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SPECTRUM #3/2017

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KURZGESCHICHTE<br />

Endzeit<br />

EVELYNE ASCHWANDEN<br />

© Photo : Wikimédia commons<br />

Freitagnachmittag, 15:30 Uhr.<br />

Ich nehme all meinen Mut zusammen und überquere die Strasse.<br />

Vor mir erhebt sich das Bahnhofsgebäude, ein massiver, zweistöckiger<br />

Bau mit hohen Fenstern und einer steinernen Fassade.<br />

Es ist kaum eine Woche her, seit ich das letzte Mal hier war, aber<br />

weder der mächtige Torbogen hinter mir noch der gläserne Eingang<br />

kommen mir bekannt vor. Die Stille, die mir im Innern des<br />

Gebäudes entgegenschlägt, ist beängstigend. Anstelle der üblichen<br />

Menschenmenge kann ich dieses Mal nur ein paar schemenhafte<br />

Gestalten vorbeiziehen sehen. Das Geräusch meiner<br />

Schritte kommt mir unglaublich laut vor. Die Züge stehen still;<br />

und mit ihnen der ganze Rest des Bahnhofs. Beim Kiosk lehnt<br />

ein Mitarbeiter an der Theke und lässt seinen Blick gedankenverloren<br />

durch die Halle schweifen. Daneben gönnt sich ein schlaksiger<br />

Mann eine Zigarre. Sein Gesicht ist starr und leer. Selbst die<br />

Hotdog-Bude hat heute geschlossen.<br />

Die plötzliche Lautsprecherdurchsage lässt mich zusammenzucken.<br />

Die computerverzerrte Stimme hallt durch den Bahnhof,<br />

um uns mitzuteilen, was wir sowieso alle schon wissen: Die Apokalypse<br />

hat begonnen.<br />

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Eine einzige Zuglinie ist noch<br />

in Betrieb, aber natürlich habe ich genau diesen Zug um zwei Minuten<br />

verpasst. Der Gedanke, eine ganze halbe Stunde an diesem<br />

Ort warten zu müssen, lässt Panik in mir hochkommen. Doch<br />

schliesslich bewegt mich mein grosser Durst dazu, die stillgelegte<br />

Rolltreppe hinunterzusteigen, um mir im Coop einen Apfelsaft<br />

zu holen. Immerhin ist hier noch alles beim Alten.<br />

Als ich den Laden verlasse, werde ich schlagartig wieder in die<br />

Realität zurückbefördert. Auf der Fläche vor dem Eingang haben<br />

sich einige Menschen auf farbigen Gartenstühlen zusammengefunden.<br />

Ein kurzer Blick in ihre Gesichter verrät mir, dass sie genau<br />

so sind wie ich: Gestrandete. Wartende. Vergessene.<br />

Ich setze mich zu ihnen. Kaum jemand spricht. Und dann höre<br />

ich es plötzlich. Zuerst sind es nur ein paar Töne, dann entwickelt<br />

sich jedoch allmählich eine Melodie. Ich kann kaum glauben,<br />

was ich da höre: Beethovens Mondscheinsonate. Jemand<br />

spielt Klavier – hier, mitten im postapokalyptischen Luzern.<br />

Drehe ich jetzt vollkommen durch?<br />

Verwundert hätte es mich auf jeden Fall nicht. Die Reise ist<br />

anstrengend und weit gewesen. Mehr als zwei Stunden bin ich<br />

jetzt schon unterwegs; mein Ziel noch lange nicht in Sicht. Ich<br />

denke an die Odyssee, die ich zurücklegen musste. Ein beinahe<br />

gespenstisch leerer Zug auf dem Weg in die Zentralschweiz.<br />

Viele haben ihre Anschlüsse verpasst. Und noch mehr sind in<br />

den Wirren dieser verrückten Zeit einfach verloren gegangen.<br />

Ich erinnere mich zurück daran, als die Welt noch in Ordnung<br />

war; damals, als man sich noch unbeschwert zwischen zwei Orten<br />

hin und her bewegen konnte. Heute sind Reisen mühselig<br />

geworden. Meine Beine schmerzen vom ständigen Umsteigen<br />

und die Ungewissheit darüber, was der nächste Tag bringen wird,<br />

macht mich müde. Vorgestern hat es Luzern getroffen. Heute die<br />

Brünig-Strecke. Und wer weiss schon, was alles noch in Zukunft<br />

passieren wird. Vielleicht reisen wir schon bald wieder mit Eseln<br />

durch die Gegend. Die können immerhin nicht entgleisen.<br />

Ich erhebe mich von meinem Stuhl. In Gedanken verloren, habe<br />

ich nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Nun eile ich wieder<br />

die Treppe hoch und suche mein Gleis. Ich finde es sofort, weil es<br />

das einzige ist, das nicht abgesperrt ist.<br />

Als ich den Zug betrete und es mir in einem Abteil bequem<br />

mache, fühle ich nichts als Erleichterung darüber, diesen Ort<br />

endlich verlassen zu können. Der schwierigste Teil der Reise ist<br />

geschafft und jetzt geht es endlich nach Hause. Ich kann kaum<br />

glauben, dass ich es wirklich überstanden habe. Vielleicht, in<br />

einigen Jahrzehnten, werde ich meinen Enkeln davon erzählen,<br />

wie ich überlebt habe; von all den Schwierigkeiten, die wir zu<br />

meistern hatten, als uns allen plötzlich die Schienen unter den<br />

Rädern weggerissen wurden. Womöglich werden sie mir nicht<br />

einmal glauben, weil ich bekanntermassen einen ausgeprägten<br />

Hang zur Dramatik habe. Aber es spielt keine Rolle. Ich weiss,<br />

was ich gesehen habe. Und ich weiss, dass es die Wahrheit ist.<br />

Grösstenteils zumindest.<br />

Hast du selbst eine Kurzgeschichte, die veröffentlicht werden sollte? Dann sende<br />

deinen Text (max. 5'000 Zeichen inkl. Leerzeichen) an: redaction@spectrum-unifr.ch<br />

3/<strong>2017</strong><br />

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