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<strong>atw</strong> Vol. 62 (<strong>2017</strong>) | Issue 6 ı June<br />
EDITORIAL 368<br />
*Bei der Stromerzeugung<br />
entspricht<br />
1 MW installierter<br />
Kernenergieleistung<br />
aufgrund höherer<br />
Arbeitsverfügbarkeit<br />
etwa 4 MW installierter<br />
Windkraft und<br />
8 MW installierter<br />
Fotovoltaikleistung –<br />
der häufig unterschätzte<br />
Unterschied<br />
von Leistung und<br />
Arbeit.<br />
Indiens Weg mit der Kernenergie<br />
Liebe Leserin, lieber Leser, Indien ist ein Land der Vielfalt und mit 1,3 Milliarden Menschen nicht nur zweitbevölkerungsreichstes<br />
Land der Welt nach China, sondern auch bevölkerungsreichste Demokratie der Welt. Dies<br />
spiegelt die große Verantwortung für die Politik des Landes wieder, gesellschaftliche und soziale Rahmenbedingungen<br />
zu schaffen, die diese Demokratie weiter zusammenhalten und festigen.<br />
Wirtschaftliches Wachstum ist dabei unzweifelhaft eine<br />
der wichtigsten Komponenten, um das Sozialwesen<br />
auszubauen und Lebensqualität zu schaffen. In den vergangenen<br />
10 Jahren ist Indiens Wirtschaft auch deshalb<br />
um durchschnittlich 11 % pro Jahr gewachsen und dies<br />
selbst in den Zeiten der globalen Finanzkrise ab 2007.<br />
Mit Blick auf die Energieversorgung ist Indien heute<br />
nach China und den USA drittgrößter Energieverbraucher<br />
der Welt. Trotz umfangreicher vorhandener Energie reserven<br />
hat sich Indien zum bedeutenden Energie importeur<br />
fossiler Energieträger entwickelt. Die Bedeutung von<br />
Kohle für die Energie- und Stromversorgung ist sehr dominant<br />
mit einem Anteil von über 75 % der Stromerzeugung.<br />
Hier wurden im Jahr 2013 rund 692 Millionen Tonnen<br />
Steinkohle eingesetzt, von denen 159 Millionen Tonnen<br />
importiert wurden. Die 22 Kernkraftwerke haben mit<br />
6.780 MW Bruttoleistung einen Anteil von rund 2,2 % an<br />
der Gesamtstromerzeugungsleistung des Landes von<br />
303.071 MWe und an der Erzeugung von rund 3,5 % durch<br />
die Produktion von 35 Gigawattstunden in 2016.<br />
Aufgrund der Kombination von heute vergleichsweise<br />
niedrigem pro Kopf Stromverbrauch in Höhe von 1.000<br />
kWh pro Einwohner und angestrebtem Wachstum sowie<br />
der Notwendigkeit den etwa 240 Millionen Menschen in<br />
Indien, die heute keinen Zugang zu Elektrizität haben,<br />
einen solchen zu verschaffen, wird sich dieser weiter<br />
erhöhen. Bis in die 2020er-Jahre wird eine Verdoppelung<br />
erwartet. Dabei ist für Indien zudem zu bemerken, dass<br />
der Anteil der Landwirtschaft am Stromverbrauch –<br />
wesent lich zur Bewässerung von Feldern – von bis zu<br />
einem Drittel verdeutlicht, dass eine gesicherte Stromversorgung<br />
keine Frage des Komforts, sondern auch der<br />
Grundversorgung ist.<br />
Dies stellt das Land und seine Entscheider vor enorme<br />
Herausforderungen. Um sie zu bewältigen, wird keine<br />
Option ausgeschlossen. Daher wird für alle Energieträger<br />
in Indien in den kommenden Jahren bis Mitte der 2020er<br />
ein Wachstum erwartet und angestrebt, mit unterschiedlich<br />
starker Ausprägung der einzelnen Energieträger.<br />
Ambitioniert ist der Ausbau der Erneuerbaren, mit einer<br />
Zielvorgabe vor allem beim Wind von +60.000 MW und<br />
der Fotovoltaik von +100.000 MW, was insgesamt einer<br />
Vervierfachung entspricht. Aber auch die Kohleverstromung<br />
wird sich weiter erhöhen.<br />
... und die Kernenergie?<br />
Forschung und Entwicklung der Kernenergie in Indien<br />
haben eine lange nationale Tradition. In den 1950er- Jahren<br />
wurde das heutige Bhaba Atomic Research Center nahe<br />
Mumbai errichtet. An den Standorten Tarapur und<br />
Rajasthan wurden 1969 bzw. 1972 ein erster Leichtwasserreaktor<br />
bzw. ein schwerwassermoderierter Druckwasserreaktor<br />
vom kanadischen CANDU-Typ in Betrieb<br />
genommen. Die Weiterentwicklung der Kernenergie im<br />
internationalen Verbund war dann aber gehemmt, da<br />
Indien als Atomwaffenmacht nicht den Atomwaffensperrvertrag<br />
unterzeichnet hatte. Indiens Nuklearwirtschaft<br />
war somit auf eigene Entwicklungen bzw.<br />
Weiterentwicklungen bei Ausbau angewiesen. Durch<br />
Standardisierung der Schwerwasser reaktortechnologie<br />
gelang es, eine eigene leistungsfähige Reaktorlinie zu<br />
etablieren und bis heute 18 solcher Anlagen in Betrieb zu<br />
nehmen. Die Langfristperspektive der Kern energie wird<br />
mit der prototypischen Errichtung eines schnellen natriumgekühlten<br />
500-MW-Reaktors am Standort Kalpakkam<br />
unterstrichen, dessen Inbetriebnahme für Herbst <strong>2017</strong><br />
angekündigt ist. Zudem wurde jüngst vom indischen<br />
Department for Atomic Energy mitgeteilt, dass weitere zwei<br />
600-MW-Brutreaktoren in Kalpakkam folgen sollen.<br />
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes änderten<br />
sich auch die Beziehungen vieler Länder in Sachen<br />
Kernenergietechnologie mit Indien. Im Rahmen von<br />
Kooperationen mit Russland wurden so ab 2002 zwei<br />
WWER-Reaktoren mit jeweils 1.000 MW Leistung am<br />
Standort Kudankulam errichtet und in Betrieb genommen.<br />
Eine Vereinbarung mit der Nuclear Suppliers Group im<br />
Jahr 2008 eröffnete zudem den Weg für eine Reihe von<br />
bilateralen Vereinbarungen zum Ausbau der Kernenergie.<br />
Verschiedenste Neubauvorhaben werden seit diesem Jahr<br />
immer wieder genannt und verhandelt, um das Ausbauziel<br />
von +10 % Kapazität pro Jahr bis 2025 zu erreichen.<br />
So macht Indien jetzt ernst, auch in Sachen Kernenergie.<br />
Der indische Premierminister Narendra Mori gab<br />
im Mai <strong>2017</strong> für die Regierung als den ersten Schritt<br />
die Initiierung eines nationalen Kernenergieausbauprogramms<br />
bekannt. Dieser soll der indischen Wirtschaft<br />
insgesamt einen großen Schub verschaffen: Innerhalb der<br />
kommenden 5 Jahre sollen 10 Kernkraftwerksprojekte auf<br />
Basis der indischen Schwerwasserreaktortechnologie<br />
mit einer Gesamtleistung von 6.700 MW* – also in<br />
gleicher Höhe, wie die derzeit betriebenen – aufgenommen<br />
werden. Der Gesamtinvestitionsumfang wird<br />
mit 11 Mrd. $ angegeben. Allein in der kerntechnischen<br />
Industrie des Landes sollen so 33.400 neue, qualifizierte<br />
Arbeitsplätze geschaffen werden. Mit den Erfahrungen<br />
aus Errichtung und Inbetriebnahme der heute laufenden<br />
Schwerwasserreaktoren und durch die Standardisierung<br />
der 10 Neuanlagen soll das „Flottenbauprogramm“<br />
Synergien durch eine „Economy by Number“ erzeugen und<br />
so die angestrebten vergleichsweise niedrigen Investitionskosten<br />
von 1.650 $ pro installiertem Kilowatt elektrisch<br />
ermöglichen.<br />
Indiens Wege der zukünftigen Energieversorgung sind<br />
vielfältig und schließen den Weg der Kernenergienutzung<br />
mit ein; Schritt für Schritt und einer Zielvorgabe von<br />
weiteren 80.000 MW bis Ende der 2020er-Jahre.<br />
Christopher Weßelmann<br />
– Chefredakteur –<br />
Editorial<br />
India Goes Nuclear