SPECTRUM #4 2017
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KURZGESCHICHTE<br />
Museal<br />
Joé Brendel<br />
Die grosse Holztür fiel hinter ihm mit einem lauten Klickgeräusch<br />
ins Schloss, als er sein Zuhause betrat. Er zog sich<br />
noch im Eingangsbereich bis auf die Unterwäsche aus und hängte<br />
seinen Anzug in den Holzschrank neben der Tür. Der Schrank<br />
war eine restaurierte Antiquität und der Schreiner hatte ein Kopfschütteln<br />
unterdrücken müssen, als sie ihm aufgetragen hatten,<br />
die Holzplatten in den Türen durch Glasscheiben zu ersetzen.<br />
Seine Frau wusste allerdings, was sie wollte und so geschah es.<br />
Das Resultat war ein echter Blickfang geworden und gefühlt jeder<br />
zweite Gast sprach sie darauf an. Ähnlich dem Schrank hatten<br />
sie das ganze Haus instandgesetzt, oder besser: Seine Frau hatte<br />
es instandgesetzt, er hatte gezahlt. Da sie nicht mehr arbeiten<br />
musste, hatte sie sich dieses Haus ganze vier Jahre lang zum Beruf<br />
gemacht. Und nun stand es da, bis ins letzte Detail ausgefeilt, und<br />
verlangte seiner Besitzerin kaum noch Arbeit ab: Putzfrau und<br />
Gärtner kümmerten sich um den Unterhalt.<br />
Es war ein altes Herrenhaus mit hohen Zimmern und einer Geschichte,<br />
die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichte. Die Renovierung<br />
war demnach ein wahrer Drahtseilakt gewesen für die<br />
Hausherrin: Zuviel Glas und Metall hätten es protzig-neureich<br />
aussehen lassen; zu viel Holz und sie wäre zuseiten des plumpen<br />
Kitsches vom Drahtseil abgerutscht. Doch sie hatte es hinbekommen:<br />
Inzwischen hatte ein Lifestyle-Hochglanzmagazin ihrer<br />
Kreation vier Seiten gewidmet. Anfangs war auch er sprachlos<br />
gewesen über das Resultat ihrer Mühen. Er war sprachlos gewesen,<br />
wie man im Museum sprachlos vor einem Ölgemälde steht,<br />
das eine ganze Wand einnimmt. Doch am Ende des Tages verlässt<br />
man das Museum, kehrt heim und legt die Füsse in einem abgenutzten<br />
aber bequemen Sofa hoch. Letzteres fehlte ihm. Es fühlte<br />
sich museal an.<br />
Er atmete tief durch und stieg die Eichentreppe am Ende des Ganges<br />
hoch und diese knackte bei jedem der Schritte authentisch.<br />
Oben sah es etwas häuslicher aus, was hauptsächlich ihren beiden<br />
Kindern zu verdanken war; eine Tochter und ein Sohn. Beide<br />
schliefen bereits. Sie hatten sich an die geräuschvolle Treppe gewöhnt,<br />
sodass sie davon nicht mehr aufwachten. Ihr Vater bedauerte<br />
das ein wenig, da er sie ansonsten nur kurz am Morgen und<br />
an Sonntagen zu Gesicht bekam. Eigentlich hatte er vorgehabt,<br />
sich in seinem Arbeitszimmer mit Musik zurückzulehnen, bis die<br />
Augen ihm zufallen würden und er sich nur noch ins Bett schleppen<br />
müsste. Seine Frau jedoch erwartete ihn in der Tür zu ihrem<br />
Schlafzimmer, begrüsste ihn wortlos mit allessagendem Blick und<br />
in Dessous; sie hatte demnach andere Pläne. Das war ihm auch<br />
recht. Er putzte sich noch schnell die Zähne und trug sein weisses<br />
Anzugshemd in den Wäschekorb, bevor er sie zu massieren<br />
begann; so könnte er nachher direkt schlafen.<br />
Seine Frau hatte nach dem Kinderkriegen und seiner Vasektomie<br />
begonnen, viermal die Woche Sport zu treiben und hatte demnach<br />
eine überaus gute Figur, eine bessere sogar noch als vor zehn<br />
Jahren, als sie sich kennengelernt hatten. Genaugenommen war<br />
sie attraktiv genug, dass seine Arbeitskollegen angefangen hatten,<br />
ihn regelmässig deswegen aufzuziehen; natürlich nie ohne das<br />
gewisse Quäntchen Neid. Den Neid anderer wusste er allerdings<br />
erst seit kurzem zu schätzen. Er fand inzwischen Gefallen daran,<br />
mit ihr auszugehen zu allen möglichen Anlässen: Mit Kollegen,<br />
zu zweit zum Tanzen oder einfach nur zum Essen. Diese Dinge<br />
hatten ihn früher schlicht und einfach gelangweilt, doch die vielen<br />
Blicke, die seine Frau erntete, wogen das nun plötzlich auf. Er<br />
wusste nicht so recht, was sich geändert hatte. Vielleicht erhaschte<br />
er dann einen Blick auf die Frau hinter seiner Frau.<br />
Nach dem Beischlaf legte er sich wie eine Mumie auf den Rücken<br />
und hörte ihr beim Einschlafen zu. Nachdem sie einmal tief eingeatmet<br />
und ihm den Rücken gekehrt hatte, wusste er, dass er<br />
aufstehen könnte, ohne sie zu wecken. Er hatte sich doch noch<br />
dazu entschieden, ein wenig Musik zu hören. Er lehnte sich im<br />
Arbeitszimmer mit Kopfhörer und einer Wolldecke in seinem Sessel<br />
zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken schweiften frei<br />
im Raum herum. Er versuchte, an etwas Erfreuliches zu denken,<br />
das ihn beruhigen und müde machen würde. Dies hatte er sich als<br />
Kind angewöhnt, es war seine Art, Schäfchen zu zählen. Damals<br />
hatte er an seinen nächsten Geburtstag und an die Geschenke gedacht;<br />
heute dachte er daran, dass er in zwei Jahren die Schulden<br />
des Hauses abbezahlt haben würde. Danach könnten sie dann<br />
über ein Ferienhaus nachdenken. Das lag aber momentan noch<br />
ausser Sichtweite. Irgendwo hinter der nächsten Kurve im Tal,<br />
wo die Umstände seiner Geburt die Schienen verlegt hatten, auf<br />
denen er entlangfuhr. Er stellte die Musik lauter.<br />
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4 / <strong>2017</strong><br />
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