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Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

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Sachbuch<br />

Suchtmittel Pflanzen als Rauschgift <strong>und</strong> Medizin gehören zum kulturellen Brauchtum <strong>und</strong> lassen<br />

sich kaum eindämmen oder abschaffen<br />

Keine Gesellschaft kommt<br />

ohne Drogen aus<br />

Mike Jay: High Society. Eine<br />

Kulturgeschichte der Drogen. Primus,<br />

Darmstadt 2011. 192 Seiten, Fr. 43.50.<br />

Von Peter Durtschi<br />

Wenn die ersten Sonnenstrahlen China<br />

erreichen, werden dort bereits Teeblätter<br />

zubereitet. In zahllosen Varianten<br />

rinnt der koffeinhaltige Aufguss durch<br />

die Kehlen. Von Indonesien bis nach Indien<br />

hingegen werden über h<strong>und</strong>ert<br />

Millionen Menschen ein Blatt des Betel-<br />

Pfeffers mit Kalk bestreichen, ein Stück<br />

der Aretanuss darin einrollen <strong>und</strong> den<br />

Bissen mit den Zähnen zerdrücken. Die<br />

Erde rollt schon dem Nachmittag entgegen,<br />

<strong>und</strong> im Jemen kaut man die Blätter<br />

des Khatstrauches. Wenn im Westen der<br />

Tag anbricht, stärken sich Millionen mit<br />

Espresso. Lastwagen liefern Alkohol<br />

<strong>und</strong> Tabak an, Kokain- <strong>und</strong> Ecstasy-Portionen<br />

wechseln den Besitzer, Cannabisrauch<br />

steigt in Afrika auf. In Mexiko ernten<br />

Ureinwohner den Peyote-Kaktus.<br />

Und wenn die letzten Sonnenstrahlen<br />

die Inseln im Südpazifik erreichen,<br />

macht dort ein Trank aus der Wurzel<br />

des Rauschpfeffers die R<strong>und</strong>e.<br />

Keine Gesellschaft, stellt der britische<br />

Kulturhistoriker Mike Jay zu Beginn<br />

seines Streifzugs durch die «high<br />

societies» fest, kommt ohne Drogen aus.<br />

Zwar konsumieren auch Tiere Substanzen,<br />

die auf <strong>das</strong> Bewusstsein oder den<br />

Körper eine biochemische Wirkung<br />

ausüben. Anders als bei den Tieren sei<br />

der menschliche Drogenkonsum aber<br />

«Bestandteil einer sprachlichen <strong>und</strong><br />

24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

symbolischen Kultur, in deren Rahmen<br />

er Bedeutung erhält». So wirkt beispielsweise<br />

Kawa, der südpazifische<br />

Trunk aus dem Rauschpfeffer, sozial stabilisierend.<br />

Das Gebräu beschert ein<br />

paar St<strong>und</strong>en leichter Trance <strong>und</strong> fördert<br />

damit positive Verhaltensweisen<br />

wie Grosszügigkeit <strong>und</strong> Sensibilität.<br />

Beim gemeinsamen Kawatrinken werden<br />

fre<strong>und</strong>schaftliche Beziehungen hergestellt<br />

<strong>und</strong> Verträge besiegelt.<br />

Drogen in der Subkultur<br />

Nun hat sich aber nicht jede Substanz in<br />

jeder Gemeinschaft durchgesetzt – geschichtlich<br />

gesehen war es in den meisten<br />

Kulturen üblich, nur eine kleine Anzahl<br />

von Drogen für den allgemeinen<br />

Gebrauch zu bestimmen. Kam es zu Verboten,<br />

waren diese auch Zeichen eines<br />

tiefgreifenden sozialen Wandels. Das ist<br />

beispielsweise beim Alkoholverbot im<br />

Islam der Fall: Die muslimischen Händler<br />

pflegten asketisch-einfache Lebensgewohnheiten;<br />

in den bis dahin dominierenden<br />

Kaufleuten der mediterranen<br />

Küstenstädte sahen sie eine dekadente<br />

Elite, die ihren Reichtum am Wein verschwendete.<br />

Erst als sich <strong>das</strong> Alkoholverbot<br />

durchgesetzt hatte, war auch die<br />

kulturelle Hegemonie etabliert. Konzentrationsfördernde<br />

Drogen wie Tee <strong>und</strong><br />

Kaffee, teilweise auch die Kolanuss <strong>und</strong><br />

Khat, wurden nun zu Elementen des sozialen<br />

Austausches <strong>und</strong> der Musse.<br />

Auch Subkulturen waren in vormoderner<br />

Zeit zu beobachten. Im London<br />

des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts beispielsweise galt<br />

<strong>das</strong> Leben in den Kaffeehäusern Beteiligten<br />

wie Aussenstehenden als Drogen-<br />

Dealer verkauft<br />

Kokainkapseln in<br />

Berlin, 1920er-Jahre.<br />

BUNDESARCHIV BERLIN<br />

Subkultur – die Vorliebe für ein exotisches<br />

Stimulans bot einer kleinen, aber<br />

einflussreichen Gruppe <strong>das</strong> Motiv, einen<br />

Raum zu schaffen, wo man mit Gleichgesinnten<br />

verkehren konnte. Was man<br />

dort chemisch gesehen zu sich nahm,<br />

war aber weitgehend unbekannt. Mehr<br />

als 1500 Jahre für die Pharmazie massgebend<br />

war die «Materia medica». In diesem<br />

Buch behandelt der spätantike<br />

Autor Pedanios Dioskurides auch Pflanzen<br />

mit bewusstseinsverändernden<br />

Wir kungen. Er nahm allerdings an, <strong>das</strong>s<br />

die Wirkung einer Droge nicht in der<br />

Substanz selbst liege, sondern in der<br />

eingenommenen Dosis.<br />

Erst durch weltweite Entdeckungsreisen<br />

gelangte die reiche Flora stimulierender<br />

<strong>und</strong> bewusstseinserweiternder<br />

Pflanzen der <strong>Neue</strong>n Welt in den Westen.<br />

Und mit dem wachsenden Wissen über<br />

chemische Zusammenhänge begriffen<br />

die Praktiker allmählich, <strong>das</strong>s Drogen<br />

unabhängig von der Pflanze wirken, die<br />

sie enthält. Auch dank Selbstversuchen<br />

der Forscher nahm die Pharmazie einen<br />

stürmischen Fortschritt. Der deutsche<br />

Apothekergehilfe Friedrich Sertürner<br />

beispielsweise isolierte ab 1803 aus Opiumkonzentrat<br />

nicht bloss eine pflanzliche<br />

Essenz, sondern eine eigenständige<br />

Substanz, die er Morphin nannte.<br />

Medizinische Wirkung<br />

Um 1890 boten Apotheken Kokain in<br />

Form von Pillen oder energiesteigernden<br />

Getränken an. Cannabis war Bestandteil<br />

zahlreicher Tinkturen, Bayer<br />

verkaufte ein opiathaltiges Hustenmittel<br />

unter dem Markennamen «Heroin».<br />

Auch kleine Stahlschachteln mit Morphin<br />

<strong>und</strong> mehreren Nadeln waren frei<br />

erhältlich; sie revolutionierten zwar die<br />

Schmerzbehandlung, verführten aber<br />

auch zum Missbrauch. Die Substanzen<br />

wurden nun zum Ziel medizinischer<br />

<strong>und</strong> medialer Kampagnen. Zunehmend<br />

überlagerte die Alltagssprache den ursprünglichen<br />

Drogenbegriff. Wurden im<br />

Englischen ab 1400 «getrocknete<br />

Waren» als drugs bezeichnet, galt nun<br />

eine «Droge» als bewusstseinsverändernde<br />

Substanz, die illegal ist.<br />

In seinem flüssig geschriebenen <strong>und</strong><br />

prachtvoll illustrierten Buch geht Mike<br />

Jay auf den Opium- <strong>und</strong> Teehandel im<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert ebenso ein wie auf die<br />

Entwicklung von Designerdrogen oder<br />

<strong>das</strong> 1961 von der Uno beschlossene Einheitsabkommen<br />

über Betäubungsmittel.<br />

Ironischerweise trat just in dieser Zeit<br />

eine neugierige Jugend auf den Plan.<br />

«Drogengenuss als Brauchtum ist ein<br />

kulturelles Konstrukt: Offizielle Verfügungen<br />

können es eindämmen, aber<br />

kaum abschaffen», sagt der Autor. ●

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