02.02.2013 Aufrufe

Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

Salman Rushdie Luka und das Lebensfeuer - Neue Zürcher Zeitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Reportage<br />

Werden alte Bücher misshandelt, hilft oft nur noch <strong>das</strong> Skalpell. In der<br />

Universitätsbibliothek Bern haben Restauratorinnen <strong>das</strong> mittelalterliche<br />

Gebetbuch einer Strassburger Nonne gerettet. Ein Augenschein im<br />

Atelier. Von Geneviève Lüscher<br />

Aus dem<br />

Leben eines<br />

Gebetbuches<br />

Zwei massgeschneiderte, feste Kartonschachteln<br />

braucht es heute für den Kodex 801 der<br />

Burgerbibliothek Bern. Im Mittelalter stand <strong>das</strong><br />

nur handtellergrosse, bullige Gebetbuch wohl<br />

im Regal einer Klosterbibliothek oder lag auf<br />

dem Gebetsstuhl einer Nonne. Jedenfalls wurde<br />

fleissig darin geblättert. Die Leserin vertiefte<br />

sich in die Gebete <strong>und</strong> liess – noch ganz unberührt<br />

von der heutigen Bilderflut – <strong>das</strong> Auge<br />

entzückt auf den bunten Illustrationen ruhen.<br />

Heute liegt in der einen Schachtel der alte Originaleinband<br />

<strong>und</strong> in der anderen die mit einem<br />

ganz neuen Einband versehene, restaurierte<br />

Handschrift.<br />

Beutegut aus Napoleons Kriegen<br />

«Ja, <strong>das</strong> Herausschneiden des Buchblocks aus<br />

dem Einband war brutal», meint Ulrike Bürger,<br />

«aber es musste sein»; die Leiterin des Zentrums<br />

Historische Bestände der Universitätsbibliothek<br />

Bern erinnert sich höchst ungern an<br />

diesen Akt. Nun hebt die Buchrestauratorin behutsam<br />

den Einband aus seiner Kassette. Er<br />

präsentiert sich als traurige, leere Hülle, ist<br />

aber unversehrt <strong>und</strong> steht so der Einbandforschung<br />

zur Verfügung. Das über die Holzdeckel<br />

gezogene Schweinsleder ist fleckig verfärbt, im<br />

Innern baumeln einsam ein paar lose Fäden, ein<br />

Exlibris prangt auf der hinteren Innenseite. Es<br />

weist einen Ulrich Felix Lindinner­Escher<br />

(1762–1854), Privatgelehrten <strong>und</strong> Archivar in<br />

Zürich, als Besitzer aus. Lindinner hat <strong>das</strong> kleine<br />

Bijoux 1823 dem Berner Schultheissen Ni­<br />

Kodex 801<br />

Mit Kodex 801 wird <strong>das</strong> Gebetbuch der Nonne<br />

Ursula Begerin bezeichnet. Er umfasst insgesamt<br />

390 Seiten. Von den 195 Doppelseiten sind<br />

50 reine Bilderblätter, 64 Blätter mit Text <strong>und</strong><br />

Bild, 54 reine Textblätter; vorn <strong>und</strong> hinten sind<br />

zusätzliche Gebete eingeb<strong>und</strong>en. Das Buch kann<br />

in der Burgerbibliothek in Bern (Münstergasse<br />

63; Tel. 031 320 33 33) auf begründetes Gesuch<br />

hin zu wissenschaftlichen Zwecken eingesehen<br />

werden. Auch Mikrofilme stehen zur Verfügung.<br />

12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3. April 2011<br />

klaus Friedrich von Mülinen (1760–1833) geschenkt.<br />

1937 hat es die Stadtbibliothek Bern<br />

erworben; heute gehört es der Burgerbibliothek.<br />

Wie aber war Lindinner in den Besitz der<br />

Handschrift gekommen? Archivrecherchen im<br />

Zusammenhang mit der Restaurierung haben<br />

einen Brief aus dem Jahr 1823 zutage gefördert,<br />

in dem Lindinner an von Mülinen schreibt: «Le<br />

manuscrit ... vient de Strasbourg ou un officier<br />

de la garde nationale me L’adonné, L’ayant trou­<br />

«Es geht nicht darum, einen<br />

künstlichen Urzustand zu<br />

reproduzieren, sondern <strong>das</strong><br />

Buch wieder lesbar zu<br />

machen. Bücher sind<br />

Gebrauchsgegenstände.»<br />

vé dans une bibliotheque de réligieuses pendant<br />

qu’on pilloit le couvent.» Vermutlich also<br />

Beutegut aus den napoleonischen Kriegen.<br />

Dem Kodex wurde auf seinem langen Lebensweg<br />

nicht immer die nötige Sorgfalt entgegengebracht<br />

– mit den Jahrh<strong>und</strong>erten wurde er ein<br />

Fall für die Restaurierung.<br />

«Solche Restaurierungen gelten bei uns als<br />

seltene Leckerbissen», sagt Petra Hanschke,<br />

Leiterin der Dienststelle Konservierung, die<br />

zum Zentrum Historische Bestände gehört. Der<br />

Alltag der fünf Restauratorinnen – Männer interessieren<br />

sich kaum mehr für diesen Beruf –<br />

ist prosaischer <strong>und</strong> widmet sich den alltäglichen<br />

Schäden, die durch den Gebrauch alter<br />

Bücher entstehen. Da werden Risse an Pergamenteinbänden,<br />

lose Buchrücken, zerfledderte<br />

Papierseiten geflickt. Japanpapier ist dabei allgegenwärtig.<br />

«Wir restaurieren nicht nur Papier,<br />

sondern auch Pergamenteinbände mit Japanpapier,<br />

weil seine Eigenschaften bestens<br />

bekannt sind», sagt Hanschke. Pergament, also<br />

getrocknete Tierhaut, ist ein höchst anspruchsvolles<br />

Material, <strong>das</strong> «lebt». Je nach Feuchtigkeit<br />

dehnt es sich aus oder schrumpft. Zudem wird<br />

modernes Pergament heute ganz anders hergestellt<br />

als im Mittelalter <strong>und</strong> hat mechanische<br />

Eigenschaften, die sich nicht immer mit dem<br />

alten Pergament vertragen.<br />

Es geht also nicht darum, einen künstlichen<br />

Urzustand zu reproduzieren, sondern <strong>das</strong> Werk<br />

wieder benützbar zu machen. Bücher sind Gebrauchsgegenstände<br />

<strong>und</strong> sollen <strong>das</strong> bleiben.<br />

Gleichzeitig ist aber die Erhaltung der Originalsubstanz<br />

wichtig: «Das Buch als solches ist<br />

auch ein Kulturgut, <strong>und</strong> wir tun alles, um so viel<br />

wie möglich davon zu erhalten.» Um diese bisweilen<br />

schwierige Gratwanderung zu bewältigen,<br />

musste sich der Beruf des Restaurators,<br />

der Restauratorin völlig ändern. «Früher kamen<br />

Buchrestauratoren hauptsächlich aus einer<br />

Buchbinderlehre. Heute absolvieren sie ein<br />

Studium an einer Fachhochschule», erklärt<br />

Hanschke, ein naturwissenschaftlicher Hintergr<strong>und</strong><br />

sei unerlässlich. Eine Restauratorin muss<br />

eine Schadensanalyse vornehmen können, sie<br />

muss epochenspezifische Materialkenntnisse<br />

haben, wissen, wie Schäden entstehen <strong>und</strong> wie<br />

chemische <strong>und</strong> physikalische Abbaumechanismen<br />

funktionieren.<br />

Probleme mit dem Grünpigment<br />

Der Kodex 801 war eine restauratorische Herausforderung:<br />

1998 kam <strong>das</strong> mittlerweile zum<br />

Problemstück mutierte Werk aus der Burgerbibliothek<br />

ins Atelier. Was tun? Ulrike Bürger erinnert<br />

sich: «Der völlig verhärtete Ledereinband<br />

liess sich nicht mehr aufklappen, Blättern<br />

<strong>und</strong> Lesen waren unmöglich.» Dazu kamen unsachgemässe<br />

alte Reparaturen mit Klebstreifen,<br />

die trübe geworden waren <strong>und</strong> <strong>das</strong> Papier braun<br />

verfärbt hatten. Da man <strong>das</strong> Buch nicht öffnen<br />

konnte, war an ein Entfernen der Scotchbänder<br />

nicht zu denken. Die Expertenr<strong>und</strong>e erwog verschiedene<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> hat sich dann<br />

«sehr schweren Herzens» entschlossen, <strong>das</strong><br />

Werk vollständig auseinanderzunehmen. Das<br />

sei eine Massnahme, die man immer zuletzt<br />

treffe. Eine Zerlegung bedeute immer, dem<br />

Werk Schaden zuzufügen, Bürger weist auf die<br />

zerschnittenen Heftfäden im leeren Einband.<br />

Die Restauratorin löste also den 9 × 15 Zentimeter<br />

grossen Buchblock aus dem Einband,

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!