die trübe geworden waren <strong>und</strong> <strong>das</strong> Papier braun<br />

verfärbt hatten. Da man <strong>das</strong> Buch nicht öffnen<br />

konnte, war an ein Entfernen der Scotchbänder<br />

nicht zu denken. Die Expertenr<strong>und</strong>e erwog verschiedene<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> hat sich dann<br />

«sehr schweren Herzens» entschlossen, <strong>das</strong><br />

Werk vollständig auseinanderzunehmen. Das<br />

sei eine Massnahme, die man immer zuletzt<br />

treffe. Eine Zerlegung bedeute immer, dem<br />

Werk Schaden zuzufügen, Bürger weist auf die<br />

zerschnittenen Heftfäden im leeren Einband.<br />

Die Restauratorin löste also den 9 × 15 Zentimeter<br />

grossen Buchblock aus dem Einband,


Die Restauratorin Ulrike Bürger untersucht den Einband des Kodex 801: «Das Herausschneiden des Buchblocks aus dem Einband war brutal.»<br />

Alle Fotos: tomAs Wüthrich<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13


Reportage<br />

Japanpapier, Pinsel <strong>und</strong> Skalpell – Werkzeuge der Restauratorin.<br />

schnitt die Heftfäden auf, trennte die einzelnen<br />

Lagen <strong>und</strong> breitete die losen Papierseiten aus.<br />

Jetzt konnte sie jedes Blatt einzeln von den<br />

spröden Klebstreifen befreien, reinigen <strong>und</strong><br />

wenn nötig mit Japanpapier ergänzen. Einige<br />

Seiten, so zum Beispiel diejenige mit dem Bild<br />

«Maria Himmelfahrt», waren stark abgegriffen.<br />

Offenbar waren sie über Gebühr beansprucht<br />

worden. Bei anderen Heiligen, die anscheinend<br />

nicht so beliebt waren, strahlten die Farben<br />

noch wie neu.<br />

Nach den Scotchbändern war die grüne Malfarbe<br />

<strong>das</strong> zweitgrösste Problem. Unter dem<br />

Grün war <strong>das</strong> Papier hauchdünn geworden<br />

oder sogar weggebröselt. Es war aber nicht der<br />

gut bekannte <strong>und</strong> häufige Kupferfrass, sondern<br />

ein unbekanntes Phänomen. Mit kriminalistischen<br />

Methoden versuchten die Restauratorinnen<br />

herauszufinden, um welches Grünpigment<br />

es sich da handeln könnte. «Wir nahmen Kontakt<br />

auf mit Spezialisten in Bern, Zürich, Stuttgart,<br />

Wien, Brüssel – ohne Erfolg. Das Pigment<br />

war zu stark abgebaut, um es noch zu identifizieren.<br />

Immerhin haben wir eine neue Art von<br />

Grünschaden dokumentieren können, <strong>das</strong> ist<br />

wissenschaftlich interessant.»<br />

Buchbinder-Geheimnisse<br />

Parallel zur Restaurierung lief die sogenannte<br />

kodikologische Recherche, <strong>das</strong> heisst, Bürger<br />

suchte nach Spuren der Buchherstellung. Schon<br />

frühere Bearbeiter hatten nämlich erkannt, <strong>das</strong>s<br />

die Bilder älter sind als der Text. Sie stammen<br />

aus dem Ende des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts, während<br />

die in deutscher Sprache verfassten Gebete<br />

h<strong>und</strong>ert Jahre jünger sind.<br />

Im Mittelalter musste der Buchbinder wissen,<br />

welche Doppelblätter er hintereinander zu<br />

binden hatte. Um die richtige Reihenfolge einzuhalten,<br />

versah er die Blätter im Falz mit winzigen<br />

Signaturen. Diese geben heute Hinweise<br />

auf die ursprüngliche Anzahl der Federzeichnungen,<br />

nämlich um 200. Die kodikologische<br />

Recherche zeigte, <strong>das</strong>s im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert ein<br />

r<strong>und</strong> h<strong>und</strong>ertjähriger Bilderzyklus mit Gebeten<br />

versehen worden war: Leere Seiten wurden beschrieben,<br />

weitere Texte auf zusätzlichen Blät­<br />

Das Energieproblem ist gelöst<br />

Wenn man <strong>das</strong>, was in diesem Buch steht,<br />

realisieren würde, könnte man die Atomkraftwerke<br />

abstellen.<br />

10CEXKoQ6AMAxF0S-ieW9dy0YlmVsQBD9D0Py_gmAQ15zc3sMEX2vbjrYHgWwTVWdH0Ewq_MUspaSAMieQCz2rkcnivwdYXaGDcp_XA5QNn45aAAAA<br />

Einsteins Irrtum, Pyramis-Verlag AG<br />

Harald Hahn, ISBN 3-9523013-0-2<br />

Vorzugspreis Fr.25.- statt 39.- bei Bestellung<br />

Fax: 056 621 05 76<br />

Mail: distribution@pyramis-verlag.ch<br />

14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

10CAsNsjY0MDAx1TU0NjY3MwAA6zBP1g8AAAA=<br />

tern eingefügt. Alles zusammen wurde dann<br />

wieder zu einem Buch geb<strong>und</strong>en. Aufgr<strong>und</strong><br />

fehlender Signaturen hat Bürger festgestellt,<br />

<strong>das</strong>s vor dem Binden um die 30 Bilder verlorengegangen<br />

sind. Auch wurden einige Seiten<br />

falsch placiert. «Das alles hätten wir ohne <strong>das</strong><br />

Auseinandernehmen nicht herausfinden können,<br />

es hatte also auch sein Gutes.»<br />

«Der Kodex ist einer der<br />

umfangreichsten Bilderzyklen<br />

des Spätmittelalters.<br />

Er ist ein wichtiges Zeugnis<br />

weiblicher Spiritualität.»<br />

Ulrike Bürger hat dann die gereinigten <strong>und</strong><br />

restaurierten Papierseiten zu einem Buchblock<br />

geb<strong>und</strong>en, dem sie einen komplett neuen Einband<br />

verpasst hat. Seine Holzdeckel sind mit<br />

hellem Ziegenleder überzogen. Sie nimmt den<br />

«neuen» Kodex 801 aus seiner Kassette, placiert<br />

ihn zwischen zwei Schaumstoffkeilen <strong>und</strong><br />

klappt ihn resolut auf. Es geht problemlos.<br />

Handschuhe trägt sie keine. «Nein, <strong>das</strong> wäre<br />

unsinnig. Gerade <strong>das</strong> Blättern in einer fragilen<br />

Papierhandschrift braucht Fingerspitzengefühl.»<br />

Auch die Journalistin darf die Seiten drehen.<br />

Wir bew<strong>und</strong>ern die elegante Schrift, die<br />

zarten, mit leuchtenden Farben ausgefüllten Federzeichnungen<br />

– eine wahre Augenweide!<br />

Was ist denn nun der Inhalt des Gebetbuches?<br />

Die Restauratorin verweist an den Spezialisten.<br />

Man habe die Gelegenheit benützt,<br />

um den Kodex wissenschaftlich aufzuarbeiten<br />

<strong>und</strong> die Ergebnisse 2012 im Urs Graf Verlag in<br />

Dietikon zu veröffentlichen.<br />

Der Germanist Nigel F. Palmer von der Universität<br />

Oxford hat zusammen mit dem Kunsthistoriker<br />

Jeffrey F. Hamburger, der an der Universität<br />

in Harvard lehrt, den Inhalt analysiert.<br />

Er ist begeistert: «Der Kodex 801 ist einer der<br />

umfangreichsten Bilderzyklen aus dem Spätmittelalter,<br />

die wir kennen. Wir sehen nicht nur<br />

die Genesis <strong>und</strong> gängige Bilder aus dem Leben<br />

Jesu, sondern viele in der mittelalterlichen<br />

Kunst sonst unbekannte Szenen, wie z. B. Johannes,<br />

der in der Gegenwart Mariens die<br />

Messe liest <strong>und</strong> ihr die Hostie überreicht; oder<br />

<strong>das</strong> Christkind, <strong>das</strong> sich auf den Schoss seiner<br />

Mutter legt <strong>und</strong> den Tod der unschuldigen Kinder<br />

beweint, deren Ermordung in der unteren<br />

Bildhälfte gezeigt wird.» Erstaunlich sei, <strong>das</strong>s<br />

der ursprüngliche Bilderzyklus, der um 1380/90<br />

in Strassburg entstand, r<strong>und</strong> 100 Jahre später<br />

mit Gebeten zu einer neuen Handschrift geb<strong>und</strong>en<br />

wurde. «Die Stimme, die in diesen privaten<br />

Selbstgekochter Weizenkleister, Leime <strong>und</strong> Ingredienzen für die Buchrestaurierung.<br />

Gebeten spricht, ist die einer Klosterfrau», sagt<br />

Palmer. Auch die letzte Besitzerin war eine<br />

Frau: Ursula Begerin, Nonne im Reuerinnen­<br />

Kloster St. Magdalena in Strassburg, hat sich<br />

auf einer der letzten Buchseiten verewigt. Sie<br />

stammte aus einem Adelsgeschlecht in Strassburg<br />

<strong>und</strong> ist 1531 verstorben. Die Gebete sind<br />

laut Palmer literarisch höchst anspruchsvoll,<br />

elegant geschrieben <strong>und</strong> eigens zu den Bildern<br />

verfasst worden. Das gemeinsame Studium von<br />

Bild <strong>und</strong> Text diente einer speziellen Art der<br />

mittelalterlichen Meditation, die eine persönliche<br />

Beziehung zu Gott herzustellen suchte.<br />

Nonne als Auftraggeberin<br />

Wer die Gebete verfasst hat, ist nicht bekannt.<br />

Palmer vertritt die These, <strong>das</strong>s es ein Strassburger<br />

Kartäusermönch war. Bei der Auftraggeberin<br />

habe es sich wohl um eine Strassburger<br />

Klosterfrau gehandelt. «Vielleicht haben wir<br />

heute ganz falsche Vorstellungen von den Kontakten<br />

zwischen Mönchen <strong>und</strong> Nonnen in benachbarten<br />

Klöstern.» Dass es aber Ursula Begerin<br />

war, möchte er vorerst ausschliessen.<br />

Für Palmer ist nicht so wichtig, wer beim<br />

Malen oder Schreiben Pinsel oder Feder geführt<br />

hat, sondern wer den Auftrag erteilte.<br />

«Und diese Handschrift führt uns dezidiert in<br />

die Welt der Frauen. Der Kodex 801 ist ein<br />

wichtiges Zeugnis für weibliche Kultur <strong>und</strong><br />

Spiritualität im späten Mittelalter.» l<br />

Kodex 801: Lazarus in Abrahams Schoss (oben); unten bittet<br />

der Reiche im Höllenschl<strong>und</strong> um die Kühlung der Zunge.


GAËTAN BALLY / KEYSTONE<br />

Kolumne<br />

Charles Lewinskys Zitatenlese<br />

Charles Lewinsky,<br />

64, ist Schriftsteller,<br />

Radio- <strong>und</strong> TV-Autor<br />

<strong>und</strong> lebt in Frankreich.<br />

Seine Adventsparodie<br />

«Der Teufel in der<br />

Weihnachtsnacht» ist<br />

2010 bei Nagel &<br />

Kimche neu aufgelegt<br />

worden.<br />

Als ich verschiedene<br />

Autoren miteinander<br />

verglich, stellte ich<br />

fest, <strong>das</strong>s einige<br />

der gewichtigsten <strong>und</strong> modernsten<br />

Autoren Wort für Wort aus älteren<br />

Werken abgeschrieben haben, <strong>und</strong><br />

zwar ohne <strong>das</strong> anzumerken.<br />

Plinius der Ältere<br />

Ach, der arme Herr zu Guttenberg!<br />

Jetzt trampeln alle auf ihm herum, nennen<br />

ihn hämisch Freiherr zu Copy-<br />

Paste oder Doktor cum fraude <strong>und</strong> erzählen<br />

sich schnell erf<strong>und</strong>ene Witze<br />

über Kopierer auf Truppenbesuch.<br />

Dabei, <strong>und</strong> <strong>das</strong> übersehen alle, ging es<br />

dem bemitleidenswerten Mann gar<br />

nicht um den Doktortitel. Wer braucht<br />

den schon, wenn er sich doch einen geschichtsträchtigen<br />

Adelsnamen aufs<br />

Briefpapier drucken lassen kann? Was<br />

ist denn schon ein «Dr.» gegen ein<br />

«Frhr. z.»?<br />

Nein, der Herr Ex-Minister war nur<br />

von einer weit verbreiteten Sucht befallen:<br />

Er wollte auch einmal ein Buch geschrieben<br />

haben. Wollte auch einmal<br />

den w<strong>und</strong>erbaren Moment erleben, wo<br />

man <strong>das</strong> erste gedruckte Exemplar in<br />

Händen hält <strong>und</strong> es mit lässiger Geste<br />

ins Regal stellt. Am besten direkt neben<br />

jene Werke, die von den eigenen Vorfahren<br />

verfasst wurden. In besseren Familien<br />

ist man selten der erste, der die<br />

Schreibfeder ins blaue Blut tunkt.<br />

Zugegeben, so eine Dissertation ist<br />

eine recht bürgerliche literarische<br />

Form. So etwas schreibt heutzutage<br />

Krethi <strong>und</strong> Plethi. Ein Roman wäre<br />

Herrn zu Guttenberg deshalb tausendmal<br />

lieber gewesen, aber den «Felix<br />

Krull» gab es leider schon. Und sich<br />

eine ganz neue Geschichte zusammenzugoogeln,<br />

<strong>das</strong> kann verdammt zeitraubend<br />

werden. Also eine Diss. Buch ist<br />

Buch, <strong>und</strong> hübsch geb<strong>und</strong>en macht sich<br />

auch so eine Doktorarbeit im Regal<br />

recht hübsch.<br />

Aber als dann die Fahnen aus der<br />

Druckerei kamen – <strong>und</strong> mit Fahnen<br />

kennt sich alter Adel aus –, da musste<br />

er feststellen, <strong>das</strong>s die Seiten einfach<br />

nicht so perfekt aussahen, wie man sich<br />

<strong>das</strong> als Autor wünscht. Und <strong>das</strong> aus nur<br />

einem einzigen Gr<strong>und</strong>: Die vielen Fussnoten<br />

machten den ganzen schönen<br />

Satzspiegel kaputt. Als ob jede Seite<br />

Pickel hätte.<br />

Und so wurden halt Fussnoten gestrichen.<br />

Erst eine <strong>und</strong> dann noch eine<br />

<strong>und</strong> dann immer mehr. Aus rein ästhetischen<br />

Gründen.<br />

(Übrigens: Ein ebenfalls der Literatur<br />

ergebener Grossvater des Freiherrn<br />

hat ein Werk namens «Fussnoten» hinterlassen.<br />

Wenn die Wirklichkeit ironisch<br />

wird, trägt sie manchmal verdammt<br />

dick auf.)<br />

Und deshalb, ihr Spötter: Seid nett<br />

zum gefallenen Engel der CSU! Er<br />

wollte nur ein Buch<br />

geschrieben haben. Wer<br />

in dieser Hinsicht ohne<br />

Fehl ist, der werfe den<br />

ersten Band.<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

Marc Baumann, Martin Langeder u. a.<br />

(Hrsg.): Feldpost. Briefe aus Afghanistan.<br />

Rowohlt, Hamburg 2011. 160 Seiten, Fr. 27.50.<br />

«Eine Detonation erschüttert die freitägliche<br />

Stille im HQ Kabul. Nur 500<br />

Meter entfernt eine gewaltige Explosion.<br />

Im Deckungsbunker lackiert sich<br />

eine US-Journalistin lässig die Fingernägel.<br />

Dann gibt es eine Schweige minute<br />

für gefallene Amerikaner.» Hauptmann<br />

Thomas Brackmann, 33, schreibt aus<br />

Kabul. Es gibt sie wieder, die Briefe,<br />

heute ergänzt durch E-Mails <strong>und</strong> SMS<br />

«aus dem Feld». Journalisten der «Süddeutschen<br />

<strong>Zeitung</strong>» haben sie gesammelt.<br />

Ob von Nachtpatrouille oder Toilettencontainer,<br />

von bettelnden Kindern,<br />

vom Videoabend oder vom Raketeneinschlag<br />

erzählt wird – <strong>das</strong> Bild, <strong>das</strong><br />

die privaten Zeugnisse von der deutschen<br />

«Friedensmission» in Afghanistan<br />

vermitteln, ist realitätsgetränkt. Und<br />

ab <strong>und</strong> zu erinnert es an einen ganz gewöhnlichen<br />

Krieg: «Tot. Das Unerwartete<br />

ist geschehen.» Oberfeldwebel Dominik<br />

Hirz, 31, Kabul 2008.<br />

Kathrin Meier-Rust<br />

Silvana Schmid: La Lupa. Die Stimme der<br />

Wölfin. Mit Fotografien von Gitty Darugar.<br />

Limmat, Zürich 2011. 95 Seiten, Fr. 28.-.<br />

Wenn «La Lupa» mit ihrem feuerroten<br />

Haar, den ausladenden Hüten <strong>und</strong> ihren<br />

knallbunten Gewändern durch Zürich<br />

spaziert, drehen sich die Passanten um.<br />

Silvana Schmid, die frühere Chefredaktorin<br />

der «Tessiner <strong>Zeitung</strong>», erzählt<br />

in literarischer Sprache die Lebensgeschichte<br />

der «Wölfin», einer Frau mit<br />

einer Stimme «roh wie ein ungeschliffener<br />

Granit». Von der Jugend in Corbella<br />

(TI) weit hinten im Onsernonetal, wo<br />

sie vor mehr als 60 Jahren zur Welt kam,<br />

über die Arbeit als Bankangestellte bei<br />

der «Ubiesse» in Bellinzona <strong>und</strong> ihre<br />

zwei grossen Lieben. Später bildet sie<br />

sich in Zürich <strong>und</strong> Chur zur stimmgewaltigen<br />

Sängerin weiter, die mit ihren<br />

Canzoni, Arien <strong>und</strong> saftigen Schnul zen<br />

<strong>das</strong> Publikum zum Schmelzen bringt.<br />

Ein w<strong>und</strong>erbares Buch mit üppig-sinnlichen<br />

Bildern, in Szene gesetzt von der<br />

Pariser Fotografin Gitty Darugar.<br />

Urs Rauber<br />

Markus Reiter: Lob des Mittelmasses.<br />

Warum wir nicht alle Elite sein müssen.<br />

Oekom, München 2011. 93 Seiten, Fr. 16.80.<br />

Wer für Mittelmass plädiert, gerät in<br />

Verdacht, der Mittelmässigkeit Vorschub<br />

zu leisten. Warum dem nicht so<br />

ist, zeigt die intelligente kleine Schrift<br />

des deutschen Journalisten Markus Reiter.<br />

Mittelmass – als Gegensatz zu Geniekult<br />

<strong>und</strong> Extremismus – hat nichts<br />

mit Spiessigkeit zu tun, wohl aber mit<br />

Zügelung der Leidenschaften <strong>und</strong> der<br />

von Aristoteles gelobten «goldenen<br />

Mitte». Die gesamte Gesellschaft baue<br />

auf der «Kärrnerarbeit des Mittelmasses»<br />

auf. Ohne die Mittleren gäbe es<br />

keine Spitze in Wirtschaft, Wissenschaft,<br />

Politik <strong>und</strong> Sport. So sei die Kultur<br />

des Mittelmasses der 1980er Jahre<br />

mit ein Gr<strong>und</strong> für den Erfolg der Bonner<br />

Republik gewesen. Alles wahr! Doch<br />

wenn Reiter zum x-ten Mal «die Tyrannei<br />

der Exzellenz» geisselt <strong>und</strong> die Elite<br />

verteufelt, stellt sich irgendwann die<br />

Frage, ob der Autor gelegentlich nicht<br />

selbst <strong>das</strong> Augenmass verliert.<br />

Urs Rauber<br />

Hans Christoph Binswanger: Die<br />

Glaubensgemeinschaft der Ökonomen.<br />

Murmann, Hamburg 2011. 145 S., Fr. 24.50.<br />

Was ist der Sinn allen Wirtschaftens?<br />

Der emeritierte Wirtschaftsprofessor<br />

der Universität St. Gallen <strong>und</strong> geistige<br />

Vater der ökologischen Steuer, Hans<br />

Christoph Binswanger, hat die Frage bereits<br />

1998 in seinem ersten Büchlein<br />

«Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen»<br />

beantwortet. Der Sinn der Wirtschaft<br />

sei es, die Gr<strong>und</strong>lagen zu schaffen,<br />

<strong>das</strong>s sich alles Leben voll entfalten<br />

könne. Schon damals erkannte der brillante<br />

Denker, <strong>das</strong>s die Dynamik der<br />

Wirtschaft immer wieder zum Selbstzweck<br />

ausartete. Weil diese Erkenntnis<br />

nach der Finanzkrise wahrer ist denn je,<br />

hat Binswanger sein Werk noch einmal<br />

aufgelegt <strong>und</strong> erweitert. Der Ökonom<br />

betrachtet die Wirtschaft durch die Brille<br />

von Mythos, Philosophie, Literatur<br />

<strong>und</strong> Ethnografie. Binswangers Büchlein<br />

ist zwar klein <strong>und</strong> fein, der Inhalt dafür<br />

umso gewichtiger.<br />

Charlotte Jacquemart<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15


Sachbuch<br />

Linda a. CiCero<br />

Geschichte Warum beherrscht der Westen den Globus? Und wie lange<br />

tut er <strong>das</strong> noch? Antworten auf diese Fragen gibt der britische Historiker Ian Morris:<br />

Die erste fällt episch aus, die zweite sehr kurz<br />

Rennen<br />

um die<br />

Weltmacht<br />

Ian Morris: Wer regiert die Welt? Warum<br />

Zivilisationen herrschen oder<br />

beherrscht werden. Campus,<br />

Frankfurt 2011. 656 Seiten, Fr. 37.90.<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Der Wälzer liegt schwer in der Hand,<br />

aber der Text liest sich leicht. Der Archäologe<br />

Ian Morris schreibt in typisch<br />

Ian Morris<br />

Geboren 1960 in Stoke-on-Trent studierte<br />

Ian Morris Geschichte <strong>und</strong> Klassische<br />

Archäologie in Birmingham <strong>und</strong><br />

Cambridge. Von 1987 bis 1995 lehrte er<br />

als Historiker <strong>und</strong> Archäologe an der Universität<br />

in Chicago, bevor er an die kalifornische<br />

Universität von Stanford<br />

wechselte, wo er heute noch tätig ist. Von<br />

2000 bis 2006 fanden unter seiner Leitung<br />

umfangreiche Ausgrabungen auf<br />

dem Monte Polizzo auf Sizilien statt. Eine<br />

lange Liste von Fach- <strong>und</strong> Sachbüchern<br />

zeugt von seiner regen Publikationstätigkeit.<br />

Zurzeit schreibt Ian Morris an einem<br />

Buch zum Thema Krieg.<br />

16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

britischer Manier unakademisch, mit<br />

trockenem Humor, bisweilen geschwätzig<br />

<strong>und</strong> etwas gar salopp. Aber die leichte<br />

Feder ist wohl nötig, um seine Leserschaft<br />

beim Gang durch die ausufernde<br />

Menschheitsgeschichte bei der Stange<br />

zu halten.<br />

«Wer regiert die Welt?», fragt ganz<br />

harmlos Ian Morris, der in den USA<br />

lehrt, im Titel der deutschen Fassung<br />

seines Buches. Auf Englisch hat «Why<br />

the West Rules – For Now» einen ganz<br />

anderen Beigeschmack. Er geht davon<br />

aus, <strong>das</strong>s heute der Westen regiert <strong>und</strong><br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> morgen vielleicht nicht mehr<br />

der Fall sein könnte. Und natürlich<br />

schwingt im Hintergr<strong>und</strong> die Sorge mit,<br />

<strong>das</strong>s der Westen vom Osten, von China,<br />

abgelöst wird. Diese Sorge treibt heute<br />

bekanntlich viele um. Um es vorweg zu<br />

nehmen: Ian Morris teilt diese Sorge<br />

nicht. Den Gegensatz Ost <strong>und</strong> West<br />

werde es in Zukunft nicht mehr geben;<br />

nur eine einzige, globalisierte Welt habe<br />

dann eine Chance zu überleben. Problematisch<br />

ist allerdings seine Definition<br />

von Ost (ohne Indien) <strong>und</strong> West (bis<br />

<strong>und</strong> mit Iran).<br />

Die Geografie entscheidet<br />

Die Frage, warum heute der Westen die<br />

Welt regiert, ist alt. Morris nennt zwei<br />

traditionelle Theorien: Die des langfristigen<br />

Determinismus, der auf der angeblichen<br />

kulturellen Überlegenheit der<br />

alten Griechen fusst; <strong>und</strong> die des Zufalls.<br />

Morris hat eine neue Theorie: Sie beruht<br />

auf der gesellschaftlichen Entwicklung,<br />

die ihrerseits aus dem Zusammenspiel<br />

von Biologie, Soziologie <strong>und</strong> Geografie<br />

entsteht. Besonders letztere hat<br />

es ihm angetan: «Geografische Unterschiede<br />

haben langfristige Auswirkungen,<br />

die aber niemals festgeschrieben<br />

sind, <strong>und</strong> was in einer Phase der gesell­<br />

schaftlichen Entwicklung als geografischer<br />

Vorteil gilt, kann zu einem anderen<br />

Zeitpunkt ohne jede Bedeutung<br />

sein.» Als Beispiel nennt er die Entdeckung<br />

Amerikas: Für die Menschen am<br />

Rand des europäischen Kontinents war<br />

es einfacher, den Atlantik zu überqueren<br />

als für die Chinesen, die weiter davon<br />

entfernt waren. Dass Chinesen schon im<br />

15. Jahrh<strong>und</strong>ert bis nach Amerika gesegelt<br />

sein sollen, ist laut Morris übrigens<br />

barer Unsinn.<br />

Warum also der Westen heute die<br />

Welt regiert, liegt an seiner geografischen<br />

Lage. Um seine Theorie zu demonstrieren,<br />

greift Morris tief in die<br />

Kiste der Geschichte, beginnt sozusagen<br />

bei Adam <strong>und</strong> Eva. «Wir müssen die<br />

Menschheit im Ganzen betrachten»,<br />

von Anfang an <strong>und</strong> nicht nur die letzten<br />

– beispielsweise – 200 Jahre. Und die<br />

Betrachtung müsse alle Aspekte der<br />

Geschichte umfassen, nicht nur die der<br />

Wirtschaft oder der Evolution oder des<br />

Klimas. Als Vertreter der Archäologie,<br />

die heute nur noch interdisziplinär arbeite,<br />

sei er quasi prädestiniert, die wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse einer ganzen<br />

Reihe von Fachgebieten zu vereinen<br />

<strong>und</strong> zu interpretieren.<br />

So durchwandert Morris in Windeseile<br />

die Jahrtausende: von der letzten<br />

Eiszeit über die neolithische Revolution<br />

zu den verschiedenen Imperien bis in<br />

die Gegenwart. Wir lernen H<strong>und</strong>erte<br />

von Persönlichkeiten kennen, aber kaum<br />

haben wir uns ihre Namen eingeprägt,<br />

geht es schon weiter: Der Perserkönig<br />

Dareios galoppiert vorüber, der karthagische<br />

Feldherr Hannibal dirigiert seine<br />

Elefanten über die Alpen, der chinesische<br />

Kaiser Qin Shihuangdi baut die<br />

Grosse Mauer, die Seefahrer Francis<br />

Drake <strong>und</strong> Zheng He stechen in See,<br />

Konfuzius <strong>und</strong> Mohammed predigen –<br />

China breitet sich aus:<br />

Holzverarbeitungs-<br />

anlage in Pointe-<br />

Noire, Republik<br />

Kongo, in<br />

chinesischem Besitz<br />

(2007).


<strong>und</strong> wir haben trotz flottem Stil den<br />

Faden fast verloren.<br />

Unterwegs vergleicht Morris stets die<br />

gesellschaftliche Entwicklung in Ost<br />

<strong>und</strong> West mit Hilfe eines von ihm kreierten<br />

Index. Diesen berechnet er aus vier<br />

Merkmalen: Energieausbeute, Grad der<br />

Verstädterung, Nachrichtenwesen <strong>und</strong><br />

die Fähigkeit, Krieg zu führen. Im Anhang<br />

werden die Punktlisten aufgeführt<br />

<strong>und</strong> erklärt. So erreicht beispielsweise<br />

<strong>das</strong> Merkmal Energieausbeute um <strong>das</strong><br />

Jahr 1900 für den Osten die Punktzahl<br />

49, für den Westen liegt sie fast doppelt<br />

so hoch bei 92. Anderes Beispiel: Die<br />

Kriegsführungskapazitäten zeigen für<br />

<strong>das</strong> Jahr 2000 im Westen den Stand von<br />

250 Punkten, während sie im Osten nur<br />

12 Punkte erreichen. Das alles ist nicht<br />

einfach nachzuvollziehen. Die einen<br />

werden diese Indexierung sowieso als<br />

eine Vereinfachung der komplexen Kulturentwicklung<br />

verurteilen, aber sie<br />

macht es doch möglich, Unvergleichbares<br />

irgendwie zu vergleichen.<br />

Der Vergleich der Indices zeigen,<br />

<strong>das</strong>s der Osten dem Westen immer r<strong>und</strong><br />

2000 Jahre hinterherhinkte. In 15 Jahrtausenden<br />

hatte der Osten nur gerade<br />

etwa 1000 Jahre, nämlich von etwa 550<br />

bis 1750, die Nase vorn. Dann aber wurde<br />

der Atlantik die wichtigste Verbindung<br />

zwischen Europa <strong>und</strong> Amerika. Die Industrialisierung<br />

setzte ein. Es entstanden<br />

neue Weltreiche <strong>und</strong> Wirtschaftssysteme,<br />

auf denen die heutige Vorherrschaft<br />

des Westens beruht.<br />

Anregend, weil provozierend<br />

Was die Zukunft betrifft, so extrapoliert<br />

Morris seine Indexkurve bis ins Jahr<br />

2100; rechnerisch wird der Osten den<br />

Westen exakt im Jahr 2103 überholen.<br />

Auf dem F<strong>und</strong>ament der Geschichte <strong>und</strong><br />

ihrer Gesetzmässigkeiten prognostiziert<br />

Morris zwar einen Wechsel von Macht<br />

<strong>und</strong> Wohlstand nach Osten. Aber: Die<br />

Gattung Mensch wird sich verändern.<br />

Und einer robotergesteuerten Gesellschaft<br />

wird der Gegensatz Ost-West völ-<br />

lig gleichgültig sein. Alle Traditionen<br />

werden «zu einer einzigen posthumanen<br />

Weltzivilisation» verschmelzen. Bis<br />

dahin wird es Aufgabe globaler Institutionen<br />

sein, den Atomkrieg zu verhindern,<br />

<strong>das</strong> Klima in den Griff zu bekommen,<br />

neue Energiequellen zu schaffen,<br />

die Weltbevölkerung zu ernähren. Und<br />

sollte ihnen <strong>das</strong> nicht gelingen, so laufen<br />

wir «auf ein finsteres Ende hinaus»: Es<br />

erwartet uns dann keine posthumane Zivilisation,<br />

sondern «die Schwärze der<br />

Weltendämmerung».<br />

Morris spekulative Interpretation der<br />

Vergangenheit <strong>und</strong> seine Prognosen bieten<br />

jede Menge Angriffsflächen, auf die<br />

sich die Spezialisten stürzen werden.<br />

Den Anfang bildet seine Definition von<br />

Ost <strong>und</strong> West, <strong>und</strong> selbstverständlich<br />

wird jeder Historiker eine Indexierung<br />

lächerlich finden, die vor allem für die<br />

prähistorischen Epochen meist mit der<br />

Stange im Nebel herumrührt. Aber sein<br />

Buch bleibt dennoch ein grosser Wurf –<br />

lesenswert, anregend, provozierend. ●<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17<br />

PAOLO WOODS / ANZENBERGER


Sachbuch<br />

Menschenrechte Das Leben des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo<br />

Kampf für die Demokratie in China<br />

Bei Ling: Der Freiheit geopfert. Die<br />

Biografie des Friedensnobelpreisträgers<br />

Liu Xiaobo. Riva, München 2010.<br />

364 Seiten, Fr. 30.50.<br />

Von Harro von Senger<br />

Über Konfuzius, der vergebens jahrelang<br />

im Reich der Mitte umherreiste, um<br />

von einem Herrscher in Dienst genommen<br />

zu werden, spöttelte man: «Er<br />

weiss, <strong>das</strong>s es nicht geht, <strong>und</strong> trotzdem<br />

tut er es.» Daran denkt man unwillkürlich<br />

angesichts des Lebens des Doktors<br />

der Literaturwissenschaften Liu Xiaobo,<br />

ungeschminkt <strong>und</strong> glaubwürdig geschildert<br />

von seinem Fre<strong>und</strong> Bei Ling. Zwar<br />

hat Liu Xiaobo Konfuzius in den 1980er<br />

Jahren in Bausch <strong>und</strong> Bogen verdammt.<br />

Aber wie dieser tritt Liu Xiaobo seit vielen<br />

Jahren unbeirrt für seine Ideale ein.<br />

Es sind dies Freiheit, Demokratie <strong>und</strong><br />

Menschenrechte – im westlich-liberalen<br />

Sinne. Da er sich deswegen immer wieder<br />

mit der Kommunistischen Partei<br />

Chinas anlegte, nannte ihn seine zweite<br />

Frau Liu Xia «Dummkopf», ja liebevollscherzhaft<br />

gar «schwachsinnig».<br />

Als Elfjähriger erlebte Liu Xiaobo<br />

1966 den Ausbruch der «Kulturrevolution».<br />

Zwar distanzierte er sich später<br />

voller Scham <strong>und</strong> Reue von seinen damals<br />

verübten Grausamkeiten. Doch<br />

blieben die «Kulturrevolution» <strong>und</strong> der<br />

damals propagierte Mao-Ausspruch<br />

«Rebellion ist gerechtfertigt» nicht<br />

ohne Einfluss auf ihn, gerade bei seiner<br />

Entwicklung zum Andersdenkenden.<br />

1984 heiratete er <strong>das</strong> erste Mal, aber<br />

Treue war keine seiner Tugenden, nicht<br />

einmal im Frühjahr 1989 auf dem Platz<br />

des Himmlischen Friedens. Dort organi-<br />

Daniel Domscheit-Berg: Inside WikiLeaks.<br />

Meine Zeit bei der gefährlichsten<br />

Website der Welt. Econ, Berlin 2011.<br />

303 Seiten, Fr. 29.90.<br />

Von Michael Furger<br />

«Interessiert an einem Job?». Die Frage<br />

veränderte <strong>das</strong> Leben von Daniel Domscheit-Berg.<br />

Sie kam von Wikileaks-<br />

Gründer Julian Assange in einem Internet-Chat.<br />

Der deutsche Informatiker,<br />

auf der Suche nach Abenteuer, sagte Ja.<br />

Heute ist er den Job wieder los. Dazwischen<br />

liegen drei Jahre im Auge<br />

eines Hurrikans. Domscheit-Berg wurde<br />

neben Assange zum zweiten wichtigen<br />

Mann von Wikileaks <strong>und</strong> war etwa mitverantwortlich<br />

für die aufsehenerregenden<br />

Enthüllungen aus dem Irak- <strong>und</strong><br />

dem Afghanistankrieg. Mit «Inside Wikileaks»<br />

enthüllt er nun die Enthüller.<br />

18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

sierte er einen Hungerstreik, aber in der<br />

Nacht des 4. Juni half er, den friedlichen<br />

Abzug der Studenten vom Platz zu organisieren.<br />

Dies wurde ihm offiziell als<br />

Verdienst angerechnet.<br />

Scharf geht Liu Xiaobo mit den Anführern<br />

der Studentenbewegung von<br />

1989 <strong>und</strong> mit chinesischen Intellektuellen<br />

ins Gericht. «Die studentischen Führer,<br />

die sich als Kämpfer für Demokratie<br />

<strong>und</strong> als Helden fühlen, <strong>und</strong> die chinesischen<br />

Intellektuellen im Widerstand<br />

kennen Demokratie nur aus Lehrbü-<br />

Demonstration für Liu Xiaobo im Juni 2009 in Hongkong.<br />

Internet Wikileaks-Mitgründer Domscheit-Berg rechnet mit Julian Assange ab<br />

Im Auge des Hurrikans<br />

Es ist die Geschichte einer kleinen<br />

Gruppe von Anarchisten, die mit erstaunlich<br />

simplen Mitteln <strong>und</strong> wenig<br />

Skrupel zu Werk gingen. Über die meiste<br />

Zeit betrieben Assange <strong>und</strong> Domscheit-Berg<br />

die Webseite zu zweit, unterstützt<br />

nur von ein bis zwei Technikern.<br />

Ihnen gegenüber standen Juristenteams<br />

von Banken oder die Task Force<br />

der amerikanischen Regierung. Um zu<br />

verhüllen, wie klein <strong>und</strong> verletzlich Wikileaks<br />

war, täuschte die Gruppe vor, sie<br />

habe H<strong>und</strong>erte von Mitarbeitern <strong>und</strong> Juristen<br />

im Rücken. «Hätte die gegnerische<br />

Seite gewusst, <strong>das</strong>s wir nur zwei<br />

extrem grossmäulige junge Männer mit<br />

einer einzigen Uralt-Maschine waren,<br />

hätte sie eine Chance gehabt, den Aufstieg<br />

von Wikileaks zu stoppen.»<br />

Das Buch ist süffig geschrieben – zum<br />

Teil etwas geschwätzig – <strong>und</strong> folgt dem<br />

Credo von Wikileaks. Es enthält vertrauliches<br />

Material; interne Chatproto-<br />

KING CHEUNG / AP<br />

chern. Sie haben keine Ahnung von<br />

deren Umsetzung in die Wirklichkeit.»<br />

Selbstkritisch scheinen diese Äusserungen<br />

nicht gemeint zu sein.<br />

Weder Liu Xiaobo noch Bei Ling<br />

scheinen über juristische Kenntnisse zu<br />

verfügen. Davon zeugen Formulierungen<br />

wie: «Nur weil man etwas gesagt<br />

hat, wird man verurteilt. Das entspricht<br />

nicht dem Gesetz über Menschenrechte,<br />

<strong>das</strong> in die chinesische Verfassung aufgenommen<br />

wurde.» Leider erfährt man<br />

nichts über den offenbar unveröffentlichten<br />

chinesischen Urtext <strong>und</strong> über<br />

die Übersetzer. Immer wieder überraschen<br />

Aussagen wie jene über die an der<br />

tschechoslowakischen Charta 77 orientierte<br />

Charta 08, die zusammen mit anderen<br />

Veröffentlichungen Liu Xiaobo elf<br />

Jahre Gefängnis einbrachte: «Zum Zeitpunkt<br />

des Erscheinens der ‹Charta 08›<br />

war die gesellschaftliche Entwicklung in<br />

China viel weiter vorangeschritten als<br />

damals in der Tschechoslowakei. Es<br />

herrschte zwar Unzufriedenheit, von<br />

einer gesellschaftlichen Krise konnte jedoch<br />

keine Rede sein. (…) Es gab in der<br />

Masse der Bevölkerung keine Motivation<br />

zu einem Systemwechsel. Es ging den<br />

Leuten schliesslich einigermassen gut.»<br />

An mehreren zum Teil widersprüchlichen<br />

Wiederholungen spürt man die<br />

Hast, mit der <strong>das</strong> Buch über den im<br />

Dezember 2010 mit dem Friedensnobelpreis<br />

ausgezeichneten chinesischen Dissidenten<br />

auf den Markt geworfen wurde.<br />

Insgesamt ist Bei Ling aber ein wissensmehrendes<br />

Werk über einen im Westen<br />

gefeierten, in der Volksrepublik China<br />

aber offiziell verfemten Zeitgenossen<br />

gelungen. ●<br />

Harro von Senger ist Professor für<br />

Sinologie an der Universität Freiburg i. Br.<br />

kolle, die dokumentieren, wie die Gruppe<br />

arbeitete <strong>und</strong> wie die Berühmtheit<br />

sie schliesslich zerstörte. Die Beziehung<br />

zwischen Assange <strong>und</strong> Domscheit-Berg<br />

ist der rote Faden. Anfangs war es die<br />

enge Fre<strong>und</strong>schaft von zwei, die in finsteren<br />

Wohnungen Tag <strong>und</strong> Nacht wie<br />

berauscht vor dem Computer sassen,<br />

um den Mächtigen <strong>das</strong> Fürchten zu lehren.<br />

Die in einem Mietauto durch Europa<br />

fuhren, um an geheimen Orten Server<br />

zu installieren. Am Ende blieb nur noch<br />

Hass. Julian Assange wird von Daniel<br />

Domscheit-Berg als zwar genialer Denker,<br />

aber auch als machtversessener<br />

Egomane beschrieben, chaotisch <strong>und</strong><br />

unfähig mit der öffentlichen Aufmerksamkeit<br />

umzugehen.<br />

Im September 2010 verliessen Domscheit-Berg<br />

<strong>und</strong> weitere Mitglieder Wikileaks<br />

im Streit. Das Buch ist, obwohl<br />

der Autor <strong>das</strong> bestreitet, auch eine Abrechnung<br />

mit Assange. ●


Kontroverse Vor 50 Jahren stand in Jerusalem der Nazi-Massenmörder Adolf Eichmann vor Gericht.<br />

Die Philosophin löste mit ihrem Prozessbericht eine erregte Diskussion aus<br />

Das Lachen der Hannah Arendt<br />

Hanna Arendt, Joachim Fest: Eichmann<br />

war von empörender Dummheit.<br />

Gespräche <strong>und</strong> Briefe. Hrsg. Ursula<br />

Ludz, Thomas Wild. Piper,<br />

München 2011. 206 Seiten, Fr. 25.90.<br />

Marie Louise Knott: Verlernen. Denkwege<br />

bei Hanna Arendt. Matthes & Seitz,<br />

Berlin 2011. 151 Seiten, Fr. 30.50.<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

Hanna Arendt war eine ausgesprochen<br />

humor- <strong>und</strong> gedankenvolle Briefeschreiberin.<br />

Dass nach den grossartigen Briefwechseln<br />

mit ihrem Mann Heinrich Blücher,<br />

mit befre<strong>und</strong>eten Schriftstellern<br />

(Mary McCarthy, Hermann Broch, Uwe<br />

Johnson) <strong>und</strong> mit dem jüdischen Gelehrten<br />

Gershom Scholem nun auch ein<br />

solcher mit dem damals jungen deutschen<br />

Historiker <strong>und</strong> späteren Hitler-<br />

Biografen Joachim Fest angekündigt<br />

wurde, liess Vorfreude aufkommen.<br />

Gemessen an solchen Erwartungen<br />

muss <strong>das</strong> nun vorliegende schmale Buch<br />

enttäuschen: Es sind nur 17 Briefe, in den<br />

meisten geht es um Fre<strong>und</strong>lichkeiten<br />

<strong>und</strong> Organisatorisches. Nur zweimal<br />

kommt es zu einer inhaltlichen Diskussion:<br />

1964 zur Vorbereitung eines Radiogesprächs<br />

zur deutschen Ausgabe von<br />

Arendts Eichmann-Buch, dann noch<br />

einmal 1970, als die von Fest beförderten<br />

Memoiren des Nazi-Architekten Albert<br />

Speer zu einem Gedankenaustausch<br />

über <strong>das</strong> «Rätsel Speer» führen. Auch<br />

die im Buchtitel angekündigten «Gespräche»<br />

in der Mehrzahl erweisen sich<br />

im Buch als ein einziges: <strong>das</strong> erwähnte<br />

Radiogespräch vom Herbst 1964.<br />

Arendts berühmtes Diktum<br />

Dieses allerdings hat es in sich. Schon<br />

weil es neben dem berühmten Fernsehinterview<br />

mit Günter Gaus von 1964<br />

eine weitere Gelegenheit bietet, Hanna<br />

Arendt beim Sprechen zuzuhören –<br />

nicht akustisch zwar, doch unverkennbar<br />

authentisch auch als Text. Vor allem<br />

aber weil es ihre Gedanken <strong>und</strong> Erkenntnisse<br />

zum Eichmann-Prozess in<br />

Kurzform <strong>und</strong> doch in ganzer, damals so<br />

sehr Anstoss erregenden Radikalität<br />

wiedergibt. Worum ging es Arendt wirklich<br />

mit ihrem berühmten Diktum von<br />

der «Banalität des Bösen», der sich für<br />

immer mit ihrem Namen verband?<br />

Arendt versteht den Schock, den die<br />

Formel damals auslöste, gerade deshalb<br />

so gut, weil sie ihn selbst erlebt hatte.<br />

Als die Zeitschrift «New Yorker» der jüdischen<br />

Emigrantin Arendt vorschlug,<br />

über den Eichmann-Prozess in Jerusalem<br />

zu berichten – er begann vor genau<br />

50 Jahren, im April 1961 – war sie hocherfreut:<br />

Hier bot sich ihr eine Chance,<br />

jenen dämonischen Nazi-Täter leibhaftig<br />

zu erleben, der als Leiter des «Judenreferats»<br />

im Reichssicherheitshauptamt<br />

die Deportation von Millionen Men-<br />

Adolf Eichmann am<br />

11. April 1961 während<br />

seines Prozesses<br />

in Jerusalem, über<br />

den Hanna Arendt<br />

berichtete.<br />

schen in die Vernichtungslager organisiert<br />

hatte.<br />

Doch der Massenmörder im Glaskäfig<br />

von Jerusalem erwies sich nicht als<br />

dämonisches Monster, sondern als lächerlich-trauriger<br />

«Hanswurst», der mit<br />

Klischees um sich warf. Nun habe die<br />

westliche Tradition <strong>das</strong> Böse immer als<br />

dämonisch begriffen, erklärt Arendt,<br />

denn «wenn man dämonisiert, macht<br />

man sich nicht nur interessant, sondern<br />

man schreibt sich heimlich auch bereits<br />

eine Tiefe zu, die die anderen eben nicht<br />

haben.» Bei Eichmann jedoch gab es keinerlei<br />

Tiefe. Neben der Lust am reinen<br />

Funktionieren zeigte er vor allem den<br />

penetranten Unwillen, «sich je vorzustellen,<br />

was eigentlich mit dem anderen<br />

ist». «Wo kämen wir hin, wenn sich<br />

jeder Gedanken machen würde», verteidigte<br />

sich Eichmann. Diese besondere<br />

Art von «empörender Dummheit»<br />

meinte <strong>das</strong> Wort von der Banalität, ein<br />

Wort, <strong>das</strong> keineswegs verharmlosend<br />

gemeint war, wie viele fälschlicherweise<br />

meinten, sondern <strong>das</strong> im Gegenteil ein<br />

Phänomen bezeichnete, <strong>das</strong> Arendt für<br />

besonders beunruhigend hielt.<br />

Das Gespräch ist <strong>das</strong> Herzstück dieses<br />

Buches. Zusammen mit einer klugen<br />

Einführung der Herausgeber <strong>und</strong> einigen<br />

zentralen Stellungnahmen aus der<br />

Eichmann-Kontroverse – dem sie auslösenden<br />

Protest des Council of Jews<br />

from Germany etwa oder der gereiztboshaften<br />

Kritik von Golo Mann, der<br />

Arendt Originalitätssucht <strong>und</strong> Arroganz<br />

vorwirft – bietet es einen ausgezeich-<br />

neten Einblick in die Diskussion um<br />

Arendts Eichmann-Bericht, der damals<br />

die jüdische ebenso wie die nicht-<br />

jüdische westliche Welt erregt hat.<br />

Für Arendt selbst markierte die Eichmann-Erfahrung<br />

einen Wendepunkt.<br />

Dass «schiere Gedankenlosigkeit» einen<br />

kleinen Durchschnittsmenschen zu<br />

einem der grössten Verbrecher seiner<br />

Zeit gemacht hatte, führt sie zur gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

Beschäftigung mit der Tätigkeit<br />

des Denkens überhaupt, die dann in<br />

ihr philosophisches Hauptwerk «Vom<br />

Leben des Geistes» münden sollte.<br />

Hohl, absurd, lächerlich<br />

Um derartige «Denkwege» Hanna<br />

Arendts geht es Marie Louise Knott in<br />

ihren ebenso anspruchsvollen wie subtilen<br />

Essays, die sie unter den Titel «Verlernen»<br />

stellt, weil es der Philosophin<br />

immer wieder auch um den Bruch mit<br />

der Sprach- <strong>und</strong> Denktradition geht.<br />

Knotts Essay zum Lachen bei Hanna<br />

Arendt knüpft wiederum an den Eichmann-Prozess<br />

an. «Ich weiss nicht wie<br />

oft ich gelacht habe; aber laut!» hatte<br />

Arendt nach der Lektüre von 3000 Seiten<br />

Verhörprotokoll erzählt: so hohl, so<br />

absurd, so lächerlich eben, erschienen<br />

ihr die mit heiligem Ernst vorgetragenen<br />

Platitüden des Angeklagten. Gerade<br />

deshalb sucht sie ihm mit Ironie beizukommen<br />

<strong>und</strong> verabscheut jedes Pathos,<br />

selbst jenes um die Opfer. Pathetisch<br />

nämlich dürfe man über die Katastrophe<br />

des Holocaust nie reden, «weil man sie<br />

dadurch verharmlost.» ●<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19<br />

CINETEXT


Sachbuch<br />

Musikgeschichte Zum 100. Todestag des Komponisten Gustav Mahler werden zwei lesenswerte<br />

Publikationen neu aufgelegt<br />

Mit abgebissenen Fingernägeln<br />

Gilbert Kaplan (Hrsg.): Das Mahler Album.<br />

Christian Brandstätter, Wien 2011.<br />

335 Seiten, Fr. 56.90.<br />

Kurt Blaukopf: Gustav Mahler oder Der<br />

Zeitgenosse der Zukunft. Braumüller,<br />

Wien 2011. 432 Seiten, Fr. 34.90.<br />

Von Corinne Holtz<br />

Der österreichische Komponist <strong>und</strong> Dirigent<br />

Gustav Mahler (1860–1911) ist spätestens<br />

seit Luchino Viscontis Film «Der<br />

Tod in Venedig» (1971) auch einem breiteren<br />

Publikum bekannt. Das Adagietto<br />

aus Mahlers Fünfter Sinfonie, <strong>das</strong> den<br />

So<strong>und</strong>track des Klassikers prägte, trat<br />

damals den Siegeszug in die Charts an.<br />

Die Rezeption von Mahlers Musik<br />

<strong>und</strong> seinem Hauptwerk (den zehn Sinfonien)<br />

ist faszinierend unterschiedlich:<br />

Während ihm einerseits Formlosigkeit,<br />

Gebrochenheit <strong>und</strong> Uneigentlichkeit<br />

(sprich «Kitsch») vorgeworfen wird, attestiert<br />

man ihm anderseits Modernität.<br />

Er montierte zum Beispiel Märsche <strong>und</strong><br />

Ländler in sinfonische Abläufe <strong>und</strong> entwickelte<br />

mit der Placierung von Fernorchestern<br />

einen zukunftsweisenden<br />

Raumklang. Für den Buchmarkt ist Mahlers<br />

Popularität ein Glücksfall <strong>und</strong> sein<br />

100. Todestag im Mai 2011 ein Anlass, die<br />

Aufmerksamkeit erneut zu nutzen. Eine<br />

Monografie <strong>und</strong> ein Fotoalbum sind neu<br />

herausgekommen.<br />

Angst vor dem Bild<br />

Wie macht sich Mahler vor der Kamera?<br />

Das «Mahler-Album» von Gilbert Kaplan<br />

(in zweiter überarbeiteter Fassung)<br />

liefert Antworten, ist es doch die definitive<br />

ikonografische Sammlung der überlieferten<br />

Fotografien. Mahler stand dem<br />

Bild kritisch gegenüber <strong>und</strong> hielt es mit<br />

Wagners Opern ähnlich wie Anton<br />

Bruckner: Musik braucht keine Bebilderung,<br />

<strong>das</strong> Hören beziehungsweise Lesen<br />

der Partitur ist Klang genug. Das könnte<br />

auch für ihn selbst gegolten haben: Mahler<br />

lässt sich offensichtlich ungern in<br />

Szene setzen. Auf keiner der Fotografien<br />

ein entspanntes Lachen – vielmehr<br />

spricht Ernst <strong>und</strong> Skepsis aus seinen<br />

Zügen. Als er vier oder fünf Jahre alt ist,<br />

setzt ein Fotograf den schüchternen<br />

Knaben ins Bild. Die linke Hand liegt auf<br />

einem Notenblatt, <strong>das</strong> fast halb so gross<br />

ist wie er, in der rechten Hand hält er<br />

einen Hut, was ihm einen Hauch des Erwachsenseins<br />

verleihen soll.<br />

Mahler hat überliefert, unter welch<br />

schmerzensreichen Bedingungen diese<br />

Fotografie entstanden ist: Er war überzeugt<br />

davon, <strong>das</strong>s ihn die Kamera einsaugen<br />

<strong>und</strong> dann für immer auf ein<br />

Stück schwarzen Pappkarton verbannen<br />

würde. Erst nachdem der Fotograf sich<br />

selbst abgelichtet <strong>und</strong> damit den Beweis<br />

erbracht hatte, <strong>das</strong>s die Kamera unge-<br />

20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

Der kleine Gustav<br />

Mahler posiert als<br />

Fünfjähriger 1865 mit<br />

einem Notenblatt.<br />

fährlich ist, willigte der kleine Gustav<br />

ein. Die Skepsis ist geblieben, zum Beispiel<br />

1905, als Mahler im Garten der<br />

Villa des Malers Carl Moll mit illustren<br />

Kollegen zu Tisch gesessen ist. Während<br />

der Regisseur Max Reinhardt <strong>und</strong><br />

der Komponist Hans Pfitzner genüsslich<br />

an ihren Zigarren ziehen <strong>und</strong> der<br />

Hausherr an einem Glas Wein nippt,<br />

steht Mahler abseits.<br />

Den sprechenden Bildern ist der berühmte<br />

Essay des Bühnenbildners Alfred<br />

Roller vorangestellt, der nach Mahlers<br />

Tod im Auftrag von dessen Frau<br />

Alma Mahler ein kleines Buch mit Fotografien<br />

<strong>und</strong> Zeichnungen herausgebracht<br />

hat. Der Arbeitskollege an der<br />

Wiener Hofoper ist ein ausgezeichneter<br />

Beobachter <strong>und</strong> Stilist, <strong>und</strong> sein Essay<br />

gehört zum Besten, was über den Menschen<br />

Gustav Mahler geschrieben worden<br />

ist. «Ich konnte diesen prachtvoll<br />

modellierten, braungebrannten Rücken<br />

nie ansehen, ohne an ein fites Rennpferd<br />

erinnert zu werden. Seine Hand war<br />

eine rechte Arbeiterhand, kurz <strong>und</strong><br />

breit, <strong>und</strong> die Finger ohne Verjüngung<br />

wie abgehackt endigend. Die Fingernägel<br />

– es muss leider gesagt werden –<br />

ÖSTERREICHISCHES THEATERMUSEUM / IMAGNO<br />

waren meist kurz abgebissen, oft bis<br />

aufs Blut.»<br />

Ähnlich ungeschminkt geht es in der<br />

wiederaufgelegten Biografie des Musiksoziologen<br />

Kurt Blaukopf zu, dem die<br />

Nachwelt die erste populärwissenschaftliche<br />

Mahler-Biografie von Rang<br />

verdankt. Der Autor erlag nicht der Versuchung,<br />

die zwischen Apologie <strong>und</strong> Polemik<br />

gespaltene Rezeption zu glätten.<br />

Vielmehr nahm er die damals noch<br />

kaum erschlossenen Quellen zum Anlass,<br />

1969 höchst anschaulich über<br />

Leben <strong>und</strong> Werk zu schreiben – so etwa<br />

über eines der frühen Engagements. Olmütz,<br />

im Winter 1883: Ein junger Kapellmeister<br />

reist aus Wien an, um <strong>das</strong><br />

Theater der mährischen Stadt aus der<br />

Krise zu führen.<br />

Couragierte Pionierleistung<br />

Abends findet man ihn im Gasthaus – er<br />

trinkt nur Wasser <strong>und</strong> isst vege tarisch.<br />

Kein W<strong>und</strong>er, <strong>das</strong>s der der Lebensreform<br />

zugeneigte «Nervenmensch» als närrischer<br />

Sonderling gilt. Allmählich gewöhnt<br />

man sich an die Eigenheiten des<br />

Dirigenten, der statt Mozart <strong>und</strong> Wagner<br />

«herunterzutaktieren» angeblich<br />

Bedeutungsloseres von Meyerbeer <strong>und</strong><br />

Verdi aufführt. Seine direkte «Art zu<br />

fordern, zu befehlen, war eine so dezidierte,<br />

<strong>das</strong>s es niemand wagte, ihm zu<br />

widersprechen», überlieferte ein Sänger,<br />

dem die Kunst am Herzen lag.<br />

Kurt Blaukopf war neben Lothar<br />

Knessl der einzige Musikpublizist in<br />

ganz Österreich, der nach 1945 gegen die<br />

anti semitisch geprägte Mahler-Rezeption<br />

(insbesondere auch des sehr einflussreichen<br />

Musikwissenschafters <strong>und</strong><br />

Ordinarius Erich Schenk) angetreten<br />

war <strong>und</strong> den Komponisten auf hohem<br />

Niveau verteidigte.<br />

Blaukopf schrieb den Gegenentwurf<br />

zu Adornos dialektischer Mahler-Monografie,<br />

indem er Leben <strong>und</strong> Werk positivistisch<br />

deutete. Ausserdem richtete<br />

er sich an ein breites Musikpublikum,<br />

<strong>das</strong> den schon vor dem Nationalsozialismus<br />

diffamierten Komponisten kaum<br />

kennen konnte.<br />

Blaukopfs Biografie gilt neben Adornos<br />

Monografie zu Recht als Standardwerk.<br />

Die Lektüre ist über weite Strecken<br />

erfrischend, auch wenn der Autor<br />

gelegentlich Kriegsmetaphern bemüht<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> Thema Mahler <strong>und</strong> die Frauen<br />

heutigen Ansprüchen nicht genügt. Hingegen<br />

verzichtet er auf die Rolle des Hagiografen<br />

<strong>und</strong> bleibt bei aller Liebe zum<br />

Gegenstand der kritische Autor, der sich<br />

als Interpret seiner Quellen offenbart.<br />

So kommt Blaukopf etwa zum Schluss,<br />

<strong>das</strong>s sich Mahlers «Doppelcharakter»<br />

schon früh ausgeprägt hat <strong>und</strong> der verinnerlichte<br />

«Träumer» immer dann zum<br />

nüchternen «Taktiker» wurde, wenn es<br />

um die Kunst ging. ●


Nahrung Weltweit werden tonnenweise Lebensmittel<br />

vernichtet – Tristram Stuart hat die Fakten gesammelt<br />

Frische Mangos aus<br />

dem Müll<br />

Tristram Stuart: Für die Tonne. Wie wir<br />

unsere Lebensmittel verschwenden.<br />

Artemis & Winkler, Mannheim 2011.<br />

380 Seiten, Fr. 32.50.<br />

Von Sabine Sütterlin<br />

Das sei «eines dieser Bücher, die jeder<br />

gelesen haben sollte», schrieb die britische<br />

<strong>Zeitung</strong> «The Independent». Diesem<br />

Urteil kann man nur zustimmen.<br />

Denn jedem Konsumenten mit halbwegs<br />

klarem Verstand ist zwar klar, <strong>das</strong>s<br />

der Luxus stets gut gefüllter Regale im<br />

Supermarkt problematische Nebenerscheinungen<br />

hat. Aber die wenigsten<br />

dürften wissen, <strong>das</strong>s von den aufwendig<br />

produzierten <strong>und</strong> oft über Tausende von<br />

Kilometern eingeflogenen Nahrungsmitteln<br />

viel Nichtgekauftes oder Abgelaufenes<br />

im Müll landet. «Für die<br />

Tonne» dokumentiert <strong>das</strong> wahre Ausmass<br />

an Vergeudung – <strong>und</strong> <strong>das</strong> lässt niemanden<br />

kalt.<br />

Der britische Ökoaktivist Tristram<br />

Stuart hat schon als Schuljunge eigene<br />

Philosophie Eine neue Nietzsche-Biografie führt Leben <strong>und</strong> Werk überzeugend zusammen<br />

Erdrückt von den Frauen seiner Familie<br />

Sabine Appel: Friedrich Nietzsche.<br />

Wanderer <strong>und</strong> freier Geist. C. H. Beck,<br />

München 2011. 270 Seiten, Fr. 30.50.<br />

Von Manfred Koch<br />

Seine Haus-Frauen waren sein Schicksal.<br />

«Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu<br />

mir suche», schrieb Friedrich Nietzsche<br />

im Herbst 1888, «finde ich immer meine<br />

Mutter <strong>und</strong> meine Schwester, – mit solcher<br />

Canaille mich verwandt zu glauben,<br />

wäre eine Lästerung auf meine<br />

Göttlichkeit.»<br />

Vielleicht waren Nietzsches Masslosigkeiten<br />

ein Versuch, sich durch geistigen<br />

Extremismus von seiner erdrückend<br />

weiblichen Familie abzunabeln. Der<br />

Vater war gestorben, als er fünf Jahre alt<br />

war. Dass er an diese Mutter <strong>und</strong> diese<br />

Schwester geraten war, <strong>das</strong> konnte in<br />

seinen Augen nur, wie Sabine Appel in<br />

ihrer Nietzsche-Biografie kommentiert,<br />

ein «kosmischer Unfall» sein. Der Schaden<br />

war irreparabel, er entkam den beiden<br />

nie. Dem Basler Professor führte die<br />

Schwester den Haushalt; in den folgenden<br />

Wanderjahren kehrte der schmerzgeplagte<br />

Nietzsche wie zwanghaft regelmässig<br />

ins Elternhaus zurück. Nach dem<br />

Schweine mit Abfällen aus Küchen <strong>und</strong><br />

Läden gemästet. Als Student begann er<br />

aus den Kehrichtcontainern von Supermärkten<br />

<strong>und</strong> Schnellimbissen noch<br />

Geniessbares herauszufischen. Seither<br />

ernährt er so sich selbst <strong>und</strong> seine<br />

Fre<strong>und</strong>e, ohne sich je den Magen zu<br />

verderben. Reife Mangos oder frisches<br />

Brot, Milchprodukte, Fertiggerichte<br />

oder Luxus-Eiscreme mit abgelaufenem<br />

Mindesthaltbarkeitsdatum – es fehlt an<br />

nichts. Doch nicht nur Konsumenten<br />

<strong>und</strong> Handel entsorgen Essbares. Auch<br />

Hersteller vernichten wegen kleiner<br />

Schönheitsfehler oder schwankender<br />

Nachfrage palettenweise Produkte.<br />

Nicht einmal die Entwicklungsländer<br />

sind ausgenommen: Zwischen 10 <strong>und</strong><br />

40 Prozent der Ernten verschimmeln<br />

oder werden von Insekten gefressen,<br />

weil es an Infrastruktur für Transport<br />

<strong>und</strong> Lagerung fehlt.<br />

Für sein Buch hat Stuart akribisch<br />

Zahlen zusammengetragen <strong>und</strong> r<strong>und</strong> um<br />

den Globus recherchiert. Sein Fazit: Von<br />

dem tonnenweise Weggeworfenen<br />

könnten Hungrige satt werden. Sie<br />

Auch in New York<br />

ernähren sich<br />

Aktivisten aus dem<br />

Müll (18. März 2009).<br />

Zusammenbruch 1889 war er wieder <strong>das</strong><br />

unmündige Kind seiner Mutter, die ihm<br />

täglich die Speisereste aus dem Schnauz<br />

kämmte. Die deutschnationale Schwester,<br />

eine spätere Hitler-Verehrerin, übernahm<br />

die «Pflege» des Œuvres, <strong>das</strong> sie<br />

durch Unterdrückung unliebsamer Stellen<br />

<strong>und</strong> die Kompilation eines angeblichen<br />

Hauptwerks mit dem Titel «Der<br />

Wille zur Macht» konsequent fälschte.<br />

Die fatale Verstrickung des Philosophen<br />

in die familiäre «Höllenmaschine»<br />

ist einer der Leitfäden, an denen Sabine<br />

Appel ihre Lebensbeschreibung ausrichtet.<br />

Dabei erliegt sie an keiner Stelle<br />

der Gefahr des platten Psychologisierens.<br />

Nietzsches trostloses Verhältnis zu<br />

Frauen wird zurückhaltend lakonisch<br />

dargestellt: seine auszehrende Verehrung<br />

Cosima Wagners, seine Überrumpelungs-Heiratsanträge,<br />

zuerst an eine<br />

gewisse Mathilde Trampedach, dann an<br />

die berühmte Lou von Salomé; beide endeten<br />

unvermeidlich mit einer Abfuhr.<br />

Die misogynen Entgleisungen dieses<br />

Mannes, der nie eine erotisch erfüllte<br />

Liebesbeziehung erlebte, sich dafür aber<br />

vermutlich bei einem Bordellbesuch mit<br />

Syphilis infizierte, kommentiert Appel<br />

mit feiner Ironie. Ebenso gelassen zitiert<br />

sie die einschlägigen, schauderhaften<br />

könnten in den natürlichen Kreislauf zurückgeführt<br />

oder zu Bioenergie verarbeitet<br />

werden. Damit müssten weniger<br />

neue Anbauflächen erschlossen werden<br />

<strong>und</strong> obendrein würde sich unsere CO2-<br />

Bilanz verbessern.<br />

Allerdings ist «Für die Tonne» schwer<br />

verdauliche Lektüre: 380 eng beschriebene<br />

Seiten, eine schier unüberschaubare<br />

Fülle von Daten, ein mitunter eifernder<br />

Ton («wenn Sie keine Rinde mögen,<br />

essen Sie kein Brot»). Untypisch für<br />

einen Engländer, mangelt es Stuart an<br />

Selbstironie, mit der etwa Karen Duves<br />

Selbsterfahrungsbericht «Anständig<br />

essen» geschrieben ist. Schade. ●<br />

Stellen, in denen er <strong>das</strong> Aggressiv-<br />

Männliche, Kriegerische, Brutale preist.<br />

Nietzsches rhetorische Kraftmeierei<br />

hat, <strong>das</strong> zeigt Appel in der Entfaltung<br />

der ganzen Lebensgeschichte, bis zuletzt<br />

etwas vom Backenaufblasen eines<br />

ängstlichen, einsamen Kindes. «Liebe<br />

Fre<strong>und</strong>in», fragt er als über 40-Jähriger<br />

seine Gönnerin Malwida von Meysenbug,<br />

«giebt es denn nicht irgend einen<br />

Menschen auf der Welt, der mich liebt?»<br />

Auf weniger als 300 Seiten bietet Appels<br />

Biografie nicht nur einen souverän<br />

erzählten Überblick über Nietzsches<br />

Leben, sondern führt auch k<strong>und</strong>ig <strong>und</strong><br />

gut verständlich, anhand längerer Zitate,<br />

in seine Philosophie ein. Vor allem die<br />

Erläuterungen zur «Geburt der Tragödie»<br />

<strong>und</strong> zur Lehre der «ewigen Wiederkehr»<br />

im «Zarathustra» dürften vielen<br />

Lesern Lust auf <strong>das</strong> Original machen.<br />

Auffallend ihr schöner Sinn für <strong>das</strong> prägnante<br />

Detail: Nietzsches Mutter, berichtet<br />

sie am Anfang, rühmte sich einmal,<br />

aus einem einzigen Ei 1444 Plätzchen<br />

gebacken zu haben. Mehr braucht<br />

es eigentlich nicht, um jenes protestantische<br />

Pfarrhaus zu vergegenwärtigen,<br />

dem Friedrich Nietzsche, der unglückliche<br />

Überwinder des Christentums, ein<br />

Leben lang entrinnen wollte! ●<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21<br />

ERIC THAYER / REUTERS


Sachbuch<br />

Deutschland Die Publizistin Cora Stephan rechnet mit B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel ab.<br />

Eine Kritik aus bürgerlicher Sicht<br />

Eine Wählerin wendet sich ab<br />

Cora Stephan: Angela Merkel. Ein Irrtum.<br />

Knaus, München 2011. 224 Seiten,<br />

Fr. 26.90.<br />

Von Ina Boesch<br />

Beim Fall Guttenberg hat Angela Merkel<br />

erneut Führungsschwäche bewiesen:<br />

Trotz des massiven Protests der Wissenschafter<br />

hat sie dem Verteidigungsminister<br />

ihr Vertrauen ausgesprochen.<br />

Diese Aktualität konnte Cora Stephan<br />

nicht mehr in ihre polemische Streitschrift<br />

aufnehmen – es wird sie gewurmt<br />

haben. Der Fall illustriert bestens den<br />

Regierungsstil der einst unscheinbaren<br />

Naturwissenschafterin, die sich zur<br />

deutschen «Mutti» mauserte <strong>und</strong> nun<br />

anspruchslos vor sich hinregiere. Und<br />

Probleme sitze sie hartnäckiger aus als<br />

ihr Ziehvater Helmut Kohl.<br />

Cora Stephan ist, wie so viele, abgr<strong>und</strong>tief<br />

enttäuscht von der Kanzlerin,<br />

die in Zeiten der Krise kein Projekt<br />

habe, <strong>das</strong> die Deutschen beflügeln<br />

könne. Stephan hat Merkel gewählt, weil<br />

sie «anders» war: unbefangen, unbelastet,<br />

ungeübt, unprätentiös, uneitel, unabhängig.<br />

Es war <strong>das</strong> kleine Präfix «un»,<br />

welches die damalige Kanzlerkandidatin<br />

Angela Merkel von ihren Konkurrenten<br />

positiv unterschied <strong>und</strong> sie für viele<br />

CDU-ferne Wählerinnen wählbar machte.<br />

So auch für die Publizistin Cora Stephan,<br />

welche die Frau aus dem Osten<br />

erfrischend fand.<br />

Für die Frankfurterin, die einst zur radikalen<br />

«Pflasterstrand»-Redaktion gehörte,<br />

repräsentierte die DDR-Pflanze<br />

Michael Hüther: Die disziplinierte Freiheit.<br />

Eine neue Balance von Markt <strong>und</strong> Staat.<br />

Murmann, Hamburg, 2011. 200 Seiten,<br />

Fr. 30.50.<br />

Von Sebastian Bräuer<br />

Die Finanzkrise hat bei vielen Volkswirten<br />

Selbstzweifel ausgelöst. Nicht nur,<br />

weil die Verwerfungen der Jahre 2008<br />

<strong>und</strong> 2009 von kaum einem Experten<br />

vorhergesehen worden waren. Sondern<br />

noch mehr, weil der Beinahekollaps des<br />

amerikanischen Bankensystems die vorher<br />

mehrheitsfähige Lehre von den<br />

Selbstheilungskräften der Finanzmärkte<br />

eindrucksvoll widerlegt hatte. Raguram<br />

Rajan, ehemaliger Chefökonom des Internationalen<br />

Währungsfonds, hat die<br />

Stimmungslage innerhalb seiner Zunft<br />

vor kurzem in ein vernichtendes Urteil<br />

gebündelt: «Ich würde behaupten, <strong>das</strong>s<br />

22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

Meisterin im<br />

Aussitzen statt<br />

Reformmotor: Angela<br />

Merkel kommt in Cora<br />

Stephans Streitschrift<br />

schlecht weg.<br />

drei Faktoren unser kollektives Versagen<br />

im Wesentlichen erklären: Spezialisierung,<br />

die Schwierigkeit, Vorhersagen<br />

zu treffen, <strong>und</strong> die Losgelöstheit eines<br />

Grossteils der Ökonomen von der realen<br />

Welt.»<br />

Bei Michael Hüther, seit 2004 Direktor<br />

des Instituts der deutschen Wirtschaft<br />

in Köln, ist von derartiger Selbstreflexion<br />

nichts zu spüren. Er belegt mit<br />

seinem aktuellen Werk, <strong>das</strong>s es weiterhin<br />

prominente Ökonomen gibt, die unbeeindruckt<br />

im Vorkrisendenken verharren.<br />

Statt sich an Erklärungen für die<br />

schwerste Rezession seit den 30er Jahren<br />

zu versuchen, bezeichnet er diese<br />

mal verschleiernd als «spontane Unordnung»,<br />

mal verniedlichend als «Wachstumspause».<br />

Sie nicht kommen gesehen<br />

zu haben, sei «kein Gr<strong>und</strong> zu Scham <strong>und</strong><br />

Schande». Derart reingewaschen, erteilt<br />

er der Politik erwartbare Ratschläge.<br />

Hüther ist gegen eine Finanzmarktsteu-<br />

nicht «die provinzielle Wessi-Kultur der<br />

Alt-68er», sondern sie hielt den Wert<br />

der Freiheit hoch <strong>und</strong> versprach, «Reformmotor»<br />

zu sein. Eine solche Liebe,<br />

die vor allem auf der Abgrenzung zu<br />

schlechteren Alternativen beruht, muss<br />

zu einer enttäuschten Liebe werden. Mit<br />

dieser zwangsläufigen Entwicklung hat<br />

Cora Stephan erstaunlicherweise nicht<br />

gerechnet. Das Ausmass der Wut, <strong>das</strong><br />

einem bei der Lektüre des polemischen<br />

Essays entgegenschlägt, legt diesen<br />

Schluss nahe. Zu gross war offensichtlich<br />

die Hoffnung auf einen neuen Regierungsstil<br />

<strong>und</strong> notwendige Reformen<br />

gewesen, so<strong>das</strong>s die Essayistin heute die<br />

notwendige Distanz vermissen lässt.<br />

Naiv kann man Cora Stephan, die seit<br />

Jahren kluge Essays <strong>und</strong> unter dem<br />

Pseudonym Anne Chaplet bitterböse<br />

Krimis schreibt, beileibe nicht nennen.<br />

Sie schreibt vielmehr als Vertreterin<br />

jener Menschen, «die ihre Interpretation<br />

der Wirklichkeit für entschieden<br />

tauglicher halten als die der politischen<br />

Klasse». Sie hält der Kanzlerin vor, ein<br />

Gespür für jene Mitte vermissen zu lassen.<br />

Auch ein Gespür für sie als Steuerzahlerin:<br />

«Sie plündert die Kassen, auch<br />

die zukünftiger Generationen, <strong>und</strong><br />

nimmt die Steuerbürger in Geiselhaft.»<br />

An der verpassten Steuerreform<br />

macht Stephan unter anderem den «Irrtum»<br />

Merkel fest, der sich aus fünf grossen<br />

Irrtümern zusammensetze. So kreidet<br />

sie der Kanzlerkandidatin an,<br />

während des Wahlkampfes 2005 unter<br />

der Attacke von Gerhard Schröder von<br />

ihrem designierten Finanzminister<br />

Kirchhoff, der die sozialste <strong>und</strong> radikalste<br />

Steuerreform vorgeschlagen habe, abgerückt<br />

zu sein (Irrtum 1). Weiter macht<br />

sie ihr den Vorwurf, die Rentengarantie<br />

beschlossen zu haben (2); dem Minderwertigkeitskomplex<br />

Deutschlands gegenüber<br />

nach wie vor befangen zu sein<br />

(3); die Debatte über die Vertreibung<br />

der Deutschen <strong>und</strong> die Versöhnung mit<br />

den Nachbarn wenig sachgerecht zu<br />

lösen (4) sowie <strong>das</strong> ehrgeizige Ziel zu<br />

verfolgen, die Erderwärmung auf höchstens<br />

zwei Grad zu begrenzen (5).<br />

Letzteres findet Stephan «übertrieben<br />

ehrgeizig», nähmen doch die begründeten<br />

Zweifel am menschengemachten<br />

Klimawandel zu. Den Gr<strong>und</strong><br />

für die Zweifel erwähnt sie nicht, wie sie<br />

auch sonst selten Belege anführt. Ihre<br />

Wut auf Merkel, ihre Frustration über<br />

die gegenwärtige Misere sind ihr für den<br />

R<strong>und</strong>umschlag Gr<strong>und</strong> genug. Für mich<br />

als Leserin ist <strong>das</strong> zu wenig. ●<br />

Ökonomie Ordnungspolitische Programmschrift aus dem Institut der deutschen Wirtschaft<br />

Wenig gelernt aus der Finanzkrise<br />

MICHAEL SOHN / AP<br />

er (sie treffe die Falschen), für Studiengebühren<br />

(um die Bildungsausgaben erhöhen<br />

zu können) <strong>und</strong> gegen einen<br />

branchenübergreifenden Mindestlohn<br />

(er bedrohe Arbeitsplätze).<br />

Teilweise sind die im Vorbeigehen<br />

formulierten Gedanken harter Tobak.<br />

Etwa der indirekt vorgetragene Vorwurf,<br />

Demonstranten gegen Infrastrukturprojekte<br />

gefährdeten die Funktionsfähigkeit<br />

moderner Gesellschaften. Erwähnenswert<br />

ist der Vorschlag zur Lösung der<br />

Eurokrise, alle Länder der Europäischen<br />

Währungsunion sollten eine Schuldenbremse<br />

nach deutschem <strong>und</strong> Schweizer<br />

Vorbild einführen. Relevant ist zudem<br />

die Thematisierung des Fachkräftemangels,<br />

der ein Umdenken in der Zuwanderungspolitik<br />

nötig mache. Doch unterm<br />

Strich tut Hüther genau <strong>das</strong>, was er<br />

Nichtökonomen vorwirft, die sich gegen<br />

Reformen stemmen: Er hält an Altem<br />

<strong>und</strong> scheinbar Bewährtem fest. ●


Kraftorte Wanderungen im<br />

Dreiländereck<br />

Ru nd u m den<br />

Bodensee<br />

Barbara Hutzl-Ronge: Magischer<br />

Bodensee. Wanderungen zu Orten der<br />

Kraft. AT, Aarau 2011. 408 Seiten,<br />

Fr. 39.90.<br />

Von Adrian Krebs<br />

«Von den Riesenfischen im Mindelsee<br />

zu den Sonnenpferden im Ahnengrab im<br />

Heidenbühl.» Was tönt wie ein Lehrstück<br />

über heidnische Bräuche aus dem<br />

Mittelalter-Lexikon ist in Wahrheit die<br />

Beschreibung einer Wanderung im<br />

grenznahen Baden-Württemberg. Seit<br />

einigen Jahren veröffentlicht der Aarauer<br />

AT-Verlag Wanderbücher mit Ausflügen<br />

zu sogenannten «Orten der Kraft».<br />

Das neueste Werk «Magischer Bodensee»<br />

erschliesst 29 Wanderungen im<br />

Dreiländereck r<strong>und</strong> um <strong>das</strong> Schwäbische<br />

Meer. Die Autorin Barbara Hutzl-<br />

Ronge, eine in Zürich wohnhafte Österreicherin,<br />

hat schon dem «Magischen<br />

Zürich» zum Spitzenplatz in der Bestsellerliste<br />

verholfen.<br />

Wer sich nun mit der Autorin auf<br />

Wanderschaft begibt, erlebt sie als unterhaltsame<br />

Begleiterin, die die Phänomene,<br />

die sie seit Jahrzehnten auch wandernd<br />

erforscht, mit augenzwinkernder<br />

Distanz weitergibt.<br />

Jede Wanderung ist zum Auftakt mit<br />

einem Serviceteil versehen. Hier finden<br />

durchaus auch weltliche Genüsse ihren<br />

Eingang, obwohl die Hinweise auf währschafte<br />

Gartenbeizen weniger ausführlich<br />

ausfallen als bei anderen Wanderpäpsten.<br />

Der detaillierten Wegbeschreibung<br />

folgt jeweils eine Würdigung der<br />

«mythischen» Sehenswürdigkeiten.<br />

Die R<strong>und</strong>wanderung von <strong>und</strong> nach<br />

Markelfingen beispielsweise widmet<br />

sich der Frage, was wohl in den Tiefen<br />

des Mindelsees lauern möge. Historische<br />

Quellen – davon zeugt eine lange<br />

Literaturliste im Anhang – wüssten von<br />

einem Fang, der so gross war, <strong>das</strong>s sich<br />

alleine am Kopf 34 Geistliche satt gegessen<br />

hätten. Es kommen aber nicht nur<br />

Fabeltiere zur Sprache, sondern auch<br />

zeitgenössische Fauna wie der Waldlaubsänger,<br />

der die Autorin mit seinem<br />

«flötenden Gesang» beglückt hat.<br />

Weiter geht’s zu den Grabhügeln im<br />

Heidenbühl. Der Ameisenberg südlich<br />

von Dettingen heisse nicht zufälligerweise<br />

so: Wer vor der Vielzahl<br />

von Hügeln stehe, begreife, warum<br />

der Volksm<strong>und</strong><br />

die Gegend so<br />

benannte. Dass<br />

Hutzl-Ronge sich<br />

diese Gegend auswählte,<br />

hat einen<br />

ganz besonderen<br />

Gr<strong>und</strong>: Es ist die<br />

Heimat ihrer Urururgrossmutter<br />

Anna-Katherina<br />

Bodensee rin. ●<br />

GEORG FRUHSTORFER / BAYRISCHE STAATSBIBLIOTHEK / BPK Trümmerfrauen Schutt <strong>und</strong> Asche wegschaffen<br />

Bald gibt es keine Zeitzeugen des Zweiten<br />

Weltkrieges mehr. Antonia Meiners, die 1949 als<br />

Sechsjährige von München in ihre Heimatstadt Berlin<br />

zurückkehrte <strong>und</strong> die Tränen der Mutter nicht<br />

verstand (<strong>das</strong> Kind kannte <strong>das</strong> einstige Berlin ja<br />

nicht), hat sich von 20 Trümmerfrauen erzählen<br />

lassen, wie diese Generation <strong>das</strong> Kriegsende <strong>und</strong> die<br />

Jahre danach erlebt hat. Dazwischen berichten<br />

Textausschnitte ab Januar 1945 von den brutalen<br />

Erlebnissen <strong>und</strong> Entbehrungen, welche diese Frauen<br />

erlitten. Einer Frau erfror auf der Flucht <strong>das</strong> Kind an<br />

der Brust. Tausende wurden vergewaltigt. Dann der<br />

Aufbau: Man schaffte Schutt <strong>und</strong> Asche weg (im Bild:<br />

vor dem Münchner Rathaus, 1945) <strong>und</strong> baute mitten<br />

in der Stadt Gemüse an. Städterinnen fuhren aufs<br />

Land, tauschten Porzellan, Lampen <strong>und</strong> alles<br />

Mögliche gegen Lebensmittel; sie «hamsterten»,<br />

stets unter der Gefahr, dafür gebüsst oder verhaftet<br />

zu werden. In Deutschland gab es 7 Millionen mehr<br />

Frauen als Männer. Sie erledigten Knochenarbeit,<br />

aber immer noch keine Politik – <strong>das</strong> betrieben die<br />

verbliebenen Männer. Regula Freuler<br />

Antonia Meiners: Wir haben wieder aufgebaut.<br />

Frauen der St<strong>und</strong>e null erzählen. Zahlreiche<br />

Abbildungen. Verlag Elisabeth Sandmann, München<br />

2011. 153 Seiten, Fr. 37.90.<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23


Sachbuch<br />

Suchtmittel Pflanzen als Rauschgift <strong>und</strong> Medizin gehören zum kulturellen Brauchtum <strong>und</strong> lassen<br />

sich kaum eindämmen oder abschaffen<br />

Keine Gesellschaft kommt<br />

ohne Drogen aus<br />

Mike Jay: High Society. Eine<br />

Kulturgeschichte der Drogen. Primus,<br />

Darmstadt 2011. 192 Seiten, Fr. 43.50.<br />

Von Peter Durtschi<br />

Wenn die ersten Sonnenstrahlen China<br />

erreichen, werden dort bereits Teeblätter<br />

zubereitet. In zahllosen Varianten<br />

rinnt der koffeinhaltige Aufguss durch<br />

die Kehlen. Von Indonesien bis nach Indien<br />

hingegen werden über h<strong>und</strong>ert<br />

Millionen Menschen ein Blatt des Betel-<br />

Pfeffers mit Kalk bestreichen, ein Stück<br />

der Aretanuss darin einrollen <strong>und</strong> den<br />

Bissen mit den Zähnen zerdrücken. Die<br />

Erde rollt schon dem Nachmittag entgegen,<br />

<strong>und</strong> im Jemen kaut man die Blätter<br />

des Khatstrauches. Wenn im Westen der<br />

Tag anbricht, stärken sich Millionen mit<br />

Espresso. Lastwagen liefern Alkohol<br />

<strong>und</strong> Tabak an, Kokain- <strong>und</strong> Ecstasy-Portionen<br />

wechseln den Besitzer, Cannabisrauch<br />

steigt in Afrika auf. In Mexiko ernten<br />

Ureinwohner den Peyote-Kaktus.<br />

Und wenn die letzten Sonnenstrahlen<br />

die Inseln im Südpazifik erreichen,<br />

macht dort ein Trank aus der Wurzel<br />

des Rauschpfeffers die R<strong>und</strong>e.<br />

Keine Gesellschaft, stellt der britische<br />

Kulturhistoriker Mike Jay zu Beginn<br />

seines Streifzugs durch die «high<br />

societies» fest, kommt ohne Drogen aus.<br />

Zwar konsumieren auch Tiere Substanzen,<br />

die auf <strong>das</strong> Bewusstsein oder den<br />

Körper eine biochemische Wirkung<br />

ausüben. Anders als bei den Tieren sei<br />

der menschliche Drogenkonsum aber<br />

«Bestandteil einer sprachlichen <strong>und</strong><br />

24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

symbolischen Kultur, in deren Rahmen<br />

er Bedeutung erhält». So wirkt beispielsweise<br />

Kawa, der südpazifische<br />

Trunk aus dem Rauschpfeffer, sozial stabilisierend.<br />

Das Gebräu beschert ein<br />

paar St<strong>und</strong>en leichter Trance <strong>und</strong> fördert<br />

damit positive Verhaltensweisen<br />

wie Grosszügigkeit <strong>und</strong> Sensibilität.<br />

Beim gemeinsamen Kawatrinken werden<br />

fre<strong>und</strong>schaftliche Beziehungen hergestellt<br />

<strong>und</strong> Verträge besiegelt.<br />

Drogen in der Subkultur<br />

Nun hat sich aber nicht jede Substanz in<br />

jeder Gemeinschaft durchgesetzt – geschichtlich<br />

gesehen war es in den meisten<br />

Kulturen üblich, nur eine kleine Anzahl<br />

von Drogen für den allgemeinen<br />

Gebrauch zu bestimmen. Kam es zu Verboten,<br />

waren diese auch Zeichen eines<br />

tiefgreifenden sozialen Wandels. Das ist<br />

beispielsweise beim Alkoholverbot im<br />

Islam der Fall: Die muslimischen Händler<br />

pflegten asketisch-einfache Lebensgewohnheiten;<br />

in den bis dahin dominierenden<br />

Kaufleuten der mediterranen<br />

Küstenstädte sahen sie eine dekadente<br />

Elite, die ihren Reichtum am Wein verschwendete.<br />

Erst als sich <strong>das</strong> Alkoholverbot<br />

durchgesetzt hatte, war auch die<br />

kulturelle Hegemonie etabliert. Konzentrationsfördernde<br />

Drogen wie Tee <strong>und</strong><br />

Kaffee, teilweise auch die Kolanuss <strong>und</strong><br />

Khat, wurden nun zu Elementen des sozialen<br />

Austausches <strong>und</strong> der Musse.<br />

Auch Subkulturen waren in vormoderner<br />

Zeit zu beobachten. Im London<br />

des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts beispielsweise galt<br />

<strong>das</strong> Leben in den Kaffeehäusern Beteiligten<br />

wie Aussenstehenden als Drogen-<br />

Dealer verkauft<br />

Kokainkapseln in<br />

Berlin, 1920er-Jahre.<br />

BUNDESARCHIV BERLIN<br />

Subkultur – die Vorliebe für ein exotisches<br />

Stimulans bot einer kleinen, aber<br />

einflussreichen Gruppe <strong>das</strong> Motiv, einen<br />

Raum zu schaffen, wo man mit Gleichgesinnten<br />

verkehren konnte. Was man<br />

dort chemisch gesehen zu sich nahm,<br />

war aber weitgehend unbekannt. Mehr<br />

als 1500 Jahre für die Pharmazie massgebend<br />

war die «Materia medica». In diesem<br />

Buch behandelt der spätantike<br />

Autor Pedanios Dioskurides auch Pflanzen<br />

mit bewusstseinsverändernden<br />

Wir kungen. Er nahm allerdings an, <strong>das</strong>s<br />

die Wirkung einer Droge nicht in der<br />

Substanz selbst liege, sondern in der<br />

eingenommenen Dosis.<br />

Erst durch weltweite Entdeckungsreisen<br />

gelangte die reiche Flora stimulierender<br />

<strong>und</strong> bewusstseinserweiternder<br />

Pflanzen der <strong>Neue</strong>n Welt in den Westen.<br />

Und mit dem wachsenden Wissen über<br />

chemische Zusammenhänge begriffen<br />

die Praktiker allmählich, <strong>das</strong>s Drogen<br />

unabhängig von der Pflanze wirken, die<br />

sie enthält. Auch dank Selbstversuchen<br />

der Forscher nahm die Pharmazie einen<br />

stürmischen Fortschritt. Der deutsche<br />

Apothekergehilfe Friedrich Sertürner<br />

beispielsweise isolierte ab 1803 aus Opiumkonzentrat<br />

nicht bloss eine pflanzliche<br />

Essenz, sondern eine eigenständige<br />

Substanz, die er Morphin nannte.<br />

Medizinische Wirkung<br />

Um 1890 boten Apotheken Kokain in<br />

Form von Pillen oder energiesteigernden<br />

Getränken an. Cannabis war Bestandteil<br />

zahlreicher Tinkturen, Bayer<br />

verkaufte ein opiathaltiges Hustenmittel<br />

unter dem Markennamen «Heroin».<br />

Auch kleine Stahlschachteln mit Morphin<br />

<strong>und</strong> mehreren Nadeln waren frei<br />

erhältlich; sie revolutionierten zwar die<br />

Schmerzbehandlung, verführten aber<br />

auch zum Missbrauch. Die Substanzen<br />

wurden nun zum Ziel medizinischer<br />

<strong>und</strong> medialer Kampagnen. Zunehmend<br />

überlagerte die Alltagssprache den ursprünglichen<br />

Drogenbegriff. Wurden im<br />

Englischen ab 1400 «getrocknete<br />

Waren» als drugs bezeichnet, galt nun<br />

eine «Droge» als bewusstseinsverändernde<br />

Substanz, die illegal ist.<br />

In seinem flüssig geschriebenen <strong>und</strong><br />

prachtvoll illustrierten Buch geht Mike<br />

Jay auf den Opium- <strong>und</strong> Teehandel im<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert ebenso ein wie auf die<br />

Entwicklung von Designerdrogen oder<br />

<strong>das</strong> 1961 von der Uno beschlossene Einheitsabkommen<br />

über Betäubungsmittel.<br />

Ironischerweise trat just in dieser Zeit<br />

eine neugierige Jugend auf den Plan.<br />

«Drogengenuss als Brauchtum ist ein<br />

kulturelles Konstrukt: Offizielle Verfügungen<br />

können es eindämmen, aber<br />

kaum abschaffen», sagt der Autor. ●


Sozialdemokratie Die Erinnerungen von Verena Siegrist spiegeln ein linkes <strong>Zürcher</strong> Frauenleben<br />

Immer unterwegs, irgendwohin<br />

Verena Siegrist: Bewegte Zeiten –<br />

bewegtes Leben. Erinnerungen einer<br />

<strong>Zürcher</strong>in. Rotpunkt, Zürich 2011.<br />

375 Seiten, Fr. 38.−.<br />

Von Urs Rauber<br />

Die heute 79-jährige Verena Siegrist war<br />

weder Politikerin noch prominente<br />

Frauenrechtlerin, genoss aber eine gewisse<br />

Bekanntheit in- <strong>und</strong> ausserhalb<br />

der <strong>Zürcher</strong> Sozialdemokratie. Aufgewachsen<br />

in einer Handwerkerfamilie in<br />

Altstetten, Wiedikon <strong>und</strong> Unterstrass,<br />

machte sie eine Laborlehre an der Empa,<br />

jobbte als Serviertochter, Verkäuferin<br />

<strong>und</strong> Sozialarbeiterin <strong>und</strong> liess sich<br />

schliesslich zur Psychotherapeutin ausbilden.<br />

Mit ihrem Mann Albi, den sie in<br />

der sozialistischen «Freien Jugend» (FJ)<br />

kennengelernt <strong>und</strong> mit 21 geheiratet<br />

hatte, zog sie drei Kinder gross.<br />

Die jugend- <strong>und</strong> altersbewegte Frau<br />

engagierte sich zeitlebens für die Linke:<br />

bei den Naturfre<strong>und</strong>en, in der Antiatomwaffen-Bewegung,<br />

im Umfeld des «Globuskrawalls»<br />

1968 <strong>und</strong> der <strong>Zürcher</strong> Unruhen<br />

1980, später in der Frauenbewegung<br />

– im Kampf für eine Fristenlösung.<br />

Die junge Genossin kam in Kontakt mit<br />

PdA-Chef Edgar Woog, dem Marxisten<br />

Konrad Farner, FJ-Präsident Ueli Kägi,<br />

dem Buchhändler-Ehepaar Amalie <strong>und</strong><br />

Theo Pinkus, später mit den Stadträtinnen<br />

Ursula Koch <strong>und</strong> Emilie Lieberherr.<br />

1972 trat Verena Siegrist in die Sozialdemokratische<br />

Partei der Stadt Zürich<br />

ein, die damals von Moritz Leuenberger<br />

präsidiert wurde (er kommt im Buch<br />

nicht vor). Sie bekleidete parteiinterne<br />

Funktionen, wurde Schulpflegerin, jedoch<br />

nie in ein Parlament gewählt. Beseelt<br />

von den Idealen des Sozialismus<br />

schwamm sie im breiten Strom der Linken<br />

jener Zeit, auch in Phasen, als man<br />

zu Beginn der 50er Jahre noch Stalin ver-<br />

Inge Sprenger Viol: Erst recht.<br />

Aussergewöhnliche Wege von Frauen<br />

mit einer Behinderung. Hrsg. avanti<br />

donne. efef, Wettingen 2010.<br />

144 Seiten, Fr. 26.–.<br />

Von Michael Nägeli<br />

Während die <strong>Zeitung</strong>sspalten voll sind<br />

mit gelehrten Diskussionen <strong>und</strong> Vorschlägen<br />

zur Sanierung der IV <strong>und</strong> an<br />

den Stammtischen über «Scheininvalide»<br />

gelästert wird, ist still <strong>und</strong> leise ein<br />

Buch erschienen, welches ein ganz anderes<br />

Bild von Menschen mit Behinderung<br />

<strong>und</strong> ihre Lebensführung zeichnet.<br />

In diesem Buch werden fünf Frauen por-<br />

Genossin Verena Siegrist engagierte sich auch in der Schulpflege (1984).<br />

ehrte oder in den frühen Achtzigern <strong>das</strong><br />

Drogenelend als Folge einer schrankenlosen<br />

Jugendpolitik in Kauf nahm.<br />

Über diese Auseinandersetzungen –<br />

die «Umwege ihrer Generation», wie<br />

der Verlag schreibt – erfährt man im<br />

Buch mehr Episodisches als Analytisches.<br />

Beim Konflikt der SP mit Emilie<br />

Lieberherr, die sie als Jugendarbeiterin<br />

angestellt hatte, stand die Autorin auf<br />

Seiten der Partei. Es dominierte wie bei<br />

vielen Mitstreiterinnen <strong>das</strong> Bewusstsein,<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich auf der «richtigen»<br />

trätiert, welche trotz körperlicher Behinderung<br />

eine akademische Laufbahn<br />

realisieren konnten, zum Teil mit grossem<br />

Aufwand. Fünf Frauen, für die nicht<br />

<strong>das</strong> Handicap im Vordergr<strong>und</strong> steht,<br />

sondern der Anspruch auf ein erfülltes<br />

Leben.<br />

Es wird dargestellt, wie die unterschiedlichen<br />

Behinderungen <strong>das</strong> Le-<br />

ben einer Versicherungsmathematikerin,<br />

einer Pädagogin, einer Pfarrerin,<br />

einer Ärztin <strong>und</strong> einer Geologin beeinflusst<br />

haben. Was am meisten bewegt,<br />

ist aber, <strong>das</strong>s nicht nur die körperliche<br />

Andersartigkeit ein Hindernis war, sondern<br />

die lieben Mitmenschen – Verwandte,<br />

Lehrer, Ärzte, Behörden – bewusst,<br />

unbewusst oder aus Gleichgültig-<br />

Seite zu stehen. Ehrlichkeit in der politischen<br />

Auseinandersetzung <strong>und</strong> ein unermüdlicher<br />

Einsatz für die Sache der<br />

Jugendlichen, der Frauen <strong>und</strong> der<br />

Schwachen sind der Autorin ebenso<br />

wenig abzusprechen wie ihr Wille zur<br />

Emanzipation in den eigenen vier Wänden.<br />

Beim Kampf gegen die traditionelle<br />

Hausfrauen- <strong>und</strong> Mutterrolle <strong>und</strong> dem<br />

Wunsch nach beruflicher Verwirklichung<br />

musste sie, so liest man zwischen<br />

den Zeilen, auch bei ihrem Mann Widerstände<br />

überwinden. Angetrieben von<br />

einer inneren Unruhe war Verena Siegrist<br />

stets «unterwegs irgendwohin».<br />

«Ich habe mich oft eingemischt. Missstände<br />

trieben mich um, <strong>und</strong> mein<br />

Drang nach mehr sozialer Gerechtigkeit<br />

blieb zeitlebens ein wichtiger Motor für<br />

mein Tun.» Hat es sich gelohnt, fragt sie<br />

sich am Schluss. Wäre es nicht manchmal<br />

gescheiter gewesen, nichts zu tun?<br />

Auch die Überzeugung, <strong>das</strong>s die von<br />

Natur aus ungleiche Ausstattung der<br />

Menschen durch eine Verbesserung der<br />

gesellschaftlichen Verhältnisse erreicht<br />

werden könnte, stellt sie – nach 60 Jahren<br />

– auf den Prüfstand. «Wir waren bereit<br />

gewesen, <strong>das</strong> Böse ausserhalb anzusiedeln.»<br />

Und heute? Die Antworten<br />

hätten interessiert.<br />

Das Buch bietet eine Fülle interessanter<br />

Geschichten <strong>und</strong> Episoden, darunter<br />

auch einen farbig beschriebenen Abstecher<br />

nach Brasilien. Enthüllungen oder<br />

Interna aus der linken Szene jedoch<br />

sucht man vergebens. So bleibt diese unspektakuläre<br />

Lebensgeschichte stark im<br />

Lokalen verankert, auch wenn sie ein<br />

Stück weit typisch für Frauenbiografien<br />

aus der Arbeiterbewegung des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ist. Bescheiden, aber nicht anspruchslos,<br />

warm-, aber auch treuherzig<br />

bleibt sie den Idealen des 1. Mai <strong>und</strong> der<br />

traditionellen Arbeiterbewegung verb<strong>und</strong>en.<br />

Einer Welt, die uns heute ziemlich<br />

fern scheint. ●<br />

Gleichberechtigung Frauen mit körperlicher Behinderung werden oft von der Umwelt benachteiligt<br />

Barrieren der Gedankenlosigkeit<br />

keit Steine in ihren Lebensweg legten.<br />

Integration <strong>und</strong> Gleichstellung – insbesondere<br />

von Frauen mit einer Behinderung<br />

– sind nach wie vor nicht gewährleistet.<br />

Diese Hürde lässt sich überwinden,<br />

wenn mehr Begegnungen geschaffen,<br />

mehr Brücken zueinander gebaut<br />

würden, wenn der Fokus auf Chancen<br />

<strong>und</strong> Stärken gelegt würde statt auf<br />

Schranken <strong>und</strong> Beeinträchtigungen.<br />

Die porträtierten Frauen haben es<br />

dank grosser Willenskraft <strong>und</strong> einem<br />

positiv eingestellten Umfeld geschafft,<br />

ihre Ziele zu erreichen. Das lesenswerte<br />

Buch regt an, darüber nachzudenken,<br />

wo wir heute in Sachen Gleichberechtigung<br />

stehen, welche Werte wir wie gewichten.<br />

●<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25


Sachbuch<br />

Erinnerungen Der Biochemiker Gottfried Schatz erzählt aus seinem aufregenden Forscherleben<br />

Auch Wissenschafter sind Menschen<br />

Gottfried Schatz: Feuersucher. Die Jagd<br />

nach dem Geheimnis der Lebensenergie.<br />

NZZ Libro, Zürich 2011. 221 S., Fr. 34.-.<br />

Von Patrick Imhasly<br />

Die Arbeit eines Naturwissenschafters<br />

ist eine elende Plackerei. Wer es zum<br />

Beispiel als Biochemiker zu Ruhm <strong>und</strong><br />

Ehre bringen will, muss sich manchmal<br />

die Nächte im Labor um die Ohren<br />

schlagen. Unzählige Male wiederholt er<br />

seine Experimente, nur um Monate später<br />

festzustellen, <strong>das</strong>s sein Ansatz<br />

schlicht <strong>und</strong> einfach falsch war.<br />

So erging es in jungen Jahren auch<br />

Gottfried Schatz. Der gebürtige Österreicher<br />

war bis zu seiner Emeritierung<br />

im Jahr 2000 Professor am Biozentrum<br />

Basel, danach stand er vier Jahre lang<br />

dem Schweizerischen Wissenschafts-<br />

<strong>und</strong> Technologierat vor, der den Bun-<br />

Das amerikanische Buch Lomax hat der Welt die Kultur der Folklore gebracht<br />

Folklore-Forscher, Musiker <strong>und</strong> Konzertveranstalter:<br />

Diese Liste der<br />

Metiers, in denen sich Alan Lomax<br />

(1915–2002) gut 70 Jahre lang r<strong>und</strong> um<br />

den Erdball betätigt hat, ist noch sehr<br />

unvollständig. Der Texaner hat Musiker<br />

in andalusischen Bergdörfern, den<br />

Hebriden oder in den Gefängnis-<br />

Farmen des amerikanischen Südens<br />

aufgenommen <strong>und</strong> neben Büchern <strong>und</strong><br />

akademischen Artikeln zahllose Radiosendungen<br />

sowie umfangreiche Serien<br />

für Plattenfirmen wie Decca geschaffen.<br />

Alan Lomax hat seine kaum mehr<br />

überschaubaren Projekte <strong>und</strong> Reisen<br />

stets akribisch dokumentiert.<br />

Doch eben dies mag bislang Biografen<br />

abgeschreckt haben. So ist es nun<br />

John Szwed zu danken, <strong>das</strong>s er sich für<br />

Alan Lomax. The Man Who Recorded the<br />

World (Viking 2010, 438 Seiten) nach<br />

eigenen Angaben durch 5000 St<strong>und</strong>en<br />

Musik, 130 Kilometer Film <strong>und</strong> 200<br />

Bände mit Aufzeichnungen <strong>und</strong><br />

Dokumenten gearbeitet hat. Der Musikwissenschafter<br />

ist durch exzellente<br />

Biografien über die Jazz-Grössen Miles<br />

Davis <strong>und</strong> Sun Ra bekannt geworden.<br />

Die umfangreichen Materialien fand<br />

Szwed im Nachlass von Lomax an der<br />

Columbia University in New York.<br />

Ansporn <strong>und</strong> Hilfe zugleich war für den<br />

Biografen die Tatsache, <strong>das</strong>s er an der<br />

Universität lehrt <strong>und</strong> Lomax dort in<br />

den 1960er Jahren kennenlernen<br />

konnte. Eigensinnig, dabei mitunter<br />

von Zweifeln geprägt <strong>und</strong> doch selbstbewusst<br />

bis zur Arroganz, hat der<br />

Folklorist zeitlebens eine akademische<br />

oder kommerzielle Karriere verschmäht.<br />

Gleichzeitig machte ihn sein<br />

26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

desrat in Sachen Wissenschaftspolitik<br />

berät. Gottfried Schatz hat eine glänzende<br />

internationale Karriere als Forscher<br />

hinter sich. Und wie kein anderer in der<br />

Schweizer Forschungslandschaft hat er<br />

sich dafür stark gemacht, <strong>das</strong>s die Universitäten<br />

ihre steilen Hierarchien abschaffen,<br />

jungen Talenten Raum geben<br />

<strong>und</strong> ohne schlechtes Gewissen nur die<br />

Besten unter den Besten fördern.<br />

Jetzt legt Gottfried Schatz mit «Feuersucher»<br />

einen Rückblick auf sein vielfältiges<br />

Forscherleben vor. Das Buch ist<br />

nicht bloss eine Biografie, sondern ein<br />

spannender Streifzug durch mehr als ein<br />

halbes Jahrh<strong>und</strong>ert Zeitgeschehen, Wissenschaftsgeschichte<br />

<strong>und</strong> durch <strong>das</strong><br />

Wesen wissenschaftlichen Denkens<br />

schlechthin. Schonungslos schildert der<br />

Wissenschafter etwa, wie er als junger<br />

Student in der Nachkriegszeit seine österreichische<br />

Heimat als «ein verstocktes<br />

geistiges Abseits ohne politische<br />

Der Folklore-Forscher<br />

Alan Lomax (zweiter<br />

von rechts) mit dem<br />

Sänger Pete Seeger<br />

(ganz rechts) bei<br />

einer Probe.<br />

Autor John Szwed<br />

(unten).<br />

Engagement für Gewerkschaften <strong>und</strong><br />

linke Zwecke – häufig an der Seite von<br />

Fre<strong>und</strong>en wie Woody Guthrie <strong>und</strong> Pete<br />

Seeger – für Arbeitgeber zu einem Risiko.<br />

Im fortgeschrittenen Alter fand Lomax<br />

jedoch an der Columbia University<br />

eine karg bezahlte Anstellung, die seine<br />

permanente Geldnot lindern konnte.<br />

Szwed nähert sich seinem komplexen<br />

Protagonisten in klassischer Manier,<br />

umklammert seine chronologische<br />

Lebensbeschreibung jedoch mit persönlichen<br />

Erinnerungen an Lomax. Damit<br />

wird dieser Enthusiast, dessen<br />

Bohemien-Habitus so gar nicht zu seiner<br />

Energie <strong>und</strong> Disziplin als Forscher<br />

passen will, auch als Person greifbar.<br />

Szwed macht deutlich, wie stark Lomax<br />

zunächst im Schatten seines Vaters<br />

John stand, der ihn schon als Teenager<br />

auf musikalische Forschungsreisen<br />

zwischen Texas <strong>und</strong> Florida mitgenommen<br />

hat. Die Unsicherheit über den<br />

JOHN COHEN / GETTY IMAGES<br />

Reife, Ehrlichkeit <strong>und</strong> Weltoffenheit»<br />

erlebte. Weitergekommen ist er erst<br />

durch mehrere Forschungsaufenthalte<br />

in den USA, wo gerade an den renommiertesten<br />

Instituten stets eine «lockere<br />

<strong>und</strong> internationale Arbeitsatmosphäre»<br />

herrschte.<br />

Als Krimi im Wissenschaftsmilieu beschreibt<br />

Schatz die Entstehung seines<br />

eigenen Spezialgebiets: die Erforschung<br />

der Mitochondrien, der Kraftwerke unserer<br />

Zellen. Diese Geschichte ist geprägt<br />

von brillanten Forschern mit verrückten<br />

Ideen, aber auch von Neid,<br />

Missgunst <strong>und</strong> kruden Fälschungen. Bisweilen<br />

mutet die Erzählweise von<br />

Schatz etwas barock an. Trotzdem: Mit<br />

«Feuersucher» ist ihm ein Wurf gelungen.<br />

Immer klar <strong>und</strong> anschaulich, oft<br />

witzig <strong>und</strong> erfrischend selbstironisch,<br />

erklärt er uns, wie Forschung funktioniert<br />

<strong>und</strong> Wissenschafter ticken – die<br />

halt auch nur Menschen sind. ●<br />

eigenen Daseinszweck erklärt für den<br />

Bio grafen die Selbstzweifel <strong>und</strong> die<br />

mangelnde Zuverlässigkeit des<br />

Familienmannes Alan Lomax. Aber<br />

diese Schwächen verblassen vor der<br />

Selbstlosigkeit, mit der er «Entdeckungen»<br />

wie den Bluessänger Leadbelly<br />

gefördert hat. Dem Forscher ging es<br />

allem Anschein nach in erster Linie um<br />

die Sache, die er selbst im Sinne einer<br />

vergleichenden Musikwissenschaft als<br />

Suche nach den Verbindungen zwischen<br />

«Song <strong>und</strong> Seele» begriff.<br />

Lomax suchte Musik als «cantometrischen<br />

Code» zu entschlüsseln, in dem<br />

Menschen festhalten <strong>und</strong> übermitteln,<br />

wie sie sich selbst wahrnehmen <strong>und</strong><br />

miteinander <strong>und</strong> der Welt um sie<br />

herum umgehen.<br />

Lomax konnte dieses ehrgeizige Projekt<br />

nicht abschliessen. Aber dies mindert<br />

seine Bedeutung nicht. Obwohl die<br />

«New York Times» in ihrer ansonsten<br />

positiven Kritik eine fehlende Wirkungsgeschichte<br />

von Lomax vermisst,<br />

arbeitet Szwed heraus, wie stark der<br />

Folklorist nicht nur Musiker von<br />

Muddy Waters bis zu Bob Dylan, den<br />

Beatles oder den Rolling Stones<br />

berührt hat. Er hat auch weltweit mit<br />

Politikern, Künstlern <strong>und</strong> Intellektuellen<br />

zusammengewirkt, um hier nur<br />

Eleanor Roosevelt <strong>und</strong> Alberto Moravia<br />

zu nennen. So war Lomax nicht nur<br />

«der beste Zuhörer», den viele Musiker<br />

je hatten. Szwed zeigt, <strong>das</strong>s sein Einfluss<br />

eigentlich kaum auszuloten ist:<br />

Lomax hat der Welt die in Folklore<br />

enthaltene Kultur verfügbar gemacht,<br />

als die Unterhaltungsindustrie diese<br />

aufzulösen begann. ●<br />

Von Andreas Mink


Agenda<br />

Fetisch Wohnwagen Das einfache Leben<br />

Manche könnten sich auf keinen Fall vorstellen, in der<br />

Freizeit oder in den Ferien freiwillig <strong>das</strong> gleiche Leben<br />

wie sonst, einfach «en miniature», zu führen. Für<br />

andere ist ein kleiner, enger Wohnwagen <strong>das</strong> wahre<br />

Glück. So geht es auch den Engländern Jane Field-<br />

Lewis <strong>und</strong> Chris Hadden, beide selbst Wohnwagenbesitzer,<br />

die eine Recherche gestartet haben in<br />

eigener Sache: Sie suchten andere Wohnwagenbesitzer<br />

auf <strong>und</strong> sprachen mit ihnen über <strong>das</strong> Leben<br />

in der Büchse auf Rädern. Entstanden ist ein liebevoll<br />

gestalteter Band, dessen Ernsthaftigkeit die<br />

Wohnwagen-Verschmäher (<strong>und</strong> vielleicht auch die<br />

Bestseller März 2011<br />

Belletristik<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Simon Beckett: Verwesung.<br />

W<strong>und</strong>erlich. 448 Seiten, Fr. 25.90.<br />

Alex Capus: Léon <strong>und</strong> Louise.<br />

Hanser. 320 Seiten Fr. 26.40.<br />

Martin Suter: Allmen <strong>und</strong> die Libellen.<br />

Diogenes. 208 Seiten, Fr. 25.90.<br />

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil.<br />

Hanser. 192 Seiten, Fr. 24.90.<br />

Sarah Lark: Im Schatten des Kauribaums.<br />

Bastei Lübbe. 848 Seiten, Fr. 22.95.<br />

Melinda Nadj Abonji : Tauben fliegen auf.<br />

Jung <strong>und</strong> Jung. 320 Seiten, Fr. 30.70.<br />

Martin Suter: Der Koch.<br />

Diogenes. 320 Seiten, Fr. 33.50.<br />

Peter Stamm: Seerücken.<br />

Fischer. 192 Seiten, Fr. 28.90.<br />

Philip Roth: Nemesis.<br />

Hanser. 224 Seiten, Fr. 27.50.<br />

Cody McFadyen: Der Menschenmacher..<br />

Bastei Lübbe. 608 Seiten, Fr. 30.50.<br />

Sachbuch<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 16. 3. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.<br />

anderen) öfter einmal zum Schmunzeln bringt. Die<br />

Sorgfalt, mit welcher die jeweiligen Besitzer der<br />

40 rollenden Eigenheime – der Anhänger im Bild<br />

diente Prinz Charles <strong>und</strong> Prinzessin Anne in den<br />

fünfziger Jahren als Spielzeug – dieselben ausstatten,<br />

ist rührend. Ob man Schweizer oder Engländer sein<br />

muss, um diese Liebe zum Kleinen zu verstehen?<br />

Regula Freuler<br />

Jane Field-Lewis, Chris Hadden: Mein w<strong>und</strong>erbarer<br />

Wohnwagen. Mobil, retro, cool. Fotografien von<br />

Hilary Walker. Knesebeck, München 2011.<br />

160 Seiten, Fr. 30.50.<br />

Rhonda Byrne: The Power.<br />

Dromer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 23.50.<br />

Amy Chua: Die Mutter des Erfolgs.<br />

Nagel & Kimche. 256 Seiten, Fr. 29.90.<br />

Martin Betschart: Ich weiss, wie du tickst.<br />

Orell Füssli. 192 Seiten, Fr. 34.90.<br />

Pascal Voggenhuber: Botschafter der<br />

unsichtbaren Welt. Ansata. 256 S., Fr. 26.90.<br />

Remo H. Largo: Lernen geht anders.<br />

Edition Körber. 190 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Natascha Kampusch: 3096 Tage.<br />

List. 220 Seiten, Fr. 33.90.<br />

Richard D. Precht: Wer bin ich – <strong>und</strong> wenn ja,<br />

wie viele? Goldmann. 400 Seiten, Fr. 24.90.<br />

Michael Mittermeier: Achtung Baby!<br />

Kiepenheuer & Witsch. 256 Seiten, Fr. 23.50.<br />

Daniel Domscheit-Berg: Inside WikiLeaks.<br />

Econ. 302 Seiten, Fr. 29.90.<br />

Duden. Die deutsche Rechtschreibung.<br />

25. Auflage. Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 48.90.<br />

Agenda April 2011<br />

Ganze Schweiz<br />

Samstag, 23. April<br />

Unesco-Welttag des Buches. Anlässe in<br />

mehreren Schweizer Städten.<br />

Info: www.welttagdesbuches.ch.<br />

Basel<br />

Dienstag, 5. April, 20 Uhr<br />

Susanna Schwager: Ida. Lesung, Fr. 15.–.<br />

Thalia, Freie Str. 32, Tel. 061 264 26 55.<br />

Donnerstag, 7. April, 19 Uhr<br />

Gabrielle Alioth: Die<br />

griechische Kaiserin.<br />

Lesung. Fr. 15.–.<br />

Literatur haus,<br />

Barfüssergasse 3,<br />

Tel. o61 261 29 50.<br />

Mittwoch, 13. April, 20 Uhr<br />

Jens Steiner: Hasenleben. Lesung, Fr. 20.–.<br />

Allgemeine Lesegesellschaft, Münsterplatz<br />

8, Reservation: Tel. 061 261 43 49.<br />

Bern<br />

Donnerstag, 7. April, 19 Uhr<br />

Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern.<br />

Lesung, Fr. 15.– inkl. Apéro. Buchhandlung<br />

Haupt, Falkenplatz 14,<br />

Tel. 031 309 09 09.<br />

Sonntag, 10. April, 20 Uhr<br />

Juri Andruchowytsch: Gedichte. Konzertante<br />

Performance mit der Band Werwolf<br />

Sutra. Fr. 20.–. ONO, Kramgasse 6,<br />

Vorverkauf: www.onobern.ch.<br />

Zürich<br />

Donnerstag, 7. April, 19 Uhr<br />

Emil Zopfi: Finale. Lesung.<br />

SAC Uto. Schulhaus Hirschengraben,Hirschengraben<br />

46, Info:<br />

www.limmatverlag.ch.<br />

Dienstag , 12. April, 18.30 Uhr<br />

Alice Chalupny: Victory <strong>und</strong> Vekselberg.<br />

Buchvernissage. Rüffer & Rub, Sachbuchverlag,<br />

Konkordiastrasse 20. Anmeldung:<br />

Tel. 044 381 77 30.<br />

Mittwoch, 13. April, 20 Uhr<br />

Linus Reichlin: Er. Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten,<br />

Festsaal, Pelikanplatz 1,<br />

Tel. 044 225 33 77.<br />

Montag, 18. April, 19.30 Uhr<br />

Marcel Hänggi: Ausgepowert. Buchvernissage,<br />

Lesung. Kanzlei-Turnhalle,<br />

Kanzleistrasse 56.<br />

Mittwoch, 20. April, 20.30 Uhr<br />

Catalin Dorian Florescu: Jacob beschliesst<br />

zu lieben. Lesung <strong>und</strong> Apéro,<br />

Fr. 15.–. Orell Füssli am Bellevue, Theaterstrasse<br />

8, Tel. 0848 849 848.<br />

Bücher am Sonntag Nr. 4<br />

erscheint am 24. 4. 2011<br />

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am<br />

Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60<br />

oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange<br />

Vorrat – beim K<strong>und</strong>endienst der NZZ, Falkenstrasse 11,<br />

8001 Zürich, erhältlich.<br />

3. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27<br />

SILVIA WIEGERS<br />

GAËTAN BALLY / KEYSTONE


Schillernd wie Dichtung, wahr wie <strong>das</strong> Leben.<br />

Biografien.<br />

Wenige Menschen werden sich rühmen können, so aktiv für die Erhaltung der<br />

Natur gekämpft zu haben wie der 88-jährige Luc Hoffmann. In diesem Buch<br />

erzählt der sonst eher wortkarge <strong>und</strong> zurückhaltende Mann dem Schriftsteller <strong>und</strong><br />

Publizisten Jil Silberstein sein reich erfülltes Leben.<br />

Fr. 40.– / € 33.–<br />

Ab 13. 4. 2011 erhältlich<br />

www.nzz-libro.ch<br />

Luc Hoffmann<br />

Der Mitbegründer des<br />

WWF im Gespräch mit<br />

Jil Silberstein.<br />

200 S., 30 Abb.,<br />

Klappenbroschur.<br />

Monsieur Simon Simons Leben war schillernder als es Fiktion jemals sein könnte.<br />

Ein Lebemann <strong>und</strong> Weltbürger, ein Causeur <strong>und</strong> Charmeur. Sekretär Clemenceaus,<br />

Geliebter Piafs. Sich selbst nannte er augenzwinkernd: Operettenbaron von Zürich.<br />

Fr. 28.–<br />

Claus Helmut Drese<br />

Monsieur Simon Simon<br />

276 S., zahlr. Abb.,<br />

Klappenbroschur.<br />

10CEXKIQ6AMAwF0BPR_LZrR6kkc8sEwc8QNPdXJBjEc6_3NMJnb-NsRzJQbGFV90gLI6meqwih1ISKCJg3hHqJqJr_nuBwhU6m57pfddKe8FoAAAA=<br />

10CAsNsjY0MDAx1TU0NjYzswQAeOJRrg8AAAA=<br />

Benjamin Steffen<br />

Christof Gertsch<br />

Fabian Cancellaras<br />

Welt Die Geschichte eines Radrennfahrers<br />

Cancellara gehört zu den populärsten Sportlern der Schweiz, obwohl kaum eine<br />

Sportart öffentlich so in der Kritik steht wie seine. Zwei Journalisten sind dieser<br />

Diskrepanz auf der Spur. Inausführlichen Gesprächen mit ihm, seinen Weggefährten<br />

<strong>und</strong> Familienangehörigen erschliessen sie «Fabian Cancellaras Welt».<br />

Fr. 39.– / € 33.–<br />

Gespräche<br />

mit<br />

PETER BICHSEL<br />

MASSIMO ROCCHI<br />

GUNTER GEBAUER<br />

Verlag <strong>Neue</strong> <strong>Zürcher</strong> <strong>Zeitung</strong><br />

Benjamin Steffen, Christof<br />

Gertsch<br />

Fabian Cancellaras Welt<br />

167 S., 24 farb. Abb.,<br />

Klappenbroschur.<br />

Eine einmalige Mischung aus literarischem Vergnügen <strong>und</strong> wissenschaftlichem<br />

Thriller. Die fesselnde Lebensgeschichte des weltweit renommierten Biochemikers<br />

Gottfried Schatz.<br />

Fr. 34.–<br />

Gottfried Schatz<br />

Feuersucher<br />

229 S., 21 Zeichnungen,<br />

geb<strong>und</strong>en.

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