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Berliner Zeitung 22.02.2019

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6 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 45 · F reitag, 22. Februar 2019<br />

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Made in Berlin<br />

BERLINER BEKANNTE<br />

Die U-Bahn:<br />

Wo alles<br />

begann<br />

VonJochen Knoblach<br />

Wenn man nach dem Ursprung<br />

des Begriffs Berufsverkehr suchen<br />

wollte, wäre dafür der südliche<br />

Humboldthain ein guter Ort. An der<br />

Voltastraße hatte die Allgemeine<br />

Elektricitäts-Gesellschaft, kurz: AEG,<br />

Mitte der 90er-Jahre des neunzehnten<br />

Jahrhunderts eine Großmaschinenfabrik<br />

errichtet. Um sie mit der<br />

Apparatefabrik in der Ackerstraße zu<br />

verbinden, baute die AEG einen Tunnel<br />

für eine elektrische Röhrenbahn.<br />

295 Meter lang war dieser und sollte<br />

Arbeiter und Materialien von einer<br />

Fabrik zur anderen transportieren.<br />

Berufsverkehr eben, aber es steckte<br />

mehr dahinter.<br />

Der3,15 Meter hohe und 2,60 Meter<br />

breite Parcours unter Berlins Pflaster<br />

darf vor allem als der erste U-<br />

Bahn-Tunnel Deutschlands gelten.<br />

Und tatsächlich war die Unterführung<br />

ein Versuchstunnel, mit dem<br />

AEG in Berlin den Baueines U-Bahn-<br />

Netzes nach Londoner Vorbild auslösen<br />

wollte.Die Stadt wuchs,neueVerkehrsmittel<br />

waren gefragt. Am 31. Mai<br />

1897 fuhr auf der Strecke der erste<br />

elektrisch angetriebene Zug. Dennoch<br />

setzte sich Siemens mit einer<br />

preiswerteren Mischung aus Hochund<br />

Untergrundbahn durch.<br />

Züge aus Pankow<br />

Um 1910 wurde der AEG-Tunnel zwar<br />

noch einmal um etwa 80 Meter verlängert,<br />

der Fahrbetrieb 1915 jedoch<br />

eingestellt. Im Ersten Weltkrieg wurden<br />

dort Granaten mit Sprengstoff<br />

befüllt, im ZweitenWeltkrieg diente er<br />

alsWerksluftschutzkeller.<br />

Die <strong>Berliner</strong> U-Bahn stellte indes<br />

Siemens aufs Gleis. 1902 rollte hier<br />

die erste elektrische Untergrundbahn,<br />

die trotz ihrer Bezeichnung vor<br />

allem oberirdisch fuhr. Doch das änderte<br />

sich bald. 1913 war das Streckennetz<br />

bereits auf 37,8 Kilometer<br />

ausgebaut, von denen 27 Kilometer<br />

unter Tage verliefen. Heute gehören<br />

zum <strong>Berliner</strong> U-Bahn-Netz zehn Linien<br />

mit einer Gesamtlänge von 146<br />

Kilometernsowie 173 Bahnhöfen.<br />

Aber Berlin nutzt die U-Bahn nicht<br />

nur. Berlin baut sie auch. Bei der<br />

Firma Stadler in Pankow entstehen<br />

derzeit Züge der sogenannten Kleinprofil-Baureihe<br />

IK. Berlin ist der<br />

zweitgrößte Standortdes gleichnamigen<br />

Schweizer Mutterkonzerns. Als<br />

die Stadler Pankow GmbH im Jahr<br />

2000 als Joint Venturezwischen Stadler<br />

und Adtranz gegründet wurde,<br />

hatte das Unternehmen knapp 200<br />

Beschäftigte. Mittlerweile sind es<br />

1300 Mitarbeiter. Nun will Stadler<br />

den Standort weiter ausbauen. Aktuell<br />

sind Investitionen von bis zu 70<br />

Millionen Euro geplant.<br />

Den ehemaligen AEG-Versuchstunnel<br />

kann man übrigens seit etwa<br />

zwei Jahren auch wieder besuchen.<br />

Der Verein <strong>Berliner</strong> Unterwelten hat<br />

ihn Instand gesetzt und das historische<br />

Gleis wieder freigelegt. Besucher<br />

erhalten zunächst eine Einführung in<br />

die geschichtliche Entwicklung des<br />

Geländes, bevor sie den ersten U-<br />

Bahn-Tunnel Deutschlands erkunden,<br />

der übrigens auch schon zweimal<br />

Drehort für die bekannte TV-Serie„Babylon<br />

Berlin“ war.<br />

Zutritt gestattet: Der Verein <strong>Berliner</strong> Unterwelten<br />

bietet Führungen an. ANDREAS KLUG<br />

Biologisch<br />

ausbeutbar<br />

Im <strong>Berliner</strong> Einzelhandel<br />

werden immer weniger Beschäftigte<br />

nach Tarif bezahlt. Im<br />

Lebensmittelbereich sieht es noch<br />

vergleichsweise gut aus.<br />

Aber ausgerechnet einige Bio-Märkte<br />

zahlen deutlich geringere<br />

Stundenlöhne<br />

VonJochen Knoblach (Text) und Isabella Galanty (Grafik)<br />

Zwölf Euro und 63 Cent. Diesen Stundenlohn<br />

muss man haben, wenn im Alter die Rente zumindest<br />

etwas über der Grundsicherung von<br />

aktuell 814 Euro liegen soll. 12,63 Euro bei 38,5<br />

Wochenstunden, 45 Jahre lang –dann reicht’s.Solautete<br />

im vergangenen Sommer die Antwortdes Bundesarbeitsministeriums<br />

auf eine Anfrage der Linksfraktion.<br />

Inzwischen hat der Regierende Bürgermeister vonBerlin<br />

angekündigt, dass der Mindestlohn für Mitarbeiter<br />

des öffentlichen Diensts in der Stadt ab 2019 schrittweise<br />

auf mindestens 12,63 Euro angehoben werden<br />

soll. In anderen Wirtschaftsbereichen ist man davon<br />

weit entfernt.<br />

Ein <strong>Berliner</strong> Bäcker etwa hat nach Tarif einen Stundenlohn<br />

ab 11,63 Euro, eine Fachkraft im Hotel- und<br />

Gaststättengewerbe kann mit mindestens 12,18 Euro je<br />

Stunde rechnen, und auch im Einzelhandel sieht es<br />

nicht so rosig aus. Nach gültigem Tarifvertrag beträgt<br />

der Stundensatz für eine Kassiererin derzeit wenigstens<br />

12,32 Euro im Osten und 12,71 Euro imWesten.<br />

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Genauer<br />

gesagt: Es ist quasi nur ein Drittel der Wahrheit. Denn<br />

im Einzelhandel werden immer mehr Beschäftigte<br />

schlechter statt besser bezahlt. „Weg vom Tarif ist ein<br />

Trend, der für immer mehr Betriebe und Beschäftigte<br />

gilt“, sagt der <strong>Berliner</strong> Wirtschafts- und Sozialforscher<br />

Bert Warich. Seiner Analyse zufolge werden derzeit<br />

etwa zwei Drittel der Beschäftigten im <strong>Berliner</strong> Einzelhandel<br />

nicht nach einem Tarifvertrag vergütet.<br />

DerGrund dafür ist für Warich klar:Die Unternehmen<br />

versprechen sich Wettbewerbsvorteile, wenn sie<br />

ihr Geschäft länger geöffnet haben. So können sie<br />

mehr vonder zurVerfügung stehenden Kaufkraft ihrer<br />

potenziellen Kundschaft bekommen, brauchen dafür<br />

aber auch mehr Personal, und das wollen sie möglichst<br />

billig. DerRiss zwischen Tarifbezahlung und Tarifverweigerung<br />

zieht sich durch alle Bereiche des<br />

hiesigen Einzelhandels. Während in der Textilsparte<br />

beispielsweise H&M, Zara, Primark und Esprit nach<br />

Tarif bezahlen, ist dies etwa bei C&A nicht der Fall.<br />

Beiden Möbelanbieternzahlt nur Ikea Tariflohn, Mediamarkt<br />

und Saturn tun es im Elektronikbereich,<br />

Baumärkte wiederum gar nicht.<br />

Mehr Gehalt nach der Übernahme<br />

Nach Einschätzung der Gewerkschaft Verdi steht der<br />

Lebensmitteleinzelhandel in Berlin noch ganz gut da.<br />

„Der überwiegende Teil der Betriebe ist tarifgebunden<br />

oder orientiertsich wenigstens daran“, sagt Erika Ritter,<br />

Landesfachbereichsleiterin Handel bei Verdi. Tatsächlich<br />

haben sich die großen Ketten vonAldi bis Rewe fast<br />

ausnahmslos den Tarifvereinbarungen angeschlossen.<br />

So verbesserte sich vorgut zwei Jahren auch die Bezahlung<br />

der mehr als 5000 Kaiser’s-Beschäftigen, als ihre<br />

Filialen von Edeka und Rewe übernommen und die<br />

Mitarbeiter fortan besser bezahlt wurden.<br />

Allerdings gibt es guten Lohn auch in der Lebensmittelsparte<br />

nicht überall. Undbemerkenswerterweise<br />

sind es ausgerechnet Biomärkte,indenen das Tierwohl<br />

offenbar mehr gilt als eine auskömmliche Bezahlung<br />

der Mitarbeiter. Zwar bezahlen in Berlin Alnatura und<br />

die LPG Biomärkte nach eigenen Angaben ihren Kassiererinnen<br />

sogar mehr als den Tariflohn, doch liegen Bio<br />

Company und Denn’s Biomärkte offenbar darunter.<br />

„Wir sehen uns im oberen Mittelfeld des <strong>Berliner</strong> Biofachhandels“,<br />

lautete die Antwortvon BioCompany auf<br />

die Frage, welchen Stundenlohn eine Kassiererin dort<br />

derzeit mindestens bekomme.Heißt das Tariflohn? „Es<br />

gibt nichts mehr zu sagen“, so der hiesige Marktführer,<br />

der seinen Umsatz im vorigen Jahr um zehn Prozent<br />

steigerte. Bei Denn’s erklärte man schwammig, dass<br />

sich das Unternehmen mit der Bezahlung am Branchendurchschnitt<br />

orientiere. Diegenannte Frage lasse<br />

sich „leider nicht pauschal beantworten“. In einschlägigen<br />

Internetforen ist jeweils vonStundenlöhnen um<br />

elf Euro die Rede.<br />

Für Verdi-Expertin Erika Ritter ist das nicht neu. Die<br />

Bezahlung in Bio-Märkten sei etwas besser geworden,<br />

aber grundsätzlich habe sich nichts geändert, sagt sie.<br />

„Die Unternehmen setzen darauf, dass ihren Mitarbeiterndas<br />

Gute ihrer Tätigkeit so wichtig ist, dass sie sich<br />

dafür mit geringerer Bezahlung zufrieden geben.“ Die<br />

Beschäftigten würden schlicht ausgenutzt, so Ritter.<br />

Arbeitsverhältnisse im<br />

<strong>Berliner</strong> Einzelhandel<br />

2018, in Klammern Veränderung<br />

zu 2010 in Prozentpunkten<br />

Vollzeit<br />

39,7%<br />

(–2,5)<br />

<strong>Berliner</strong> Einzelhandel<br />

Umsatz in Milliarden Euro<br />

davon Lebensmittel-Einzelhandel<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

Beschäftigte<br />

2018<br />

140 942<br />

(–29 752)<br />

’03 ’10 ’17<br />

Wie im Lebensmittel-<br />

Einzelhandel bezahlt wird<br />

Ost<br />

12,48<br />

Euro<br />

TARIFLOHN<br />

Ost West<br />

12,32<br />

Euro<br />

UNTER TARIF<br />

ÜBER TARIF<br />

12,89<br />

Euro*<br />

BioMarkt<br />

Teilzeit<br />

41,0%<br />

(+8,9)<br />

Minijob/Nebenjob<br />

19,3% (–6,4)<br />

Kaum Tarif im Einzelhandel<br />

Beschäftigte in Berlin, die nicht nach<br />

Tarif bezahlt werden<br />

80<br />

70<br />

67%<br />

60<br />

50<br />

Ost<br />

West<br />

47%<br />

40<br />

2010 ’12 ’14 2017<br />

QUELLEN: VERDI, UNTERNEHMEN, HBB<br />

12,51<br />

Euro*<br />

*Unternehmensangaben<br />

West<br />

12,88<br />

Euro<br />

12,71<br />

Euro<br />

71%<br />

60%<br />

„Weg vom<br />

Tarif<br />

ist ein Trend,<br />

der für immer<br />

mehr<br />

Betriebe und<br />

Beschäftigte<br />

gilt.“<br />

Bert Warich, <strong>Berliner</strong> Wirtschafts-<br />

und Sozialforscher<br />

„Im Biobereich<br />

setzen<br />

Unternehmen<br />

darauf, dass<br />

ihren<br />

Mitarbeitern<br />

das Gute ihrer<br />

Tätigkeit so<br />

wichtig ist, dass<br />

sie sich<br />

dafür mit<br />

geringerer<br />

Bezahlung<br />

zufrieden<br />

geben.“<br />

Erika Ritter, Handelsexpertin<br />

bei der Gewerkschaft Verdi<br />

NEU IN DER STADT<br />

Online-Kanzlei<br />

erstreitet<br />

Abfindungen<br />

VonTheresa Dräbing<br />

Seit Jahren kämpft das Online-<br />

Fluggastrechteportal Flightright<br />

für Verbraucher erfolgreich um Entschädigungen<br />

bei Flugausfällen.<br />

Jetzt wagt sich das Unternehmen an<br />

ein weiteres Rechtsgebiet: Mit der<br />

Ausgründung von Chevalier sollen<br />

nun auch Arbeitnehmer Hilfe bei einer<br />

Kündigung, einer Abmahnung<br />

oder beim Erstreiten einer Abfindung<br />

bekommen.<br />

Innerhalb von zwei Minuten, so<br />

wird auf der Webseite versprochen,<br />

können gekündigte Arbeitnehmer<br />

online prüfen, ob und in welcher ungefähren<br />

Höhe dieVerhandlung einer<br />

Abfindung möglich ist. Dieersten Informationen<br />

sind kostenlos.Wer sich<br />

dazu entscheidet, dass Chevalier bei<br />

der Abfindungserstreitung oder anderen<br />

Rechtsfragen rund um die Kündigung<br />

helfen soll, schickt anschließend<br />

einen Auftrag ab. Bearbeitet<br />

wird der Fall dann zwar von einem<br />

Rechtsanwalt in Fleisch und Blut, alles<br />

andere, wie die Datenerhebungen<br />

oder das Erstellen von Dokumenten,<br />

soll automatisiert passieren. Das ist<br />

das Konzept vonsogenannten Legal-<br />

Tech-Diensten, von denen es neben<br />

Chevalier auch schon eine Reihe von<br />

Konkurrenten gibt. Das <strong>Berliner</strong> Unternehmen<br />

mit bislang rund 20 Mitarbeiternsitzt<br />

in Kreuzberg, im Oktober<br />

2018 ist der Dienst gestartet.<br />

Wiebei Flightright richtet sich das<br />

Portal an einzelne Personen und<br />

nicht an große Firmen. Simon Wolff,<br />

Mitgründer von Chevalier, sieht hier<br />

eine Nische. Auf Verbraucherseite<br />

gebe es keine großen Kanzleien, die<br />

sich dem Recht von kleinen Arbeitnehmernannehmen,<br />

sagt Wolff. „Die<br />

großen Kanzleien und Top-Anwälte<br />

arbeiten für die Unternehmensseite“,<br />

sagt er. Denn da steckt das große<br />

Geld. „Will sich ein Arbeitnehmer<br />

rechtlichen Beistand besorgen,<br />

schrecken ihn spätestens die hohen<br />

Anwaltskosten wieder ab“, soWolff.<br />

Daswill Chevalier ändern. Neben<br />

einer Vergütung nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz,<br />

dessen<br />

Kosten auch die Rechtsschutzversicherung<br />

übernehmen kann, arbeitet<br />

Chevalier mit einem sogenannten<br />

Prozessfinanzierer zusammen. Dieser<br />

nimmt das volle Kostenrisiko auf<br />

sich. Nur wenn der Mandant gewinnt,<br />

muss er von der erstrittenen<br />

Abfindung eine Provision in Höhe<br />

vonzumeist bis zu 33 Prozent an den<br />

Prozessfinanzierer zahlen.<br />

Anwaltverein: Sinnvolle Ergänzung<br />

Neuist das Modell des Prozessfinanzierers<br />

nicht. Normalerweise würden<br />

Prozessfinanzierer allerdings<br />

nur Mandate annehmen, bei denen<br />

es um viel Geld geht wie beispielsweise<br />

bei hohen Schmerzensgeldforderungen,<br />

heißt es beim Deutschen<br />

Anwaltverein.<br />

„Wenn der Zugang zum Recht dadurch<br />

verbessert wird, sind Legal-<br />

Tech-Dienste grundsätzlich eine gute<br />

Sache.Dies ist vorallem bei geringen<br />

Streitwerten der Fall, bei denen Menschen<br />

auf diesemWegzuihrem Recht<br />

kommen, die es anderweitig gar nicht<br />

erst versuchen würden“, heißt es<br />

beim Deutschen Anwaltverein. Bei<br />

komplexeren Fällen sei ein anwaltliches<br />

Beratungsgespräch jedoch unabdinglich.<br />

Bei Chevalier werde es<br />

immer klassische Anwälte geben, versichertWolff.„Dadurch,<br />

dass wir viele<br />

Prozesse automatisieren, haben unsere<br />

Anwälte aber mehr Zeit für die<br />

Mandanten“, sagt er.<br />

IMAGO

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