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KURZGESCHICHTE<br />
Endzeit<br />
EVELYNE ASCHWANDEN<br />
© Photo : Wikimédia commons<br />
Freitagnachmittag, 15:30 Uhr.<br />
Ich nehme all meinen Mut zusammen und überquere die Strasse.<br />
Vor mir erhebt sich das Bahnhofsgebäude, ein massiver, zweistöckiger<br />
Bau mit hohen Fenstern und einer steinernen Fassade.<br />
Es ist kaum eine Woche her, seit ich das letzte Mal hier war, aber<br />
weder der mächtige Torbogen hinter mir noch der gläserne Eingang<br />
kommen mir bekannt vor. Die Stille, die mir im Innern des<br />
Gebäudes entgegenschlägt, ist beängstigend. Anstelle der üblichen<br />
Menschenmenge kann ich dieses Mal nur ein paar schemenhafte<br />
Gestalten vorbeiziehen sehen. Das Geräusch meiner<br />
Schritte kommt mir unglaublich laut vor. Die Züge stehen still;<br />
und mit ihnen der ganze Rest des Bahnhofs. Beim Kiosk lehnt<br />
ein Mitarbeiter an der Theke und lässt seinen Blick gedankenverloren<br />
durch die Halle schweifen. Daneben gönnt sich ein schlaksiger<br />
Mann eine Zigarre. Sein Gesicht ist starr und leer. Selbst die<br />
Hotdog-Bude hat heute geschlossen.<br />
Die plötzliche Lautsprecherdurchsage lässt mich zusammenzucken.<br />
Die computerverzerrte Stimme hallt durch den Bahnhof,<br />
um uns mitzuteilen, was wir sowieso alle schon wissen: Die Apokalypse<br />
hat begonnen.<br />
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Eine einzige Zuglinie ist noch<br />
in Betrieb, aber natürlich habe ich genau diesen Zug um zwei Minuten<br />
verpasst. Der Gedanke, eine ganze halbe Stunde an diesem<br />
Ort warten zu müssen, lässt Panik in mir hochkommen. Doch<br />
schliesslich bewegt mich mein grosser Durst dazu, die stillgelegte<br />
Rolltreppe hinunterzusteigen, um mir im Coop einen Apfelsaft<br />
zu holen. Immerhin ist hier noch alles beim Alten.<br />
Als ich den Laden verlasse, werde ich schlagartig wieder in die<br />
Realität zurückbefördert. Auf der Fläche vor dem Eingang haben<br />
sich einige Menschen auf farbigen Gartenstühlen zusammengefunden.<br />
Ein kurzer Blick in ihre Gesichter verrät mir, dass sie genau<br />
so sind wie ich: Gestrandete. Wartende. Vergessene.<br />
Ich setze mich zu ihnen. Kaum jemand spricht. Und dann höre<br />
ich es plötzlich. Zuerst sind es nur ein paar Töne, dann entwickelt<br />
sich jedoch allmählich eine Melodie. Ich kann kaum glauben,<br />
was ich da höre: Beethovens Mondscheinsonate. Jemand<br />
spielt Klavier – hier, mitten im postapokalyptischen Luzern.<br />
Drehe ich jetzt vollkommen durch?<br />
Verwundert hätte es mich auf jeden Fall nicht. Die Reise ist<br />
anstrengend und weit gewesen. Mehr als zwei Stunden bin ich<br />
jetzt schon unterwegs; mein Ziel noch lange nicht in Sicht. Ich<br />
denke an die Odyssee, die ich zurücklegen musste. Ein beinahe<br />
gespenstisch leerer Zug auf dem Weg in die Zentralschweiz.<br />
Viele haben ihre Anschlüsse verpasst. Und noch mehr sind in<br />
den Wirren dieser verrückten Zeit einfach verloren gegangen.<br />
Ich erinnere mich zurück daran, als die Welt noch in Ordnung<br />
war; damals, als man sich noch unbeschwert zwischen zwei Orten<br />
hin und her bewegen konnte. Heute sind Reisen mühselig<br />
geworden. Meine Beine schmerzen vom ständigen Umsteigen<br />
und die Ungewissheit darüber, was der nächste Tag bringen wird,<br />
macht mich müde. Vorgestern hat es Luzern getroffen. Heute die<br />
Brünig-Strecke. Und wer weiss schon, was alles noch in Zukunft<br />
passieren wird. Vielleicht reisen wir schon bald wieder mit Eseln<br />
durch die Gegend. Die können immerhin nicht entgleisen.<br />
Ich erhebe mich von meinem Stuhl. In Gedanken verloren, habe<br />
ich nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Nun eile ich wieder<br />
die Treppe hoch und suche mein Gleis. Ich finde es sofort, weil es<br />
das einzige ist, das nicht abgesperrt ist.<br />
Als ich den Zug betrete und es mir in einem Abteil bequem<br />
mache, fühle ich nichts als Erleichterung darüber, diesen Ort<br />
endlich verlassen zu können. Der schwierigste Teil der Reise ist<br />
geschafft und jetzt geht es endlich nach Hause. Ich kann kaum<br />
glauben, dass ich es wirklich überstanden habe. Vielleicht, in<br />
einigen Jahrzehnten, werde ich meinen Enkeln davon erzählen,<br />
wie ich überlebt habe; von all den Schwierigkeiten, die wir zu<br />
meistern hatten, als uns allen plötzlich die Schienen unter den<br />
Rädern weggerissen wurden. Womöglich werden sie mir nicht<br />
einmal glauben, weil ich bekanntermassen einen ausgeprägten<br />
Hang zur Dramatik habe. Aber es spielt keine Rolle. Ich weiss,<br />
was ich gesehen habe. Und ich weiss, dass es die Wahrheit ist.<br />
Grösstenteils zumindest.<br />
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3/<strong>2017</strong><br />
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