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atw 2018-10

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<strong>atw</strong> Vol. 63 (<strong>2018</strong>) | Issue <strong>10</strong> ı October<br />

EDITORIAL 496<br />

Kernenergie und Radioaktivität:<br />

Worum ging es noch mal?<br />

Liebe Leserin, lieber Leser, beim heutigen Weg ins Büro beschäftigte sich die Topmeldung im Radio mit den<br />

gewaltsamen Protesten gegen die Braunkohlenutzung im Hambacher Forst und einem politisch avisierten Ausstieg aus<br />

der Kohleverstromung Ende der 2030er-Jahre. Na ja, Amsterdam in den Niederlanden ist da schon einen Schritt weiter,<br />

jetzt, wo noch kollegial im Europaparlament die „Ehe zwischen den Erneuerbaren und dem Gas“ beschworen wird,<br />

fordern politische Kreise dort als nächstes das Gas aus der Stromerzeugung zu drängen. Vor mir fuhr dabei ein<br />

augenscheinlicher Oberklassewagen. Vier Auspuffrohre zierten sein Heck, na ja, so ernst scheinen es die Deutschen<br />

wohl nicht mit der persönlichen Umsetzung von propagierten Weltverbesserungszielen zu nehmen. Alternativ drängte<br />

sich von hinten ein SUV auf, ein Sport Utility Vehicle“, also eine Mischung aus Geländewagen und Limousine, 2,5 t Masse,<br />

um 75 bis 85 kg Mensch zu bewegen. Aber das kennen wir als Kernenergiebranche ja – als Goliath gebrandmarkt, kann<br />

man sich kaum mit Vernunft und Einordnung in das Ganze wehren.<br />

Aber wie war das noch mal, mit der Kernenergie und ihren<br />

Risiken. Letztendlich bedeutet dies doch nichts anderes<br />

also die Frage nach den Risiken der „Radioaktivität“ oder<br />

besser gesagt der „ionisierenden Strahlung“ zu stellen, zu<br />

beantworten und zu bewerten?<br />

Immerhin können Forschung und Anwendung der<br />

Kernenergie mit Recht anmerken, dass es kaum ein Naturund<br />

Umweltphänomen gibt, dass in seinen Ursachen und<br />

möglichen Wirkungen so gut und intensiv erkundet ist, wie<br />

ionisierende Strahlung. Die erschütternden Folgen der<br />

militärischen Nutzung aber vor allem das große Interesse,<br />

mit der Kernenergie eine bewertbar verantwortungsvolle<br />

Energieressource auf Basis von Rationalität und wissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen bereitzustellen, haben dazu<br />

maßgeblich beigetragen.<br />

Wo stehen wir heute?<br />

Für hohe Dosen ionisierender Strahlung liegen zur<br />

Abschätzung von Strahlenrisiken umfangreiche und<br />

ausreichend wissenschaftlich abgesicherte Daten vor, mit<br />

denen Belastungsfolgen vernünftig bewertet werden<br />

können.<br />

Anders sieht es bei niedrigen Strahlendosen aus, wie sie<br />

uns im Alltag begegnen. Hier sind aufgrund der vergleichsweise<br />

unklaren Datenlage alle Risikoschätzungen mit<br />

erheblichen Unsicherheiten behaftet. Die Vielzahl aller<br />

Umwelteinwirkungen und -folgen lässt weder deterministisch<br />

noch statistisch valide Aussagen zu. Warum?<br />

Einige Zahlenwerte, unter anderem aus dem aktuellesten<br />

verfügbaren Parlamentsbericht „Umweltradioaktivität<br />

und Strahlenbelastung im Jahr 2015: Unterrichtung durch<br />

die Bundesregierung“ sollen dies skizzieren – sie gelten<br />

analog auch für andere Regionen dieser Erde:<br />

Unter der Überschrift „Wesentliche Ergebnisse im<br />

Berichtsjahr bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland“<br />

nennt der Bericht eine Gesamtexposition der<br />

Bevölkerung von 3.800 Mikrosievert (3,8 Millisievert)<br />

pro Person und Jahr. Des Weiteren werden Punkte aufgeführt<br />

wie „Medizinische Strahlenexposition“, „Berufliche<br />

Strahlenexposition“, „Strahlenexposition des Flug personals“,<br />

„Schachtanlage Asse“ – mit 0,1 Mikrosievert für<br />

Erwachsene – usw. Die in 2015 in Deutschland betriebenen<br />

neun Kernkraftwerke kommen auf den ersten Seiten<br />

des Berichts auch gar nicht vor, und das ist gut so. Ihre<br />

Strahlenexposition via Abluft und Abwasser lag konservativ<br />

gerechnet bei rund 4 Mikrosievert (0,004 mSv), also<br />

zirka einem Promille des deutschen Gesamtmittelwertes.<br />

Dass es auf der Welt Regionen mit weit höherer natürlicher<br />

Strahlenexposition gibt, ist in Fachkreisen hinlänglich<br />

bekannt bzw. kann jeder im Datennetz WWW<br />

recherchieren. Jenseits der beiden bekanntesten Regionen<br />

in Indien und Brasilien mit Expositionswerten von 80 bis<br />

175 mSV werden für das iranische Ramsar Werte von<br />

860 mSv angegeben. Erkennbare Gesundheitsrisiken für<br />

die Menschen in diesen Regionen sind in verlässlichen<br />

Abhandlungen mit wissenschaftlichen Grundlagen nicht<br />

dokumentiert.<br />

Vor dem Hintergrund der Unsicherheiten und dem in<br />

der Kerntechnik verankerten besonders verantwortungsvollen<br />

Handeln werden die Risiken der ionisierenden<br />

Strahlung besonders vorsichtig und ausgewogen eingeschätzt<br />

und bewertet und im Ergebnis mit den oben<br />

genannten niedrigen tatsächlichen Expositionswerten<br />

dokumentiert.<br />

Besorgnis erregend ist es schon, wenn dieser für die<br />

Bewertung der Kernenergie wesentliche Aspekt häufig<br />

politisch-gesellschaftlich ausgeblendet wird und nur<br />

wenig Forschungsarbeiten dazu gestützt werden. Rund<br />

400 Jahre nach Galileo Galilei und der Begründung der<br />

neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften war und ist<br />

man bei der Kernenergie wieder in das Zeitalter der<br />

Dogmen verfallen – zumindest in einigen wenigen<br />

Regionen der Welt.<br />

Christopher Weßelmann<br />

– Chefredakteur –<br />

Editorial<br />

Nuclear Energy and Radioactivity: What Was it All About Again?

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