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<strong>Die</strong> Schändung der Gedenkstätte für<br />

die gefallenen Sowjetsoldaten in Talinn<br />

Folgen einer „Denkmalentsorgung“ in Estland<br />

In einem der kleinsten Mitgliedstaaten<br />

der EU, in Estland (1,3 Millionen Einwohner<br />

– davon 65 Prozent Esten und<br />

30 Prozent Russen, die mehrheitlich keine<br />

Staatsbürgerrechte besitzen), kam<br />

es im Vorfeld des diesjährigen Jahrestages<br />

der Befreiung der Völker Europas<br />

vom deutschen Faschismus zu einem<br />

internationalen Skandal. 1947 wurde<br />

im Stadtzentrum Talinns auf dem Hügel<br />

Tönismägi im Park vor der Karlskirche<br />

und der Staatsbibliothek ein Ehrenmal<br />

für die bei der Befreiung Estlands 1944<br />

gefallenen sowjetischen Soldaten errichtet<br />

– symbolisiert durch den „Bronzenen<br />

Soldaten“ vor einer Gedenkmauer<br />

und den dort unmittelbar nach den<br />

Kämpfen am 22. September beigesetzten<br />

13 Rotarmisten. Insgesamt gibt es<br />

in Estland 450 Soldatengräber für die<br />

während der Befreiung Estlands von<br />

deutschen Okkupanten und estnischen<br />

Kollaborateuren im September/Oktober<br />

1944 gefallenen 24.000 Sowjetsoldaten.<br />

In einer Nacht- und Nebelaktion schändete<br />

die rechte Regierung unter Andrus<br />

Ansip in der Nacht zum 27. April<br />

2007 das hauptstädtische Denkmal.<br />

Der Bronzesoldat wurde bis zu den Füßen<br />

abgesägt, abtransportiert und drei<br />

Tage später auf dem hauptstädtischen<br />

Kriegsfriedhof aufgestellt. Dorthin sollen<br />

auch die sterblichen Überreste der<br />

Soldaten umgebettet werden.<br />

Daraufhin kam es in der Nacht zum 27.<br />

April und danach zu spontanen Protestkundgebungen.<br />

Gegen die 3.000<br />

russischen und estnischen Demonstranten<br />

gingen die eingesetzten Sicherheitskräfte<br />

mit unverhältnismäßiger<br />

Gewalt vor und verletzten 150 Personen<br />

schwer, der zwanzigjährige Dimtri<br />

Ganin verstarb, da er keinerlei medizinische<br />

Hilfe erhielt. 1.200 Demonstranten<br />

– darunter ein Drittel estnische<br />

Jugendliche – wurden im Tallinner Hafen<br />

unter unmenschlichen Bedingungen<br />

eingesperrt und misshandelt. Aus<br />

Furcht vor neuen Protesten verbot die<br />

Regierung für das ganze Land bis zum<br />

11. Mai 2007 alle öffentlichen Kundgebungen<br />

und Demonstrationen. <strong>Die</strong><br />

führende estnische Zeitung Postimees<br />

wurde von einer Spam-Flut überrannt.<br />

Tausende kritischer Kommentare aus<br />

aller Welt trafen ein. Darauf ließen die<br />

Techniker den Zugang sperren und<br />

löschten, wie sich das für eine „demokratische<br />

und unabhängige“ Presse<br />

gehört, die für die Regierung, die den<br />

brutalen Einsatz der Polizei zu verantworten<br />

hat, unangenehmen Zuschriften.<br />

Der Stellvertretende Vorsitzende der<br />

Russischen Partei Estlands, Gennadi<br />

Afanassjew, zugleich Abgeordneter<br />

des Stadtrates von Narwa, analysierte<br />

den Konflikt wie folgt: „<strong>Die</strong> Eskalation<br />

ist vor allem dem Vorgehen der Polizei<br />

geschuldet. Das, was in der Nacht vom<br />

Donnerstag zum Freitag (26./27. April<br />

2007) in der vergangenen Woche in<br />

Tallinn passiert ist, war nicht nur eine<br />

Folge der Entscheidung der estnischen<br />

Regierung, sondern eines gravierenden<br />

Fehlers der Sicherheitskräfte. <strong>Die</strong> vorerst<br />

friedlich versammelten Demonstranten<br />

wurden mit Gewalt vom Denkmal<br />

weg in die Stadtmitte gedrängt. In<br />

den kleinen Gassen Tallinns lösten sich<br />

die Emotionen und die gestaute Wut<br />

und schlugen in wilde Straßenschlachten<br />

und Pogrome um. Zu den Demonstranten<br />

gesellten sich dann auch andere<br />

Jugendliche, die aus Spaß anfingen,<br />

Scheiben einzuschlagen und Warenhäuser<br />

zu plündern. So etwas hätte<br />

verhindert werden können, wenn die<br />

Regierung vorher einen Dialog mit den<br />

Menschen eingegangen wäre. <strong>Die</strong> estnische<br />

Regierung hat heute bemerkt,<br />

dass es in ihrem Land eine russische<br />

Bevölkerung gibt. Nach offizieller Statistik<br />

kann man heute genau sagen,<br />

dass es nicht nur die russischsprachige<br />

Bevölkerung war. Mehr <strong>als</strong> ein Drittel<br />

der 1.000 Festgenommenen waren<br />

Esten. Es waren vorwiegend junge Leute,<br />

die am Denkmal Wache hielten und<br />

dessen ‚Verlegung‘ verhindern wollten,<br />

zwölfjährige, 14jährige … Das Durchschnittsalter<br />

liegt der Statistik nach<br />

bei 16 Jahren. Sechzehn Jahre – das ist<br />

genau die Zeit, die unser Land abhängig<br />

ist. Das zeigt, dass die Aktivisten<br />

Jugendliche sind, die in Estland geboren<br />

und aufgewachsen sind und die mit<br />

der Sowjetunion nichts zu tun haben.<br />

Trotzdem setzen sie sich für das Denkmal<br />

ein und repräsentieren einen anderen<br />

Teil der Meinung der estnischen<br />

Bevölkerung. <strong>Die</strong>se Jungen und Mädchen<br />

sind in einen unfairen Kampf mit<br />

hart vorgehenden Polizeikräften verwickelt<br />

worden.“ 1<br />

Estnischer Geschichtsrevisionismus<br />

hat seine europäischen Vorbilder<br />

<strong>Die</strong> Regierung gab nur rechtfertigende<br />

offizielle Erklärungen ab und verschanzte<br />

sich. Das Parlament wurde mit einem<br />

Zaun gesichert, die Zufahrt durch Panzersperren<br />

aus Stahlbeton abgeschottet.<br />

Schuld an diesem Blutbad – so die<br />

Regierenden – seien die Protestierenden<br />

selbst, denn diese seien angeblich<br />

nur „Randalierer“ und „Plünderer“<br />

gewesen. Der Protest gegen die Grabschändung<br />

der bei der Befreiung Tallinns<br />

gefallenen Sowjetsoldaten, die<br />

Kundgebung gegen diesen pietätlosen<br />

und provokatorischen politischen Akt,<br />

gilt in der neuen estnischen „Demokratie“<br />

offenbar <strong>als</strong> nicht schützenswert.<br />

<strong>Die</strong> estnische Botschafterin in Moskau,<br />

Marina Kaljurand, erklärte kaltschnäuzig,<br />

es gäbe ja in Estland noch 200 Stätten<br />

gefallener Rotarmisten, an denen<br />

die Russen ihre Blumen am 9. Mai ablegen<br />

könnten. 2<br />

Auch in Moskau kam es zu Reaktionen.<br />

Aktivisten der Bewegung „Naschi“ (<strong>Die</strong><br />

Unseren) und „Junges Russland“ und<br />

anderer Organisationen protestierten<br />

vor der estnischen Botschaft und forderten<br />

die Wiederherstellung des Ehrenm<strong>als</strong>.<br />

Das estnische Außenministerium<br />

evakuierte daraufhin die Familien der<br />

Botschaftsmitarbeiter nach Tallinn. <strong>Die</strong><br />

estnische Staatsspitze hatte schließlich<br />

auch eine „Begründung“ für die Beseitigung<br />

des sowjetischen Ehrenm<strong>als</strong> im<br />

Stadtzentrum parat: Für viele sei das<br />

Ende des Zweiten Weltkrieges nur der<br />

„Tausch eines totalitären Regimes gegen<br />

ein anderes“ gewesen. Regierungschef<br />

Ansip von der so genannten Reformpartei<br />

erklärte: „Das Soldatendenkmal war<br />

ein Mittel bei der Realisierung der geplanten<br />

Sowjetisierung Estlands gewesen<br />

… Selbst wenn das Soldatendenkmal<br />

für viele Russen in Estland nicht nur<br />

ein Symbol des Respekts im Andenken<br />

an die Soldaten ist, so kann man auch<br />

nicht abstreiten, dass gerade dieses<br />

Denkmal im Stadtkern zu einem Ort gemacht<br />

wurde, an dem die Feindseligkeit<br />

und Widerstand gegen den estnischen<br />

Staat entfacht wurden.“ 3<br />

Wäre nicht der großen russische Minderheit,<br />

<strong>als</strong>o nicht jedem dritten Staatsbürger<br />

des Neustaates „Estnische Republik“,<br />

das Recht auf die in Europa<br />

üblichen freien Wahlen zum Parlament<br />

21

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