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„An der Miséricorde wurde vieles verbessert“<br />
DOSSIER<br />
Was Mobilität für Personen mit einer Behinderung bedeutet, weiss Adriano Previtali aus eigener Erfahrung.<br />
Spectrum hat den Professor für Bundesstaats- und Sozialversicherungsrecht und Präsident<br />
der Behindertenorganisation Pro Infirmis zum Interview getroffen. LORENZ TOBLER<br />
Herr Previtali, in welcher Situation<br />
wurde Ihnen zum ersten Mal bewusst,<br />
dass es für Sie als Rollstuhlfahrer<br />
schwieriger ist, einen Ort zu erreichen<br />
als für andere?<br />
Ich erinnere mich nicht an eine bestimmte<br />
Situation. Es ist eher eine tägliche<br />
Feststellung. Sobald man ein wenig von<br />
einem vertrauten Weg abgeht, läuft man<br />
Gefahr, sich vor Hürden wiederzufinden,<br />
die manchmal unüberwindbar sind.<br />
Die Möglichkeiten, mobil zu sein, haben<br />
sich für Behinderte in den letzten<br />
Jahren stetig verbessert. Was sind<br />
die grössten Fortschritte, wo besteht<br />
nach wie vor Handlungsbedarf?<br />
Wie steht es um die Rollstuhltauglichkeit<br />
der Gebäude an der Universität<br />
Freiburg?<br />
arbeiten kann der Bundesrat 2018 zum<br />
ersten Mal ein umfassendes Konzept in<br />
diesem Bereich umsetzen.<br />
© Photo : W.C.Colares<br />
© Foto: zvg<br />
Es wurden tatsächlich viele Fortschritte<br />
gemacht. Dennoch trifft man noch immer<br />
auf erstaunliche Fälle. Das Landesmuseum<br />
in Zürich beispielsweise, 2016<br />
komplett renoviert, hatte trotz Investitionen<br />
von über 100 Millionen Franken<br />
durch den Bund keinen rollstuhlgängigen<br />
Eingangsbereich. Um solche Fehler in Zukunft<br />
zu vermeiden, müssen sowohl die<br />
Ausbildung der Architekten als auch die<br />
Kontrolle durch die Zuständigen verbessert<br />
werden.<br />
Gemäss Behindertengleichstellungsgesetz<br />
(BehiG) müssen sämtliche öffentliche<br />
Verkehrsmittel behindertengerecht<br />
umgerüstet werden. Nun<br />
planen Privatbahnen wenig frequentierte<br />
Bahnhöfe zu schliessen, statt<br />
teure Umbauten vorzunehmen. Muss<br />
wirklich ausnahmslos jede Station zugänglich<br />
sein?<br />
Wenn es einen Bahnhof gibt, sollte dieser<br />
für Behinderte und ältere Personen zugänglich<br />
sein. Das BehiG von 2004 sieht für die<br />
Umsetzung eine Frist von zwanzig Jahren<br />
vor. Diese dauert also noch bis 2024. Anstatt<br />
damit zu „drohen“, Bahnhöfe zu schliessen,<br />
sollten die Unternehmen ihre soziale Verantwortung<br />
wahrnehmen und gemeinsam<br />
mit den Behinderten- und Seniorenorganisationen<br />
praktikable Lösungen suchen.<br />
Es kommt auf das Gebäude darauf an:<br />
Pérolles etwa ist perfekt angepasst.<br />
Miséricorde jedoch ist das Paradebeispiel<br />
dafür, wie man ein öffentlich zugängliches<br />
Gebäude nicht bauen sollte. Es ist<br />
ein Festspiel der Treppen und unnützen<br />
Stufen! Als es gebaut wurde, war dies<br />
normal: Im Grunde hatten Behinderte<br />
keinen Platz an der Universität. Diese katastrophale<br />
Situation wurde teilweise mit<br />
Massnahmen wie den Bau von Aufzügen<br />
und Rampen korrigiert. Sie ist noch nicht<br />
befriedigend, aber der Wille, die Situation<br />
weiter zu verbessern, ist da.<br />
Wie setzen Sie Ihre Anliegen im Invalidenbereich<br />
in der Politik um?<br />
Die primäre Aufgabe von Pro Infirmis ist<br />
es, die soziale Beratung für Behinderte<br />
und ihre Familien sicherzustellen. Diese<br />
Arbeit ist essentiell, damit diese besonders<br />
verletzliche gesellschaftliche Gruppe<br />
ihre Rechte ausüben kann. In der Politik<br />
haben wir Vertreter in den eidgenössischen<br />
und kantonalen Parlamenten und<br />
treffen regelmässig Politiker. Mit anderen<br />
Organisationen, den Kantonen und auch<br />
der Wirtschaft, haben wir zum Beispiel<br />
am von Bundesrat Alain Berset lancierten<br />
Projekt einer nationalen Behindertenpolitik<br />
in Bezug auf Ausbildung und Arbeit<br />
teilgenommen. Auf der Basis dieser Vor-<br />
Viele Personen reagieren unfreiwillig<br />
unbeholfen auf Personen mit Handicap.<br />
Mit welchen Tipps kann dieser<br />
Umgang entkrampft werden?<br />
Man sollte die Personen unabhängig von<br />
ihrem Defizit betrachten. Das können<br />
noch nicht alle. Für viele ist es wohl beruhigend,<br />
diesbezüglich klare Kategorien<br />
im Kopf zu haben. Während Jahren habe<br />
ich versucht, diesen Personen den ersten<br />
Schritt abzunehmen, oft mit Humor. Dabei<br />
kreiert man aber eine künstliche Situation,<br />
um ein Problem zu überwinden,<br />
das eigentlich gar nicht existieren sollte.<br />
Heute bleibe ich offen, erwarte aber<br />
auch, dass sich das Gegenüber bemüht.<br />
Zusammen können wir eine inklusive<br />
Gesellschaft schaffen, aber dafür müssen<br />
Vorurteile überwunden werden – es ist<br />
zu bequem, den ersten Schritt immer von<br />
der Person mit Handicap zu erwarten.<br />
Du willst noch mehr<br />
erfahren? Hier geht<br />
es zum vollständigen,<br />
ungekürzten Interview<br />
mit Adriano Previtali.<br />
3/<strong>2017</strong><br />
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