Download als .pdf-Datei - Verwandtschaft in der Vormoderne
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BERNHARD JUSSEN<br />
mittelalter agnatisch ersche<strong>in</strong>en. 32) Bei den von Jack Goody angeregten Forschungen<br />
stehen eher die praktischen Operationen <strong>der</strong> <strong>Verwandtschaft</strong> im Vor<strong>der</strong>grund, wie Besitztransmissionen<br />
und Heiratsstrategien. Aus dieser Sicht wirkt <strong>Verwandtschaft</strong> bilateral.<br />
Zweifellos, sobald man nicht auf die Generalisierungsversuche <strong>in</strong> den Synthesen<br />
sieht, son<strong>der</strong>n auf die Details, die Nebensätze und die konkreten Forschungsdiskussionen,<br />
werden die Differenzen viel kle<strong>in</strong>er. Aber Details und <strong>in</strong>dividuelle Nuancierungen<br />
s<strong>in</strong>d nur so nützlich wie ihr E<strong>in</strong>bau <strong>in</strong> größere Argumente. Insofern ist es entscheidend,<br />
wie die Details unter Leitfragen subsumiert und zu Gesamtbil<strong>der</strong>n zusammengefügt<br />
werden.<br />
Forschungskulturen und -traditionen<br />
Entscheidend für die unterschiedliche wissenschaftliche Entwicklung waren, das dürfte<br />
schon deutlich geworden se<strong>in</strong>, unterschiedliche Forschungskulturen und unterschiedliche<br />
Forschungstraditionen:<br />
(1) Außerhalb Deutschlands mußte man sich nicht mit e<strong>in</strong>er verfassungsgeschichtlichen<br />
Tradition ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen, <strong>als</strong>o nicht so viel Energie <strong>in</strong> die Diskussion um die<br />
Struktur <strong>der</strong> Sippen <strong>in</strong>vestieren. In Deutschland hat die Mediävistengeneration, die sich<br />
gegen die Tradition <strong>der</strong> Verfassungsgeschichte gestemmt hat, diese Tradition augensche<strong>in</strong>lich<br />
<strong>als</strong> e<strong>in</strong>e Art dauerpräsenten Gegner zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>sofern weitergeschleppt, <strong>als</strong><br />
die Aufmerksamkeit <strong>in</strong>tensiv von manchen <strong>in</strong>ternationalen Diskussionen abgezogen<br />
wurde. (2) Die meisten deutschen Mediävisten haben <strong>in</strong> den 1980er und 1990er Jahren<br />
e<strong>in</strong>en methodologischen Grundwortschatz gepflegt, <strong>der</strong> sich von dem <strong>der</strong> franko- und<br />
anglophonen Forschung deutlich unterschieden hat. Während dort Vertreter <strong>der</strong> Gegenwartssoziologie<br />
ihre – zum<strong>in</strong>dest term<strong>in</strong>ologischen – Spuren h<strong>in</strong>terlassen haben (Diskurs,<br />
Habitus, Praktiken, Feld, symbolisches Kapital usw.), hat jene deutsche Mediävistik,<br />
<strong>der</strong>en Synthesen gegenwärtig gültig s<strong>in</strong>d, eher auf die kulturwissenschaftlichen Klassiker<br />
aus <strong>der</strong> ersten Jahrhun<strong>der</strong>thälfte rekurriert. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong>art unterschiedliche konzeptuelle<br />
Verankerungen mußte wohl, selbst wenn die empirischen E<strong>in</strong>sichten oft ähnlich s<strong>in</strong>d, zu<br />
deutlich verschiedenen spezifischen Leistungen führen – <strong>in</strong> Deutschland zur gruppensoziologischen<br />
Konzentration auf kontraktuelle mittelalterliche Vergesellschaftungsformen<br />
jenseits <strong>der</strong> <strong>Verwandtschaft</strong>, <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en westlichen Län<strong>der</strong>n eher zu e<strong>in</strong>er<br />
sozial anthropologischen <strong>Verwandtschaft</strong>sforschung.<br />
32) Schon Morsel hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rezension zu Spieß’ Familie und <strong>Verwandtschaft</strong> (<strong>in</strong>: Francia 23<br />
[1996], S. 317–320) darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß Spieß die Praktiken untersucht habe und daß e<strong>in</strong> Blick auf<br />
die diskursive Seite zu an<strong>der</strong>en Ergebnissen geführt hätte.<br />
68715_Umbr_VuF71_neu.<strong>in</strong>dd 284 16.09.09 12:48