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Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

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Belletristik<br />

Briefe Kaum ein anderer Autor vermag <strong>das</strong> Leiden an der Gegenwart so vergnüglich zu<br />

schildern <strong>und</strong> gleichzeitig so brillant in Frage zu stellen wie Matthias Zschokke<br />

Journal im<br />

Mail-Format<br />

Matthias Zschokke: Lieber Niels.<br />

Wallstein, Göttingen 2011. 764 Seiten,<br />

Fr. 43.90.<br />

Von Thomas Feitknecht<br />

Seit 1982 korrespondiert der 1954 in<br />

Bern geborene Wahlberliner Matthias<br />

Zschokke mit dem elf Jahre älteren Kölner<br />

Autor <strong>und</strong> Literaturkritiker Niels<br />

Höpfner. Ungefähr 3000 Briefe hat er in<br />

den ersten zwanzig Jahren per Post <strong>und</strong><br />

Fax versandt, <strong>und</strong> seither sind weitere<br />

Tausende von Mails hinzugekommen.<br />

Die nun gedruckt vorliegende Auswahl<br />

der Mails aus dem Textkorpus 2002 bis<br />

2009 umfasst immer noch r<strong>und</strong> 764<br />

Buchseiten. 764 Seiten? Ja, gewiss, ein<br />

ungewöhnlich dickes Buch des Autors,<br />

der den Roman «Der dicke Dichter» geschrieben<br />

hat. Doch nach ein paar Seiten<br />

verspürt der Leser einen Sog, der ihn<br />

weiter <strong>und</strong> weiter hineinzieht. Ein «Lesesog»,<br />

wie ihn Zschokke bei der Lektüre<br />

der Briefe von Gottfried Benn an den<br />

Bremer Kaufmann <strong>und</strong> Kunstfre<strong>und</strong><br />

Friedrich Wilhelm Oelze erlebt.<br />

Matthias Zschokke<br />

Der Schweizer Autor <strong>und</strong> Filmemacher<br />

Matthias Zschokke (*1954) lebt seit<br />

1980 in Berlin. Er debütierte 1982 mit<br />

dem Roman «Max», dem der Robert-<br />

Walser-Preis zugesprochen wurde <strong>und</strong><br />

dem seither neun weitere Prosabände<br />

folgten. Für «Maurice mit Huhn» erhielt<br />

Zschokke 2006 den Solothurner Literaturpreis<br />

<strong>und</strong> den Schweizerischen Schillerpreis<br />

sowie 2009 (als erster<br />

deutschsprachiger Autor) den französischen<br />

Literaturpreis «Prix Femina<br />

Étranger». Nach der Schliessung des<br />

<strong>Zürcher</strong> Ammann-Verlages wechselte<br />

Zschokke zum Göttinger Wallstein-<br />

Verlag, der in diesem Frühjahr auch den<br />

1995 erschienenen Roman «Der dicke<br />

Dichter» wieder auflegt. Der Genfer<br />

Verlag Zoé hat Zschokke im französischen<br />

Sprachraum bekannt gemacht.<br />

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

Dass private Briefe bereits zu Lebzeiten<br />

der Schreibenden publik werden,<br />

weil sie weit über <strong>das</strong> Persönliche hinausgehen,<br />

ist in der Literatur kein neues<br />

Phänomen. Schon zu Lebzeiten von Madame<br />

de Sévigné zirkulierten im späten<br />

17. Jahrh<strong>und</strong>ert Briefe von ihr in Abschriften.<br />

Die Korrespondenzen des<br />

Berner Patriziers Karl Viktor von Bonstetten<br />

an den deutschen Dichter Friedrich<br />

von Matthisson <strong>und</strong> an die dänischdeutsche<br />

Schriftstellerin Friederike<br />

Brun erschienen in Buchform mehrere<br />

Jahre vor Bonstettens Tod 1832. Und in<br />

jüngster Zeit kennen wir auch bereits<br />

die Veröffentlichung von Mails, <strong>und</strong><br />

zwar seit Michel Mettler vor zwei Jahren<br />

Jürg Laederachs «Depeschen nach<br />

Mailland» herausgegeben hat.<br />

Der «Traum von Kunst»<br />

Laederachs <strong>und</strong> Zschokkes Mails decken<br />

sich teilweise zeitlich <strong>und</strong> thematisch:<br />

Die beiden Autoren (die sich übrigens<br />

gegenseitig Reverenz erweisen)<br />

kämpfen mit den Tücken der Telekommunikation,<br />

schreiben über gleiche politische<br />

<strong>und</strong> sportliche Ereignisse <strong>und</strong><br />

berichten über ihre persönliche Befindlichkeit<br />

<strong>und</strong> ihre Depressionen. Doch<br />

«Lieber Niels» geht weiter, ist dichter,<br />

inhaltlich vielschichtiger, hat eher Züge<br />

von Henri-Frédéric Amiels «Journal intime»<br />

(ohne dessen Religiosität), Ludwig<br />

Hohls «Notizen» (ohne deren Dogmatismus)<br />

oder Paul Nizons «Journalen»<br />

(ohne deren Erotomanie).<br />

Zschokkes digitale Botschaften an<br />

seinen abwesenden Fre<strong>und</strong> Niels konnten<br />

in den vergangenen Wochen bereits<br />

Tag für Tag – zeitverschoben um fünf<br />

Jahre – im Internet «vorabgelesen» werden.<br />

Dem Medium entsprechend sind<br />

die einzelnen Eintragungen dieses Online-Tagebuchs<br />

kürzer als in den meisten<br />

Dichter-Diarien auf Papier, prägnanter<br />

auch <strong>und</strong> spontaner. Jetzt als Buch,<br />

sozusagen umgewandelt in die analoge<br />

Form, üben sie mit dem Funkeln <strong>und</strong><br />

Flimmern der Sprache, mit dem Leichtfüssigen<br />

<strong>und</strong> Eleganten der Formulierungen<br />

diesen ganz besonderen «Lesesog»<br />

aus. Der Leser wird, von Seite zu<br />

Seite, immer wieder überrascht. Das<br />

Buch ist ein ironisches Reflektieren in<br />

Gegensätzen, es lebt von Wiederholung<br />

<strong>und</strong> Widerspruch, Übertreibung <strong>und</strong><br />

Untertreibung, Urteil <strong>und</strong> Vorurteil.<br />

«Lieber Niels» beginnt zeitlich mit<br />

Zschokkes Aufenthalt als Stipendiat der<br />

Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr in<br />

Budapest <strong>und</strong> der Arbeit am Roman<br />

«Maurice mit Huhn». Es folgt ein Zeitabschnitt,<br />

in dem Matthias Zschokke<br />

sich erfolglos um die Realisierung seines<br />

Kinospielfilms «Die Unvollendeten»<br />

bemüht <strong>und</strong> ein Semester lang an<br />

der Universität der Künste in Berlin<br />

Szenisches Schreiben unterrichtet. Das<br />

Buch endet mit den Aufenthalten in Jordanien<br />

auf Einladung des schweizerischen<br />

Botschafters Paul Widmer <strong>und</strong> in<br />

New York als Writer-in-Residence –<br />

Keim des langsam entstehenden Buchs<br />

«Auf Reisen».<br />

Zschokkes Thema ist deshalb immer<br />

wieder die Kunst, der «Traum von<br />

Kunst» <strong>und</strong> die harte Realität des Marktes,<br />

die Hoffnungen <strong>und</strong> Erwartungen<br />

eines Autors, sein Gelingen <strong>und</strong> Scheitern.<br />

«Ich meine heute noch, Kunst<br />

müsse aus dem Überfluss kommen, sie<br />

müsse unnütz sein, frei von jedem Kalkül,<br />

sie müsse von selbst entstehen, aus<br />

einer Laune heraus, sie müsse der pure<br />

Luxus sein, sie dürfe nicht funktionalisiert<br />

werden», meint Zschokke. Die «Industrieschreiberei»<br />

eines Philip Roth,<br />

<strong>das</strong> «Kunsthandwerk à la Thomas<br />

Mann», die «Karaoke-Literatur» findet<br />

Zschokke entsetzlich, die erfolgsabhängige<br />

Kulturförderung verfehlt, die<br />

«Installateure <strong>und</strong> Eventmonteure» im<br />

heutigen Theaterbetrieb ärgern ihn. Er<br />

fragt sich, warum ein Albert Vigoleis<br />

Thelen seinerzeit so wenig wahrgenommen<br />

wurde, <strong>und</strong> er denkt, irgendwo<br />

müsste auch heute ein Tschechow möglich<br />

sein, «die Figur, der Traum, die<br />

Hoffnung, die er verkörperte». Zschokke<br />

weiss, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> zunächst einmal sein<br />

eigenes Problem ist, aber wenn er es in<br />

Worte zu fassen versucht, so deshalb,<br />

weil er es für eine allgemeine Zeiterscheinung<br />

hält. Dabei macht er historische<br />

Parallelen sichtbar: Eingehend beschäftigt<br />

er sich mit dem englischen<br />

Autor George Gissing, der Ende des

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